Psychologie der Beichte
Das Sakrament der Versöhnung ist übler Nachrede ausgesetzt - bis hin zur „ekklesiogenen
Neurose“. Warum das falsch ist und der Mensch Schuld los wird, indem er sie
annimmt, erklärt eine kleine Seelenkunde von Raphael Bonelli / Die Tagespost.
In der klassischen Psychotherapie sind Schuldgefühle von vielen Schulen
mit Pathologie gleichgesetzt worden. Und das ändert sich leider nur sehr langsam,
wenn auch moderne Psychotherapeuten hier wesentlich mehr Offenheit erkennen
lassen.
Selbstverständlich gibt es psychopathologische Phänomene, etwa im Laufe einer
Depression, eines Wahns, einer Neurose oder einer selbstunsicheren
Persönlichkeit, im Rahmen derer sich Patienten dann zu Unrecht schuldig fühlen.
Aber das sind krankhafte Ausnahmen.
Normalerweise hat man Schuldgefühle, weil man eben schlichtweg schuldig geworden
ist. Man hat sich für das Schlechte entschieden, obwohl man das Gute hätte tun
können. Die persönliche Schuld ist kein Gefühl - sie hat nur häufig ein Gefühl
zur Folge, wenn das Gewissen noch intakt ist. Die Einsicht in die eigenen Fehler
ist ein Erkenntnisakt mit emotionaler Begleitmusik.
Sie setzt eine Grundbereitschaft zur Selbsterkenntnis voraus, die man Demut
nennt. Dem Psychotherapeuten steht zwar das Urteil zwischen Gut und Böse nicht
zu, weil er keine richterliche, sondern eine therapeutische Funktion hat - aber
das bedeutet nicht, dass im menschlichen Leben keine moralische Dimension
existiert.
Diese beiden Spielarten von Schuldgefühlen könnten in der medizinischen
Terminologie als physiologisch und pathologisch beschrieben werden. Der Ausdruck
„physiologisch“ wird in der Medizin oft im Sinne von beim gesunden Menschen
auftretend, normal, nicht krankhaft verwendet; „pathologisch“ heißt unzweckmäßig,
dysfunktionell, unphysiologisch, krankhaft.
Wie beim Schmerz gut erkennbar ist, hat die Physiologie den Sinn, auf etwas
aufmerksam zu machen, was dem Körper nicht gut tut. Dieses Warnsignal macht
damit bewusste Heilungsprozesse überhaupt erst möglich. Der pathologische
Schmerz hingegen ist sinnlos, sozusagen ein „Fehlalarm“ des Körpers.
Schuldgefühl ist analog dazu ein Schmerzempfinden der Seele, das Schaden anzeigt.
Dieses Bild aus der Medizin veranschaulicht aber auch, dass die prinzipielle
Unfähigkeit, Schmerz zu empfinden, ein lebensgefährliches Defizit ist. Und
tatsächlich: generell fehlende Schuldgefühle machen den Menschen zum Ungeheuer,
wie die Geschichte eindrucksvoll bewiesen hat.
In der Theologie wiederum sind die Begriffe „rechtes“ und „irriges Gewissen“
artverwandt. Gesunde Schuldgefühle werden für religiöse Menschen durch die
Beichte behandelt, indem hier die zugrundeliegende Schuld ursächlich angegangen
wird; pathologische Schuldgefühle durch die Psychiatrie bzw. Psychotherapie, da
hier die von der Emotion angezeigte Schuld nicht vorliegt.
Es ist ein Manko der alten Psychotherapie, dass sie vielerorts “physiologische“
Schuldgefühle psychologisiert (d.h. pathologisiert), und so den Weg zu einer
Bekehrung und damit Besserung verstellt hat. Eine nicht unerhebliche Anzahl von
Psychotherapeuten hat aufgrund ihres Weltbildes gar keinen Platz für so etwas
wie reale Schuld.
Wenn der Mensch materiell determiniert ist - wie etwa Sigmund Freud meint - dann
gibt es logischerweise weder Freiheit noch Verantwortung. Mit diesem
Reduktionismus wird der Täter zum Opfer umgedeutet und wälzt so seine Schuld auf
psychologische Umstände („ich konnte nicht anders“) oder gar auf andere Personen
(klassischerweise die „Erziehungsfehler“ der Eltern) ab.
Mit der reflexartigen Fremdbeschuldigung entwickelt sich aber eine Dynamik der
angeblichen eigenen Fehlerlosigkeit, die der Mensch nur mit mühsamer Anstrengung
in kontinuierlichem Selbstbetrug durchhalten kann. In psychoanalytischer
Terminologie nennt man diese Anstrengung „Verdrängung“. Die Opfermentalität
führt zudem oftmals direkt in die Verbitterung: Täter sind immer nur die anderen,
und „ich bin der Ärmste“.
Dieses Nicht-wahrhaben-wollen der eigenen Fehlerhaftigkeit ist neurotischer
Perfektionismus; dieser verwechselt christliche Vollkommenheit mit
Fehlerlosigkeit. Der perfektionistische Neurotiker glaubt, er dürfe sich keine
Fehler erlauben. Er will sich folgerichtig auch nicht bessern (denn wie soll
sich denn einer bessern, der keine Fehler hat?), er sucht nur Bestätigung, dass
er ohnehin alles richtig macht. Damit ist für ihn aber jede Normgebung schon
eine Infragestellung seiner selbst und wird letztlich als existentielle
Bedrohung erlebt.
Das aufgeregte was-geht-den-Papst-an,-was-ich-im-Schlafzimmer-mache?-Phänomen
ist hierfür ein beredtes Beispiel. Dadurch, dass der Neurotiker am eigenen
Anspruch der Fehlerlosigkeit scheitern muss, bildet sich oftmals eine mangelhaft
hinterfragte Aggression, die sich in diffuser Religionsfeindlichkeit und
undifferenzierter Kirchenkritik entlädt.
Der kleinste Fehler eines Glaubensrepräsentanten wird hysterisch zum Skandal
hochstilisiert, denn dieser steht für das eigene schlechte Gewissen, das durch
unbewusste Minderwertigkeits- und Schuldkomplexe verstärkt wird.
Tatsächlich aber ist die Botschaft der Kirche hier eine psychodynamische
Befreiung aus dieser Enge: „Jeder Mensch wird schuldig.“ Mit der kirchlichen
Empfehlung der häufigen Beichte ist klargestellt, dass jeder Mensch Fehler macht,
ja jeder sündigt. Es ist also normal und menschlich, Sünden zu begehen, und es
gibt auch ein Mittel zur Reinigung: die Absolution nach der persönlichen Umkehr.
Neben der wichtigeren sakramentalen Dimension hat sie natürlich auch eine
psychodynamische Ebene. Denn zur theologischen Bedeutung – der Vergebung der
Schuld durch Gott – kommt die psychologische Wirkung: die Möglichkeit, das
Drückende der Schuldgefühle abzuwerfen. Durch Integration in das Ich („auch das
bin ich“) löst sich die Schuld mit Bekenntnis und Vergebungsbitte auf. Das ist
eine erhebliche Erleichterung für den zwischen Selbstanspruch und (verdrängter)
Realität zerrissenen Perfektionisten. Dass es so etwas wie Beichte gibt, macht
es überhaupt erst möglich, dass sich der Mensch auf die - letztlich
psychodynamisch riskante - Selbstreflexion, Reue und Umkehr einlassen kann.
Das Aussprechen der eigenen Schuld vor einem bevollmächtigten Dritten - ohne
Beschönigen, Herumgerede und Fremdbeschuldigungen - ist deshalb aus gläubiger
Sicht heilsrelevant und psychologisch gesehen heilsam. Das mutige „Ich habe
gesündigt“ klärt die eigene Beurteilung der Tat, kann sich von ihr distanzieren
und sie gleichzeitig unverdrängt, aber bewältigt stehen lassen.
Schuld wird man eben genau dadurch los, indem man sie annimmt. Indem man sich
auf die Infragestellung seiner selbst einlässt, setzt man einen psychodynamisch
heilsamen Prozess in Gang. Der Beichte folgt die Wiedergutmachung erkannter
Schuld (Sühne), die wiederum zu einer vertieften Selbsterkenntnis und Reue führt.
Reue ist innere Umkehr und Neuorientierung. Dadurch entwickelt sich gegen die -
letztlich unvernünftige - Sünde eine affektive Aversion, die mit größerer
Leichtigkeit von der Sündenanhänglichkeit Abstand gewinnen lässt.
Man kann durchaus sagen, dass dieser Prozess die persönliche Freiheit vergrößert.
Denn die Gewöhnung an die Sünde wirft den Schleier des Unbewussten über die
eigene Schlechtigkeit: der lasterhafte Mensch wähnt sich fehlerfrei, der Heilige
hat eine gesunde Sensibilität dafür entwickelt.
Die Beichte ist psychologisch gesehen die Möglichkeit, durch mutige
Gewissenserforschung in die Abgründe des Halbbewussten und sogar Unbewussten
herabzusteigen und schwelende innere Konflikte durch bewusstes pointiertes
Aussprechen vor einem Vertreter Gottes zu neutralisieren.
Sigmund Freud hat scharfsinnig beschrieben, dass die neurotische Kränkung dort
Platz greift, wo das idealisierte Selbst sich zu sehr vom realen Ich entfernt.
Das heißt, je mehr sich jemand ein geschöntes Bild von sich selber zurechtlegt,
umso eher ist er kränkbar, wenn er mit der Realität konfrontiert wird.
Durch das Sündenbekenntnis können so die schmerzhaft verdrängten Anteile des
nicht-sein-können-weil-nicht-sein-dürfen der eignen Schuld wieder heilsam in das
Bewusstsein integriert werden, wodurch auch der Neurotizismus einer Person
reduziert wird, weil weniger Verdrängungsarbeit notwendig ist.
Hier ist auch der von manchen Laien gerne zitierte Begriff der sogenannten „ekklesiogenen
Neurose“ zu erwähnen, mit dem 1955 der Gynäkologe Schaetzing fälschlicherweise
psychiatrische Krankheiten mit der kirchlichen Verkündigung kausal verknüpft hat.
Dieses Konstrukt gilt in der modernen Psychiatrie als obsolet. Gerade eine klare
sittliche Forderung in allen Bereichen des Lebens gibt den Menschen die
Möglichkeit, ihre Verdrängungen aufzuweichen, die eigene Schuld einzugestehen
und sich so von einer oft nur halbbewusst wahrgenommenen Last zu befreien.
Dass die Leidenschaft oftmals in eine andere Richtung - nämlich die der
kurzfristigen Befriedigung - treibt, macht die Stimme der Kirche umso
notwendiger, um im intrapsychischen Prozess die hinterfragende Vernunft und die
Eigenreflexion zu stärken. Zu Recht haben die psychiatrischen Fachgesellschaften
jedenfalls den Begriff der „ekklesiogenen Neurose“ niemals anerkannt.
Es neurotisiert nicht - wie jahrzehntelang eine psychologisierende Pastoral
gepredigt hat - eine hohe moralische Forderung, sondern der Selbstanspruch auf
Fehlerlosigkeit, der keine Fehlerdefinition mehr zulassen kann, weil das
Heilmittel - die Beichte – im Alltagsleben praktisch abgeschafft oder persönlich
aufgegeben wurde. Denn erst das Sakrament der Versöhnung macht die christliche
Forderung lebbar.
Christliche Vollkommenheit setzt das eigene Sündenbekenntnis voraus. Die
Abschaffung des Sündenbegriffs, um die neurotische Selbstgerechtigkeit zu
befriedigen, ist mit einer anstrengenden Verdrängungsarbeit der eigenen
Fehlerhaftigkeit verbunden, die sich in Aggressionsdurchbrüchen gegen kirchliche
Normen Erleichterung schafft.
In diesem Zusammenhang ist auch der antiquierte Slogan aus den 80er Jahren des
vorigen Jahrhunderts „Frohbotschaft statt Drohbotschaft“ kritisch zu
hinterfragen. Was wird hier genau als bedrohlich erlebt - und warum?
Ein Mensch, der regelmäßig beichtet, erreicht im Normalfall einen hohen Grad an
Selbsterkenntnis, weil er die Fähigkeit entwickelt, seine Emotionen, Gefühle,
Leidenschaften und Taten zu hinterfragen und mit seiner Vernunft zu beurteilen.
Er hat sich die Kompetenz angeeignet, seine Reflexionsfähigkeit über sein
momentanes Empfinden zu stellen.
Damit muss er auch die eigene Tat nicht mehr als schicksalshafte Begebenheit
erleben, sondern kann sie einer rationalen Beurteilung unterziehen. Das führt zu
einem gesunden Selbstbewusstsein, das im Bewusstsein der Gotteskindschaft
wurzelt.
Daraus resultiert letztendlich die Haltung einer großen Dankbarkeit gegenüber
einem gütigen Gott, der Sünde verzeiht. Solche Menschen können dann auch selber
besser verzeihen und leben dadurch insgesamt froher.