Euthanasie: Es gibt kein gutes Töten
„Entweder sind Menschen immer Personen,
oder sie werden es nie“,
Professor Robert Spaemann
Kommentar
zur Euthanasiedebatte.
Wer ein Tabu bricht, hat zunächst einen argumentativen Vorsprung. Nicht nur
Borniertheit, Dumpfheit und Unmündigkeit leben ja vom passiven, schweigenden,
unreflektiertes Einverständnis, auch die Fundamente der Humanität bedürfen der
Verankerung in der Tiefe des Selbstverständlichen und der Fähigkeit zur
schlichten Empörung, wo sie in Frage gestellt werden.
„Wer sagt, man dürfe auch die eigene Mutter töten“, schreibt Aristoteles „hat
nicht Argumente, sondern Zurechtweisung verdient.“
Zurechtweisung ist kein Argument. Der Zurechtgewiesene kann, wenn er insistiert,
den Diskurs am Ende erzwingen und zum Nachdenken über die Gründe der
Selbstverständlichkeit nötigen. Schon Sokrates wusste dem Zyniker Kallikles für
eine solche Nötigung Dank.
Durch sie findet eine Scheidung jener Tabus, deren Gründe das Licht scheuen
müssen, von jenen anderen statt, die, einmal ans Licht getreten, Empörung über
ihre Verletzung verfangen. Es wäre ja etwas in einer menschlichen Zivilisation
nicht in Ordnung, wenn der Satz „Das Leben eines neugeborenen Kindes ist weniger
wert als das eines ausgewachsenen Schweins“ nicht - allem Nachdenken
vorausgehend - einen Reflex des Abscheus hervorrufen würde.
Der australische Tierschutzphilosoph und Ethiker Peter Singer, der diesen Satz
in seiner „Praktischen Ethik“ niederschrieb, würde diesen Reflex als Ausdruck
eines kruden „Speziezismus“, das heisst unreflektierter Parteilichkeit für die
eigene Spezies abtun.
Ist er das? Und wenn er es wäre - sind Menschen tatsächlich zu einem „view from
nowhere“ verpflichtet, die ihr natürliches Koordinatensystem kurzerhand außer
Kraft setzt, das über Nähe und Ferne entscheidet?
Ist nicht vielmehr dieser Versuch, den Gottesstandpunkt einzunehmen, eher die
äußerste Form menschlicher Hybris, weil er die kreatürliche Gemeinschaft mit
allem Lebendigen auf der Erde zerschneidet?
Die zivilisatorische Situation
Die Verblüffung durch die Thesen Peter Singers und seine Durchbrechung des seit
1945 herrschenden Euthanasie-Tabus beginnt erst allmählich einem sokratischen
Nachdenken über die guten Gründe für dieses Tabu zu weichen. Zunächst haben wir
es zu tun mit der demographischen Situation der westlichen Industrieländer.
Sie ist historisch beispiellos. Während der medizinische Fortschritt dazu
geführt hat, daß immer mehr Menschen immer älter werden, propagieren seit drei
Jahrzehnten alle relevanten öffentlichen Meinungsbildner einen Lebensstil,
aufgrund dessen nun bald immer weniger junge Menschen diese älteren Menschen zu
ernähren haben.
Die „Pille“, wie immer man sonst über sie denken mag, begünstigte diese
Entwicklung. Außerdem war der sogenannte Generationenvertrag nicht als Drei-Generationen-Vertrag,
sondern leider als Zwei-Generationen-Vertrag konzipiert, also so, daß er
diejenigen ökonomisch privilegiert, die es vorziehen, sich im Alter von den
Kindern anderer Leute erhalten zu lassen. Daß diese Kinder davon einmal, wenn es
soweit ist, nicht begeistert sein würden, war zu erwarten.
Es ist nun bald soweit. Und es gehört schon ein hohes Maß an Naivität dazu, im
Ernst an Zufall zu glauben, wenn ausgerechnet in diesem Augenblick und
ausgerechnet in ebenjenen westlichen Industrieländern die Tötung kranker oder
alter Menschen, legalisiert oder deren Legalisierung gefordert und ernsthaft
diskutiert wird.
Nicht, als ob die demographische Situation in diesem Zusammenhang als Argument
auftauchte und Euthanasie als Lösung empfohlen würde. Das wäre kontraproduktiv.
Der Zusammenhang entfaltet gerade als latenter erst seine volle Wirkung. Auch
die Psychiater im Dritten Reich, die das mörderische Euthanasieprogramm
exekutierten, argumentierten nicht sozialpolitisch, sondern vom „wohlverstandenen“
Lebensinteresse des einzelnen aus.
„Lebensunwertes Leben“ hieß auch im damaligen Sprachgebrauch jenes Leben, das
für den, der es zu leben hat, nichts mehr wert ist. Und der Film „Ich klage an“,
mit dem Joseph Goebbels Akzeptanz für das Vernichtungsprogramm zu erzeugen
suchte, propagierte lediglich die Einstiegsdroge „Tötung auf Verlangen“. Die
Tötung sollte als Tat der Liebe und des Mitleids, als Hilfe zu „menschenwürdigem
Sterben“ erscheinen.
Der Film war, im Sinne seiner Zielsetzung, hervorragend gemacht. Die Einwände
des ärztlichen Ethos werden von einer sympathischen Figur mit großem Ernst
vorgebracht, so daß deren Gesinnungswandel dann umso eindrucksvoller wird. Und
natürlich darf der Pfarrer nicht fehlen, der sich von seiner traditionellen
Rolle als Prediger der Leidensbereitschaft emanzipiert mit dem Argument, daß
schließlich Gott den Menschen mit Vernunft ausgestattet hat, damit er diese
Vernunft gebraucht.
Wahrscheinlich gibt es heute noch keine Gruppe von Mächtigen, die das Mitleid im
Dienst einer bevölkerungspolitischen Strategie bewußt instrumentalisiert. Aber
es gibt objektive Interessenlagen. Es gibt Trends, die sich aus diesen
Interessen lagen ergeben, und Forderungen, deren Chance darin liegt, daß sie
genau in diese Trends passen. Es gibt das, „was in der Luft liegt“.
Zwei Faktoren verstärken die Plausibilität der Forderung, Euthanasie zu
legalisieren. Da ist zunächst die enorme Steigerung der Möglichkeit, Leben durch
Apparate zu verlängern. Die alte berufsethische Regel, der Arzt müsse jederzeit
alles tun, was er kann, um den Tod eines Menschen zu verhindern - und das kann
ja immer nur heißen: hinauszuschieben-, wird problematisch, wenn dieses Können
ein bestimmtes Maß überschreitet.
Prothesen können inzwischen Lebensfunktionen eines Organismus substituieren und
moribunde Menschen künstlich am Leben erhalten, mit oder ohne deren
Einverständnis. Der Entschluß, von diesen Mitteln keinen Gebrauch zu machen oder
den Gebrauch irgendwann zu beenden, scheint einer Tötung durch Unterlassung
gleichzukommen, vor allem, wenn der Übergang vom Handeln zum Unterlassen nur
durch ein erneutes Handeln zu bewerkstelligen ist, also zum Beispiel durch das
Abstellen einer Maschine.
Weil aber ein solcher Entschluß oft plausibel und manchmal einfach unvermeidlich
ist, liegt die Frage nahe, was denn ein solches Unterlassen von „aktiver
Sterbehilfe“ unterscheidet. Welchen Unterschied macht es, so fragt Peter Singer,
ob eine Mutter ihr Kind mit einem Kissen erstickt oder ob sie es verdursten läßt?
Dabei unterstellt er, verdursten lassen und auf den Anschluß an ein
Beatmungsgerät verzichten sei die gleiche Art von Unterlassen, nur weil beides
zum Tode führt.
Der andere und entscheidende Faktor liegt in einer Grundstimmung der westlichen
Zivilisation, die es einerseits als höchstes Ziel des Menschen betrachtet, sich
zu vergnügen oder wenigstens sich wohl zu fühlen, und andererseits als höchste
moralische Pflicht, die Welt durch Vermehrung der Menge angenehmer Gefühle zu
optimieren.
(Sogar Gottesdienste werden daran gemessen, ob sie „Spaß machen“, ohne daß man
bedenkt, daß Geistliche, die sich als Spaßmacher verstehen, gegenüber jedem
Clown oder professionellen TV-Unterhalter unvermeidlich ins Hintertreffen
geraten.) Heideggers Begriff der „Seinsvergessenheit“ ist in diesem Zusammenhang
hilfreich.
Was die Welt in dieser Sicht kostbar macht, ist nicht das Sein von Menschen,
Tieren oder Pflanzen, sondern es sind bestimmte Zustände und Erlebnisse, und
Menschen nur insofern, als sie Träger solcher Zustände sind. Was vor allem nicht
sein soll, sind unangenehme Zustände. Leiden muß um jeden Preis beseitigt werden.
Und wo es nicht anders beseitigt werden kann als durch Beseitigung des Leidenden,
da ist eben diese angezeigt.
„Wert des Lebens“?
Schon die Rede von einem „Wert des Lebens“, von lebenswertem oder lebensunwertem
Leben, beruht auf dem Vergessen, daß es so etwas wie „Wert“ oder „Unwert“ doch
nur unter der Voraussetzung von Leben geben kann. Inzwischen hat Georg Meggle,
ein deutscher Philosophieprofessor, doch tatsächlich einen Kalkül entwickelt,
der es erlauben soll, den Wert des Lebens zu einem gegebenen Zeitpunkt in einen
DM-Betrag umzurechnen, und zwar, wohlgemerkt, den Wert des jeweils eigenen
Lebens; denn wenn man davon absieht, daß Menschen Personen sind, kann der Wert
meines Lebens für andere natürlich ebenso wie der des Lebens einer Kuh taxiert
werden, das Leben kann für sie nützlich oder unnütz sein.
Aber das setzt immer wieder das in sich selbst untaxierbare Leben anderer voraus.
Das eigene Leben unter dem Begriff des Wertes zu denken, für den es eine
objektive Berechnungsskala geben könnte, ist absurd.
Der Fehler dieses Versuchs liegt darin, daß er von der Möglichkeit, den Wert
eines Lebensabschnitts, zum Beispiel eines einzelnen Tages im Verhältnis zum
Ganzen des Lebens, zu bestimmen, auf die Möglichkeit schließt, das Ganze des
Lebens zu taxieren, weil dessen Wert nur der Wert der Summe der einzelnen
Lebensabschnitte sei.
Dieser Gedanke drückt einen beängstigenden Grad von Selbstentfremdung aus. Töten
ist ja nicht deshalb verwerflich, weil es auf die Länge des Lebens ankäme - nach
dem Motto: je länger desto besser -, sondern weil in jedem Abschnitt des Lebens
das ganze Leben gegenwärtig ist.
Einen Tag des Lebens vernichten heißt: an diesem Tag das Leben, also die Person
selbst vernichten. Im Verhältnis wozu aber kann der Wert der Existenz der Person
bestimmt werden? Nur im Verhältnis zu ihrer Nichtexistenz, also zum Tod.
Die Frage, zu der sich Meggle bekennt, lautet denn auch: „Wie schlimm ist es,
tot zu sein?“ Schlimm für wen? Wie kann für jemanden, der tot ist, etwas gut
oder schlimm sein? Hier wird mit Worten gespielt. Allenfalls ein sehr spezielles
und problematisches Verständnis von der Unsterblichkeit der Seele könnte die
Frage überhaupt verständlich machen.
Im übrigen aber erinnert der Kalkül eher an das alte Studentenlied „Ick wollt'
ick wär' ein Louisd'or / Da kooft' ick mir n' Bier dafor“. Wenn es nur auf
bestimmte qualitative Zustände ankäme und diese Zustände nicht des Menschen
wegen, sondern der Mensch dieser Zustände wegen existierte, würde in der Tat
jenes Inkommensurable verschwinden, das wir meinen, wenn wir wie Kant sagen, der
Mensch habe keinen Wert, also auch keinen Preis, sondern „Würde“.
Nun ist es allerdings gerade der Begriff der Menschenwürde, der im Zusammenhang
mit der Forderung nach legaler Tötung eine große Rolle spielt. Vom „Recht auf
menschenwürdiges Sterben“ war in dem genannten Film der Nationalsozialisten die
Rede, und genau diesen Begriff interpretiert nun der katholische Theologe Hans
Küng im gleichen Sinn wie der Pfarrer in diesem Film und gibt damit ein
wesentliches Element jenes Ethos auf, welches alle großen Religionen miteinander
verbindet. Menschenwürdig soll es sein, den Zeitpunkt des eigenen Todes selbst
zu wählen: „Hat nicht Gott dem Menschen die Vernunft gegeben?“
Zur Beurteilung des Selbstmords
Aus dem Recht, sich selbst zu töten, wird nun sogleich das Recht, sich töten zu
lassen, abgeleitet. Diese Ableitung ist irrig. Die Straflosigkeit des
Selbstmords ist ganz unabhängig von seiner sittlichen Beurteilung und bedeutet
auch nicht, daß er „gesetzlich erlaubt“ wäre, sondern sie bedeutet, daß er sich
der rechtlichen Normierung prinzipiell entzieht.
Es gibt zwar auch einige Gesetze, die den Menschen „paternalistisch“ gegen sich
selbst schützen, aber dies geschieht immer in stellvertretender Wahrnehmung
eines immer unterstellten Interesses an der eigenen Existenz. Die Handlung, mit
welcher jemand dieses Interesse definitiv negiert und aus dem Beziehungsnetz
auszuscheiden sucht, das alles Lebendige, insbesondere aber alle Menschen
miteinander verbindet, kann nicht mit den Maßen gemessen werden, die innerhalb
dieses Netzes gelten.
Alle Handlungen und Unterlassungen anderer aber, die den Selbstmord eines
Mitmenschen verhindern, fördern oder stellvertretend exekutieren, finden
innerhalb dieses Beziehungsnetzes statt und unterliegen also dessen Gesetzen.
Selbstmord ist nicht ein „Recht“, sondern eine Handlung, die sich der
Rechtssphäre entzieht. Von ihr führt kein Weg zu irgendeinem Recht, einen andern
zu töten beziehungsweise von einem anderen getötet zu werden.
Wenngleich sich auch der Selbstmord einer rechtlichen Normierung entzieht, so
ist es für ein Gemeinwesen doch von großer Bedeutung, wie er sittlich beurteilt
wird. Die Verurteilung des Selbstmords in unserer Zivilisation ist keineswegs,
wie immer wieder behauptet wird, nur jüdisch-christlichen Ursprungs. Sie
entspricht vielmehr einer großen philosophischen Tradition, die von Sokrates
über Spinoza und Kant bis zu Wittgenstein reicht.
Der platonische Sokrates sieht im Leben eine Aufgabe, die wir uns nicht selbst
gestellt haben und der wir uns nicht eigenmächtig entziehen dürfen. Der Sinn des
Lebens ist offensichtlich sowenig von uns selbst gesetzt wie das Leben selbst,
und er enthüllt sich uns deshalb auch nicht in irgendeinem Augenblick des Lebens
vollständig.
„Wenn der Selbstmord erlaubt ist, dann ist alles erlaubt“, heißt es deshalb bei
Wittgenstein. Warum, das lesen wir am ehesten bei Kant. Für Kant ist der
Selbstmord nicht Ausdruck von, sondern Absage an Autonomie und Freiheit des
Menschen, denn mit diesem Akt wird ja gerade das Subjekt von Freiheit und
Sittlichkeit vernichtet.
Der Selbstmord ist deshalb jener Akt der Selbstvergessenheit, mit welchem ein
Mensch dokumentiert, daß er sich selbst nur noch als Mittel zur Erreichung oder
Erhaltung wünschenswerter Zustände versteht, als Mittel, das sich, wenn es
versagt, selbst beiseite räumt.
Wir stehen aber zu unserem eigenen Leben, das die Bedingung jedes
instrumentellen, auf Zwecke gerichteten Handelns ist, nicht nur in einem rein
instrumentellen Verhältnis. Der Versuch, sich vom Leiden zu befreien, hat immer
befreites Leben zum Ziel. Aber wer ist das Subjekt einer „Befreiung vom Leben“?
Niemand kann den Menschen daran hindern, sich als bloßes Mittel zu betrachten.
Und in den meisten Fällen ist die Selbsttötung ja tatsächlich Ausdruck von
extremer Schwäche und geminderter Zurechnungsfähigkeit. Wo sie als legitime
Handlung, ja als Ausdruck der Menschenwürde gilt, da ergibt sich unweigerlich
eine verhängnisvolle Folge, die durch die Legalisierung aktiver Sterbehilfe noch
verstärkt wird.
Wo das Gesetz es erlaubt und die Sitte es billigt, sich zu töten oder sich töten
zu lassen, da hat plötzlich der Alte, der Kranke, da hat der Pflegebedürftige
alle Mühen, Kosten und Entbehrungen zu verantworten, die seine Angehörigen,
Pfleger und Mitbürger für ihn aufbringen müssen. Nicht Schicksal, Sitte und
selbstverständliche Solidarität sind es mehr, die ihnen dieses Opfer abverlangen,
sondern der Pflegebedürftige selbst ist es, der sie ihnen auferlegt, da er sie
ja leicht davon befreien könnte.
Er läßt andere dafür zahlen, daß er zu egoistisch und zu feige ist, den Platz zu
räumen. Wer möchte unter solchen Umständen weiterleben? Aus dem Recht zum
Selbstmord wird so unvermeidlich eine Pflicht. Schon Stoiker haben, so berichtet
Diogenes Laertius, diese Konsequenz gezogen und so noch eine moralische Prämie
auf den Selbstmord gesetzt.
Wer freiwillig aus dem Leben scheidet, kann das in dem Bewußtsein tun, dem
Vaterland oder den Freunden gegenüber seine Pflicht zu erfüllen.
Hinter dieser Sicht steht das Ideal des stoischen Weisen, der sich als reines
Vernunftsubjekt begreift, frei von individuellen menschlichen Regungen, frei von
Furcht und Hoffnung, von Liebe, Mitleid und Haß. Nicht von ungefähr berichtet
Diogenes Laertius unmittelbar anschließend an die Selbstmordpassage, daß unter
den stoischen Weisen Promiskuität herrsche, daß Eifersucht in Liebessachen
unbekannt sei und daß die Weisen allen Kindern als ihren eigenen zugetan sind.
Nähe und Ferne existieren für sie nicht, weil diese Kategorien dem Menschen als
endlichem Lebewesen zugehören. Selbstmord ist für den Weisen immer dann
angeraten, wenn seine reine Vernunftautonomie durch biologische
Beeinträchtigungen gefährdet ist.
Die Stoiker wußten allerdings selbst nicht, ob es den Weisen in diesem Sinne
überhaupt gibt. Er ist ein „Ideal“. Allerdings ein Ideal, dem man sich nicht
schrittweise nähern kann. Denn die Weisheit, die alle Tugenden in sich schließt,
hat man entweder ganz oder gar nicht. Augustinus hat auf die Unmenschlichkeit
dieses Ideals hingewiesen.
Der Weise „freut sich nicht mit den Fröhlichen und weint nicht mit den Weinenden“.
Und er verzichtet auch auf den Wunsch oder die Erwartung, daß jemand mit ihm
weint. Wenn etwas geeignet ist, dem Leidenden sein Leben als lebensunwert
erscheinen zu lassen, dann ist es die Entsolidarisierung der Gesellschaft durch
moralische Rehabilitierung des Selbstmords und durch Legalisierung der Tötung
auf Verlangen, also durch den stillen Hinweis: „Bitte, da ist der Ausgang.“
Die Einstiegsdroge
Im übrigen ist die Tötung auf Verlangen nur die Einstiegsdroge für die
Enttabuisierung der Tötung „lebensunwerten Lebens“ - auch ohne Zustimmung. „Wissen
Sie“, sagt der alte Father Smith in Walker Percys „Thanatossyndrom“, „wohin
Sentimentalität führt? ... In die Gaskammer. Sentimentalität ist die erste Maske
des Mörders.“
Im Gefolge der Prozesse gegen die Euthanasieärzte des Dritten Reiches schrieb
der amerikanische Arzt Leo Alexander 1949, „daß allen, die mit der Frage nach
dem Ursprung dieser Verbrechen zu tun hatten, klar wurde, daß diese Verbrechen
aus kleinen Anfängen wuchsen. Am Anfang standen zunächst feine
Akzentverschiebungen in der Grundhaltung.
Es begann mit der Auffassung, die in der Euthanasiebewegung grundlegend ist, daß
es Zustände gibt, die als nicht mehr lebenswert zu betrachten sind. In ihrem
Frühstadium betraf diese Haltung nur die schwer und chronisch Kranken. Nach und
nach wurde der Bereich jener, die unter diese Kategorie fallen, erweitert und
auch die sozial Unproduktiven, die ideologisch Unerwünschten, die rassisch
Unerwünschten dazugerechnet.
Entscheidend ist jedoch zu erkennen, daß die Haltung gegenüber den unheilbar
Kranken der winzige Auslöser war, der diesen totalen Gesinnungswandel zur Folge
hatte.“
Daß es sich hier nicht um ein historisch zufälliges Zusammentreffen, sondern um
einen gesetzmäßigen Zusammenhang handelt, zeigt das Beispiel der Niederlande, in
denen inzwischen bereits ein Drittel der jährlich legal Getöteten - es handelt
sich um Tausende - nicht mehr auf eigenes Verlangen getötet wird, sondern auf
das Urteil von Angehörigen und Ärzten hin, die darüber befinden, daß es sich
hier um lebensunwertes Leben handelt.
Das Erschreckendste ist, daß angesichts dieser Tatsache nicht ein Schrei des
Entsetzens durch die ganze zivilisierte Welt geht. C. S. Lewis trog sein Blick
nicht, als er 1943 in „The Abolition of Man“ schrieb: „Der Prozeß, der, falls
man ihm nicht Einhalt gebietet, den Menschen zerstören wird, spielt sich unter
Kommunisten und Demokraten ebenso augenfällig ab wie unter Faschisten. Die
Methoden mögen sich zunächst in der Brutalität unterscheiden. Aber manch ein
sanftäugiger Naturgelehrter mit Zwicker, manch ein erfolgreicher Dramatiker,
manch ein Amateurphilosoph in unserer Mitte verfolgt auf die Länge genau
dasselbe Ziel wie die herrschenden Nazis in Deutschland.“
Daß sich die Katastrophe ausgerechnet in Holland, also in einem Land ereignet,
das dem Nationalsozialismus so eindrucksvoll Widerstand geleistet hat, und daß
Peter Singer ein Nachfahre von Opfern des Mordes ist, dessen Methode an Debilen
zuerst erprobt wurde, ist tragisch, kommt aber nicht von ungefähr. Die Gewißheit,
ohnehin auf der guten Seite zu stehen, kann leicht blind machen für die eigene
Versuchbarkeit.
Der Übergang von der Tötung auf Verlangen zur Tötung ohne Verlangen ist im
übrigen von der gleichen Konsequenz wie der Übergang von der gesellschaftlichen
Akzeptanz des Selbstmords zur Legalisierung der Tötung auf Verlangen. Die Tötung
auf Verlangen wird mit dem unveräußerlichen Recht auf Selbstbestimmung begründet.
Aber wäre das ernst gemeint, so müßte jeder Todeswunsch eines erwachsenen,
zurechnungsfähigen und informierten Menschen erfüllt werden.
Das verlangt aber tatsächlich niemand. Immer wird die Einschränkung gemacht,
aktive Sterbehilfe dürfe nur gewährt werden, wenn die Gründe für den Todeswunsch
„rational“ seien: rational, das heißt nachvollziehbar von denjenigen, die diese
Hilfe leisten sollen. Und als nachvollziehbar gilt für viele ausschließlich der
Grund unheilbarer Krankheit.
Eine solche Einschränkung hat nun aber mit dem Prinzip der Selbstbestimmung
nichts zu tun, ja sie widerspricht ihr sogar. Warum sollte nicht jeder Mensch
das Recht haben, die Kriterien für die Bewertung seines Lebens selbst zu
bestimmen? Warum sollte der „Bilanzselbstmord“ benachteiligt werden? Warum der
Selbstmord aus Liebeskummer?
Man sagt, ein solcher Selbstmordkandidat sei später froh, wenn er an der
Ausführung der Tat gehindert wurde. Aber wenn man ihm zum Zeitpunkt seiner
Verzweiflung ebendies vor Augen stellt und er antwortet: „Ich weiß, daß die Zeit
die Bewertung des eigenen Lebens ändert und auch bei mir ändern würde. Aber
ebendiese Abhängigkeit von der Zeit verabscheue ich. Ich will als der sterben,
der ich jetzt bin“ - was will man ihm entgegnen?
Er argumentiert wie manche Frauen, die das Angebot späterer Adoption ihres
Kindes als Alternative zur Abtreibung ablehnen. Ihr Argument ist, daß sie
bereits jetzt wissen, daß sie später an dem Kind hängen und es nicht zur
Adoption hergeben werden. Und ebendiese Liebe zu ihrem Kind wollen sie erst gar
nicht entstehen lassen.
Wer einmal grundsätzlich die Selbstbestimmung über die Möglichkeitsbedingungen
der Selbstbestimmung, also über das Leben, stellt, wie kann der jemandem
vorschreiben wollen, wie er das Verhältnis seines Lebens zur Zeit zu verstehen
hat? Ist das nicht der Rückfall in einen illiberalen Paternalismus?
Und wer will entscheiden, ob es irrational ist, die Glückssumme des Lebens
prinzipiell für negativ zu halten und sich deshalb umzubringen? Wenn wir nicht
davon ausgehen, daß Selbstmord immer irrational ist, wird jedes differenzierende
Rationalitätskriterium zu einer unbegründbaren Bevormundung. Wenn es letzten
Endes nicht auf die Selbstbestimmung als solche, sondern auf die Rationalität
des Todeswunsches ankommt, und wenn Dritte über diese Rationalität entscheiden
dürfen, dann können diese Dritten auch im Falle der Unfähigkeit des
Todeskandidaten zur Selbstbestimmung in stellvertretender Wahrnehmung seines „wohlverstandenen
Interesses“ über sein Leben entscheiden.
Der Übergang von der Tötung auf Verlangen zur Tötung ohne Verlangen ist damit
geschaffen, und Gott gnade uns, wenn wir den Verstand verlieren oder zu schwach
werden, uns zu wehren!
Die Entsolidarisierung
Die Forderung, ungestraft töten zu dürfen, wird paradoxerweise mit zwei einander
entgegengesetzten Argumenten begründet. Einmal damit, daß Menschen Personen und
deshalb Subjekte unbedingter Selbstbestimmung sind, das andere Mal damit, daß
bestimmte Menschen nicht Personen sind, keine Menschenwürde besitzen und es
deshalb über sich ergehen lassen müssen, in ihrem eigenen Interesse oder im
Interesse anderer getötet zu werden.
Ja, auch im Interesse anderer.
Peter Singer plädiert dafür, „missratene“ Säuglinge beiseite zu räumen, um für
besser geratene Platz zu schaffen, also für solche, die eine größere Kapazität
haben, sich ihres Lebens zu freuen. Das nämlich optimiert den Zustand der Welt,
und allein darauf kommt es an. „Person sein“ heißt in diesem Verständnis nicht,
„jemand“ sein, der seiner Natur nach dazu angelegt ist, sich zeitweise in
bestimmten personspezifischen Zuständen zu befinden, also in Zuständen des
Selbstbewußtseins, der Erinnerung und eines bewußten Interesses am eigenen
Leben, sondern „Person sein“ besteht nur in der Aktualisierung dieser Zustände.
Babys sind danach keine Personen, Debile sind es nicht, und Schlafende sind es
auch nicht. Diese Sicht geht übrigens auf John Locke zurück. Aber schon Leibniz,
Kant und Thomas Reid haben auf den Widerspruch hingewiesen, in dem sich diese
Sicht zu unseren fundamentalen Intuitionen und zu unserem Sprachgebrauch
befindet.
Jeder von uns sagt: „Ich wurde dann und dann geboren“, obgleich er das nach
jener Ansicht nicht sagen dürfte, weil der, der damals geboren wurde, zwar ein
Mensch, aber nicht die Person war, die jetzt spricht, ja überhaupt keine Person,
weil er nämlich damals nicht „ich“ sagte. Aber niemand von uns hätte gelernt, „ich“
zu sagen, wenn seine Mutter zu ihm nicht wie zu einer Person gesprochen und ihn
nicht wie eine Person behandelt hätte. Entweder sind Menschen immer Personen,
oder sie werden es nie.
Aber auch wenn Menschen ihr Personsein ausdrücken und „ich“ sagen können, sind
sie nicht das, wofür die liberalen Individualisten sie halten: Wesen, die einsam,
in souveräner Autonomie über ihr Leben und ihren Tod entscheiden und dabei auf
professionelle Exekution dieser Entscheidung Anspruch erheben können.
Personen existieren nur in der Mehrzahl, das heißt nur als Mitglieder einer
universalen Personengemeinschaft. Was diese Gemeinschaft wesentlich konstituiert,
ist die gegenseitige, vorbehaltlose und an keine Vorbedingung geknüpfte Bejahung
der Existenz eines jeden anderen bis zu deren natürlichem Ende, ja, die
Mitverantwortung für diese Existenz.
In der Geschichte von Kain und Abel fragt Gott den Brudermörder: „Wo ist Dein
Bruder?“ Und Kain antwortet: „Bin ich denn der Hüter meines Bruders?“ Die
Entsolidarisierung, die in dieser Antwort liegt, wird in dieser Geschichte als
die Gesinnung des Mörders geschildert. Die Frage Gottes beschränkt sich nicht
auf die Forderung, den Bruder am Leben zu lassen, sondern sie enthält die
weitergehende Pflicht, zu wissen, wo er ist. Die Frage appelliert an die
fundamentale Solidarität, welche alle Menschen miteinander verbindet. Diese
Sicht ist nicht schon deshalb in einer säkularen Gesellschaft irrelevant, weil
sie in der Bibel steht.
Eine säkulare Gesellschaft wird barbarisch, wenn sie auf alle Weisheitstradition
der Menschheit verzichtet. Auch das Sterben ist noch ein Vorgang, der,
wenngleich von der Natur verhängt, eingebettet ist in Riten menschlicher
Solidarität. Wer sich eigenmächtig aus dieser Gemeinschaft entfernen will, muß
das allein tun. Anderen - und gar Ärzten, deren Ethos sich definiert durch den
Dienst am Leben - zumuten, bei dieser eigenmächtigen Entfernung behilflich zu
sein, heißt, dieses Fundament aller Solidarität zu zerstören.
Es heißt, dem anderen zuzumuten zu sagen: „Du sollst nicht mehr sein.“ Diese
Zumutung ist eine Ungeheuerlichkeit. Die damit verbundene Zerstörung des Ethos
muß sich unvermeidlich in Kürze gegen die Leidenden selbst kehren. Wir wissen
heute, daß der Suizidwunsch in der weitaus größten Zahl der Fälle nicht die
Folge körperlicher Beschwerden und extremer Schmerzen ist, sondern der Ausdruck
einer Situation des Sich-verlassen-Fühlens. (Eine Studie in den Niederlanden
weist 10 von 187 Fällen aus, wo Schmerzen der einzige Grund für den
Euthanasiewunsch waren; in weniger als der Hälfte spielten Schmerzen überhaupt
eine Rolle.)
Die Palliativmedizin hat inzwischen solche Fortschritte gemacht, daß in jedem
Stadium der Krankheit die Schmerzen fast immer kontrollierbar sind und nicht die
Unerträglichkeitsgrenze erreichen. Intensive Zuwendung verändert dann auch
meistens den Suizidwunsch: das Bewußtsein, daß jemandem daran liegt, daß ich
noch da bin.
Der Arzt repräsentiert dem Patienten gegenüber die Bejahung seiner Existenz
durch die Solidargemeinschaft der Lebenden, auch wenn er ihn nicht zum Leben
zwingt. Gerade in Situationen seelischer Labilität ist das Bewußtsein
katastrophal, der Arzt oder auch der Psychiater könnten auf meinen Wunsch
spekulieren, mich aus dem Weg räumen zu lassen, und insgeheim darauf warten,
diesen Wunsch exekutieren zu können.
Katastrophal ist schon der Gedanke, ich könne ihn überhaupt dazu bringen, daß er
findet, ich solle nicht mehr sein.
Die Fiktion der souveränen Willensentscheidung ausgerechnet in der Situation
extremer Schwäche ist zynisch, vor allem im Hinblick auf die ohnehin im Leben
Benachteiligten wie Arme, Einsame und auch Frauen. Es sind nämlich mehr ältere
Frauen arm, verwitwet, chronisch krank und weniger gut versichert als ältere
Männer. Das Angebot des assistierten Selbstmords wäre der infamste Ausweg, den
die Gesellschaft sich ausdenken kann, um sich der Solidarität mit den
Schwächsten zu entziehen - und der billigste.
Der billigste Ausweg aber ist der, der in unserer durchökonomisierten
Zivilisation mit Sicherheit am Ende gewählt wird, wenn er nicht durch Gesetz und
Sitte so fest verriegelt bleibt, daß diejenigen, die seine Öffnung fordern,
vollständig entmutigt werden. Die Erfahrung, die unser Land vor einem halben
Jahrhundert mit diesem Ausweg gemacht hat, legitimiert und verpflichtet uns zu
besonderer Entschiedenheit.
Es gibt, wie schon Platon wußte, immer Grenzfälle, für die das Gesetz nicht
gemacht ist und denen es nicht gerecht werden kann. Moraltheologen und
Moralphilosophen stürzen sich heute mit einem verdächtigen Interesse auf solche
Grenzfälle und konstruieren, von ihnen ausgehend, Forderungen für die
Formulierung der Gesetze. Ausnahmen sollen nicht mehr als Bestätigung der Regel
gelten, sondern die Regel aushebeln.
So auch in diesem Fall. Aber wer wirklich einem Freund in einer Extremsituation
auf eine Weise helfen möchte, die vom Gesetz nicht gedeckt ist, ohne damit die
Schutzfunktion des Gesetzes zu zerstören, der wird bereit sein, für seinen
Freundschaftsdienst die vom Gesetz vorgesehene Strafe auf sich zu nehmen, falls
der Richter nicht in der Lage ist, seiner besonderen Situation Rechnung zu
tragen. Er wird in dem Bewußtsein handeln, mit der Intention von Gesetz und
Sitte im Tiefsten im Einklang zu stehen und als Ausnahme die Regel zu bestätigen.
Das heißt übrigens nicht, daß das deutsche Gesetz bleiben kann, wie es ist. Es
muß geändert werden. Die direkte aktive Sterbehilfe, „Tötung auf Verlangen“,
steht in Deutschland zwar - wie in fast allen Ländern der Welt - unter Strafe,
und so wird es wohl fürs erste auch bleiben.
Was das deutsche Gesetz für die Euthanasiebefürworter überall in der Welt
attraktiv macht, ist die Tatsache daß es die Beihilfe zum Selbstmord nicht
bestraft. Das war bisher ohne große Bedeutung, obgleich es in einem seltsamen
Widerspruch zur Strafbestimmung für unterlassene Hilfeleistung steht. So ist es
erlaubt, einem Menschen Gift zu geben, mit dem er sich umbringen kann.
Hat er es aber genommen, und ist er inzwischen ohnmächtig, dann ist jeder
Angehörige oder Arzt, also auch der, der ihm das Mittel gab, verpflichtet, für
das Auspumpen seines Magens zu sorgen. Das ist offenbar nicht vernünftig.
Solange Selbstmord eine tolerierte, aber gesellschaftlich geächtete Handlung ist,
bleibt das Problem der Beihilfe marginal. Im Zusammenhang mit der
Euthanasiebewegung wird die deutsche Rechtsbestimmung jedoch zu einer
gefährlichen Einbruchsstelle. Schon hat das Europäische Patentamt ein
Selbstmordpräparat patentiert.
Über den Einspruch dagegen wird wohl der Europäische Gerichtshof zu entscheiden
haben. Daß Firmen an der Gesundheitsfürsorge verdienen, ist in Ordnung. Daß sie
aus der Beihilfe zur Tötung kranker oder depressiver Menschen ein Geschäft
machen, ist sittenwidrig.
Leben verlängern um jeden Preis?
Unter den objektiven Gründen für die Renaissance des Euthanasiegedankens nannte
ich die neuen Praktiken der Lebensverlängerung und die Explosion der Kosten des
Gesundheitswesens. Der Widerstand gegen die Euthanasieversuchung kann seine
Entschiedenheit nur rechtfertigen und durchhalten, wenn er diesen objektiven
Faktoren Rechnung trägt und auf sie eine alternative Antwort gibt.
Es ist ja wahr, daß das Sterben in unserem Land seit langem menschenunwürdig
geworden ist. Es findet immer häufiger in Kliniken statt, also in Häusern, die
eigentlich nicht fürs Sterben, sondern fürs Geheiltwerden da sind. In der Klinik
wird naturgemäß ständig gegen den Tod gekämpft.
Der Kampf endet zwar bei jedem Menschen schließlich mit Kapitulation, aber die
Kapitulation geschieht oft viel zu spät. Nachdem kranke oder alte Menschen auf
alle Art zum Leben gezwungen wurden, bleibt ihnen keine Zeit und kein
angemessener Raum mehr, „das Zeitliche zu segnen“.
Das Sterben degeneriert zum bloßen Verenden, die Sterberituale verkümmern.
Angehörige verdrücken sich, wenn es ernst wird. Die Folge all dessen ist, daß
immer mehr Menschen sterben müssen, die in ihrem Leben niemals einen Sterbenden
gesehen haben. Das ist ein ganz unnatürlicher Zustand, und er fördert natürlich
die stumme Angst vor dem Tod.
Die „aktive Sterbehilfe“ ist die Kehrseite jenes Aktivismus, der bis zum letzten
Augenblick etwas „machen“ muß. Wenn man das Leben nicht mehr machen kann, muß
der Tod gemacht werden. Die Patienten, die im Herbst 1996 beim Obersten
Bundesgericht der USA gegen den Staat New York auf Genehmigung der Euthanasie
klagten, waren überhaupt nur noch am Leben, weil sie mit eigener Zustimmung
apparativen Maßnahmen der Lebensverlängerung ausgesetzt waren.
Immer häufiger hat das Leben schon mit dem Machen eines Menschen in der Retorte
angefangen. Beides ist nicht zu rechtfertigen. Wenn Menschen nicht von Natur
entstünden und von Natur stürben, hätten wir nämlich nie einen hinreichenden
Rechtfertigungsgrund, das Leben oder den Tod eines Menschen herbeizuführen.
All unsere Rechtfertigungsgründe setzen schließlich das Leben immer schon voraus.
Die Medizin kann nicht mehr dem Prinzip folgen, jederzeit jedes menschliche
Leben so lange zu erhalten, wie das technisch möglich ist. Sie kann es nicht aus
Gründen der Menschenwürde, zu der auch das menschenwürdige Sterbenlassen gehört.
Sie kann es auch nicht aus ökonomischen Gründen.
Der Wert jedes menschlichen Lebens ist zwar inkommensurabel, daher das
unbedingte Tötungsverbot. Es gibt aber in moralischer Hinsicht einen Unterschied
zwischen Handlungsgeboten und Unterlassungsgeboten. Nur Unterlassungsgebote
können unbedingt sein, Handlungsgebote nie.
Handlungsgebote unterliegen immer einer Abwägung der Gesamtsituation, und dazu
gehören auch die zur Verfügung stehenden Mittel. Sie sind nicht beliebig
vermehrbar. Bei ihrer Verteilung müssen wir also das an sich selbst
inkommensurable Leben des Menschen durch sekundäre Kriterien vergleichbar
machen.
Bei der Knappheit von Spenderorganen ist das evident. Aber es muß auch gelten
für operativen und apparativen Aufwand. Ist es sinnvoll, daß der finanzielle
Aufwand für die Gesundheit der Menschen in ihrem letzten Lebensjahr so
unverhältnismäßiggroß ist? Für den Pflegeaufwand leuchtet das ein. Aber auch für
den medizinischen Aufwand?
Muß eine 88jährige, die eine Hirnblutung bekommen hat und ohnmächtig ist, zwei
Tage vor ihrem Tod eine aufwendige Hirnoperation über sich ergehen lassen? Und
muß die Solidargemeinschaft der Versicherten damit belastet werden? Das
ärztliche Berufsethos muß angesichts der ständig wachsenden Möglichkeiten der
Medizin Kriterien der Normalität entwickeln, Kriterien für das, was wir jedem
Menschen, und gerade den kranken und alten, an Zuwendung, an Pflege, an
medizinischer Grundversorgung schulden, und für das, was statt dessen abhängig
gemacht werden muß von Alter, Heilungsaussicht und persönlichen Umständen.
Wer jeden Verzicht auf den Einsatz der äußeren Mittel als Tötung durch
Unterlassen brandmarkt, der bereitet - und zwar oft absichtlich - den Weg für
das aktive Umbringen. Die Hospizbewegung, nicht die Euthanasiebewegung ist die
menschenwürdige Antwort auf unsere Situation. Wo Sterben nicht als Teil des
Lebens verstanden und kultiviert wird, da beginnt die Zivilisation des Todes.
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