Das Wort Gottes und die persönliche Heiligkeit


Dritte Predigt
„Nehmt das Wort auf“
Das Wort Gottes als Weg der persönlichen Heiligung
P. R. Cantalamessa O.M.Cap.
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1. Die lectio divina

In dieser Betrachtung denken wir über das Wort Gottes als Weg der persönlichen Heiligung nach. Die Lineamenta zur Vorbereitung der Bischofssynode (Oktober 2008) handeln davon in einem Paragraphen des 2. Kapitels, der dem „Wort Gottes im Leben des Gläubigen“ gewidmet ist.

Es handelt sich um ein der geistlichen Tradition der Kirche sehr teures Thema. „Das Wort Gottes“, sagte der hl. Ambrosius, „ist die lebensnotwendige Substanz unserer Seele; es nährt, weidet und regiert sie; es gibt nichts außerhalb des Wortes Gottes, das die Seele des Menschen leben lassen kann“. (Ambrosius, Exp. Ps. 118, 7,7 (PL 15, 1350) „Und solche Gewalt und Kraft west im Worte Gottes – fügt die dogmatische Konstitution Dei Verbum hinzu -, dass es für die Kirche Halt und Leben, für die Kinder der Kirche Glaubensstärke, Seelenspeise und reiner, unversieglicher Quell des geistlichen Lebens ist.“ (Dei Verbum, 21)

„Besonders notwendig ist es – schrieb Johannes Paul II. in dem Apostolischen Schreibe Novo millenio ineunte –, dass das Hören des Wortes zu einer lebendigen Begegnung in der alten und noch immer gültigen Tradition der lectio divina wird. Sie lässt uns im biblischen Text das lebendige Wort erfassen, das Fragen an uns stellt, Orientierung gibt und unser Dasein gestaltet.“ (Johannes Paul II., Novo millennio ineunte, 39) Zum Thema äußerte sich auch der Heilige Vater Benedikt XVI. anlässlich der internationalen Tagung über die Heilige Schrift im Leben der Kirche: „Das vom Gebet begleitete aufmerksame Lesen der Heiligen Schrift führt zu jenem vertrauten Gespräch, in dem man beim Lesen Gott sprechen hört und ihm im Gebet antwortet, während sich das Herz vertrauensvoll öffnet“. (Benedikt XVI. XVI, in AAS 97, 2005, S. 957)

Mit den folgenden Überlegungen reihe ich mich in diese reiche Tradition ein und gehe dabei vom dem aus, was uns dazu die Heilige Schrift selbst sagt. Im Brief des hl. Jakobus lesen wir diesen Text über das Wort Gottes: „Aus freiem Willen hat er uns durch das Wort der Wahrheit geboren, damit wir gleichsam die Erstlingsfrucht seiner Schöpfung seien. Denkt daran, meine geliebten Brüder: Jeder Mensch soll schnell bereit sein zu hören, aber zurückhaltend im Reden und nicht schnell zum Zorn bereit; denn im Zorn tut der Mensch nicht das, was vor Gott recht ist. Darum legt alles Schmutzige und Böse ab, seid sanftmütig und nehmt euch das Wort zu Herzen, das in euch eingepflanzt worden ist und das die Macht hat, euch zu retten. Hört das Wort nicht nur an, sondern handelt danach; sonst betrügt ihr euch selbst. Wer das Wort nur hört, aber nicht danach handelt, ist wie ein Mensch, der sein eigenes Gesicht im Spiegel betrachtet: Er betrachtet sich, geht weg und schon hat er vergessen, wie er aussah. Wer sich aber in das vollkommene Gesetz der Freiheit vertieft und an ihm festhält, wer es nicht nur hört, um es wieder zu vergessen, sondern danach handelt, der wird durch sein Tun selig sein“ (Jak 1,18-25).

2. Das Wort annehmen

Dem Text des Jakobus entnehmen wir ein Schema für die lectio divina, das aus drei Etappen oder aufeinander folgenden Verfahren besteht: das Wort annehmen, das Wort meditieren, das Wort in die Praxis umsetzen.

Die erste Etappe besteht also im Hören des Wortes: „Nehmt euch das Wort zu Herzen, das in euch eingepflanzt worden ist“. Diese erste Etappe umfasst alle Formen und Weisen, mit denen der Christ mit dem Wort Gottes in Berührung tritt: Das Hören des Wortes in der Liturgie, was nunmehr durch den Gebrauch der modernen Sprachen und der weisen Auswahl der über das Jahr verteilten Texte erleichtert ist: dann Bibelschulen, schriftliche Hilfsmittel und, was unersetzbar ist, das persönliche Lesen der Bibel bei sich zu Hause. Für den, der dazu berufen ist, andere zu lehren, kommt das systematische Studium der Bibel hinzu: Exegese, Textkritik, Bibeltheologie, Studium der Originalsprachen.

In dieser Phase muss man sich vor zwei Gefahren hüten. Die erste besteht darin, bei diesem ersten Stadium stehen zu bleiben und das persönliche Lesen des Wortes Gottes in ein „unpersönliches“ Lesen zu verwandeln. Diese Gefahr ist heute sehr stark, vor allem in den Einrichtungen der akademischen Ausbildung.

Der hl. Jakobus vergleicht das Lesen des Wortes Gottes damit, wie man sich im Spiegel betrachtet; aber, so merkt Kierkegaard an, wer sich darauf beschränkt, die Quellen, Varianten und literarischen Genera der Bibel zu studieren, ohne Weiteres zu tun, ähnelt einem, der die ganze Zeit damit verbringt, den Spiegel anzuschauen und sorgfältig dessen Form, Material, Stil sowie die Epoche zu untersuchen, aus der er stammt, ohne sich je im Spiegel selbst anzuschauen. Für ihn erfüllt der Spiegel nicht seine eigentliche Funktion. Das Wort Gottes ist gegeben worden, damit du es in die Praxis umsetzt, und nicht dazu, dass du dich in der Exegese seiner Dunkelheiten übst. Es gibt eine „Hermeneutik-Inflation“ und, was schlimmer ist, man ist der Überzeugung, dass das in Bezug auf die Bibel Wichtigste die Hermeneutik sei, nicht die Praxis. (S. Kierkegaard, Zur Selbstprüfung der Gegenwart anbefohlen)

Das kritische Studium des Wortes Gottes ist unverzichtbar, und man kann denen nie genug dankbar sein, die ihr Leben damit verbringen, einem immer besseren Verständnis des heiligen Textes die Straße zu ebnen, aber dies erschöpft nicht allein den Sinn der Schrift; es ist notwendig, aber nicht ausreichend.

Die andere Gefahr besteht im Fundamentalismus, das heißt: alles, was in der Bibel steht, wörtlich zu nehmen, ohne jegliche hermeneutische Vermittlung. Dieses zweite Risiko ist bedeutend schädlicher, als es auf den ersten Blick erscheinen mag, und die aktuelle Debatte über Kreationismus und Evolutionismus ist der dramatische Beweis dafür.

Diejenigen, die die wörtliche Lesart der Genesis verteidigen (die Welt ist so, wie sie ist, vor einigen tausend Jahren geschaffen worden, in sechs Tagen) fügen dem Glauben einen sehr großen Schaden zu. „Die jungen Menschen, die in Familien und Kirchen aufgewachsen sind, die auf dieser Form von Kreationismus bestehen – schrieb der gläubige Wissenschaftler Francis Collins, Direktor des Projektes, das zur Entdeckung des menschlichen Genoms geführt hat –, entdecken früher oder später die erdrückende wissenschaftliche Evidenz zugunsten eines Universums, das sehr viel älter ist, sowie die wechselseitige Verbindung aller Lebewesen durch den Prozess der Evolution und der natürlichen Auslese. Vor welche schreckliche und sinnlose Entscheidung finden sie sich gestellt!... Man braucht sich nicht wundern, wenn viele dieser jungen Menschen dem Glauben den Rücken zukehren und den Schluss ziehen, nicht an einen Gott glauben zu können, der von ihnen verlangt, das zu verwerfen, was sie die Wissenschaft mit großer Evidenz über das natürliche Universum lehrt.“ (F. Collins, Le language of God, Free Press 2006, pp. 177 s)

Nur dem Anschein nach sind die beiden Exzesse des Hyperkritizismus und des Fundamentalismus einander entgegengesetzt: ihnen ist die Tatsache gemeinsam, dass sie beim Buchstaben stehen bleiben und den Geist vernachlässigen.

3. Das Wort Gottes betrachten

Die zweite vom hl. Jakobus suggerierte Etappe besteht darin, den „Blick fest auf das Wort zu richten“ und lange vor dem Spiegel stehen zu bleiben, also in der Meditation oder Betrachtung des Wortes. Die Väter benutzten diesbezüglich die Bilder des Kauens und des Wiederkäuens. „Das Lesen – schreibt Guigo II., der Theoretiker der lectio divina – bietet dem Mund eine kräftige Speise, die Betrachtung kaut und zermalmt sie.“ (Guigo II, Scala claustralium, 3) „Wenn sich einer die gehörten Dinge ins Gedächtnis ruft und sie sanft in seinem Herzen erneut durchdenkt, so ähnelt er einem Wiederkäuer“, sagt Augustinus. (Augustinus, Enarr. in Ps. 46, 1 [CCL 38, 529])

Die Seele, die sich im Spiegel des Wortes betrachtet, lernt zu erkennen, „wie es ist“, sie lernt sich selbst zu erkennen und entdeckt, wie weit sie vom Bild Gottes und Christi abweicht. „Ich bin nicht auf meine Ehre bedacht“, sagt Jesus (Joh 8,50): und so steht der Spiegel vor dir und sofort siehst du, wie weit entfernt du von Jesus bist. „Selig, die arm sind vor Gott“: der Spiegel steht erneut vor dir, und sofort entdeckst du, dass du noch voller Anhänglichkeit gegenüber überflüssigen Dingen bist; „die Liebe ist geduldig…“, und du merkst, wie ungeduldig, neidisch und interessiert du bist.

Mehr als um ein „die Schrift Erforschen“ (vgl. Joh 5,39) geht es darum, sich von der Schrift erforschen zu lassen. Das Wort Gottes, so sagt der Hebräerbrief, „ist kraftvoll und schärfer als jedes zweischneidige Schwert; es dringt durch bis zur Scheidung von Seele und Geist, von Gelenk und Mark; es richtet über die Regungen und Gedanken des Herzens“ (Hebr 4, 12-13). Das beste Gebet, mit dem der Augenblick der Betrachtung des Wortes zu beginnen ist, besteht darin, zusammen mit dem Psalmisten zu wiederholen: „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz, / prüfe mich und erkenne mein Denken! Sieh her, ob ich auf dem Weg bin, der dich kränkt, / und leite mich auf dem altbewährten Weg!“ (Ps 139).

Im Spiegel des Wortes jedoch sehen wir nicht nur uns selbst; wir sehen das Antlitz Gottes; besser: wir sehen das Herz Gottes. Die Schrift, so sagt der hl. Gregor der Große, ist „ein Brief des allmächtigen Gottes an sein Geschöpf; in ihr lernt man das Herz Gottes in den Worten Gottes kennen“. (Gregor der Große, Registr. Epist. IV, 31 [PL 77, 706] Auch für Gott gilt der Spruch Jesu: „Denn wovon das Herz voll ist, davon spricht der Mund“ (Mt 12,34). Gott hat in der Schrift zu uns von dem gesprochen, was sein Herz erfüllt, und das, was sein Herz erfüllt, ist die Liebe.

Die Betrachtung des Wortes verschafft uns so die beiden wichtigsten Erkenntnisse, um auf dem Weg der wahren Weisheit voran zu kommen: die Selbsterkenntnis und die Erkenntnis Gottes. „Auf dass ich mich erkenne und auf dass ich dich erkenne, noverim me, noverim te – sagte der hl. Augustinus zu Gott: auf dass ich mich erkenne, um mich zu erniedrigen, und auf dass ich die erkenne, um dich zu lieben.“

Ein außerordentliches Beispiel für diese doppelte Erkenntnis seiner selbst und Gottes, die sich aus dem Wort Gottes ergibt, ist der Brief an die Kirche von Laodizea in der Offenbarung des Johannes. Es lohnt sich, ihn dann und wann zu betrachten, besonders in dieser Fastenzeit. (vgl. Off 3,14-20). Der Auferstandene stellt vor allem die wirkliche Situation des typischen Gläubigen in dieser Gemeinde heraus: „Ich kenne deine Werke. Du bist weder kalt noch heiß. Wärest du doch kalt oder heiß! Weil du aber lau bist, weder heiß noch kalt, will ich dich aus meinem Mund ausspeien.“ Beeindruckend ist der Gegensatz zwischen dem, was dieser Gläubige von sich denkt, und dem, was Gott von ihm denkt: „Du behauptest: Ich bin reich und wohlhabend und nichts fehlt mir. Du weißt aber nicht, dass gerade du elend und erbärmlich bist, arm, blind und nackt.“

Eine Seite von ungewohnter Härte, die jedoch sofort durch eine der berührendsten Beschreibungen der Liebe Gottes umgestoßen wird: „Ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wer meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich eintreten und wir werden Mahl halten, ich mit ihm und er mit mir“. Ein Bild, das seine realistische und nicht nur metaphorische Bedeutung offenbart, wenn es gelesen wird, wie der Text suggeriert, indem man an das eucharistische Mahl denkt.

Diese Seite aus der Offenbarung des Johannes kann uns über die Verifizierung des persönlichen Zustandes unserer Seele hinaus dazu dienen, um die geistliche Situation des Großteils der modernen Gesellschaft vor Gott ins Licht zu setzen. Es ist wie eine dieser Infrarotfotografien eines Satelliten, die ein Panorama zeigen, das gänzlich anders ist als das gewöhnliche, das im natürlichen Licht beobachtet wird.

Auch diese unsere Welt, die durch ihre wissenschaftlichen und technologischen Errungenschaften befriedigt ist (so wie es die Laodizeer aufgrund ihrer Erfolge im Handel waren), fühlt sich reich, ohne niemandes zu bedürfen, nicht einmal Gottes. Es ist notwendig, dass sie jemand die wahre Diagnose ihres Zustands erkennen lässt: „Du weißt, dass du unglücklich, armselig, arm, blind und nackt bist“. Sie bedarf jemandes, der ihr zuruft, wie das Kind in Andersens Märchen: „Der König ist nackt!“. Aber aus Liebe und mit Liebe, wie es der Auferstandene mit den Laodizeern tut.

Das Wort Gottes stellt für jede Seele, die es will, eine grundlegende und in sich unfehlbare geistliche Leitung sicher. Es gibt eine sozusagen gewöhnliche und alltägliche geistliche Leitung, die in der Entdeckung dessen besteht, was Gott in den verschiedenen Situationen will, in denen sich der Mensch üblicherweise im Leben vorfindet. Eine derartige Leitung wird durch die Meditation des Wortes Gottes sichergestellt, die von der inneren Salbung des Geistes begleitet ist, welche das Wort in guter „Inspiration“ und die gute Inspiration in praktische Entschlossenheit umsetzt. Dies bringt der Vers des Psalms zum Ausdruck, der den Liebhabern des Wortes so teuer ist: „Dein Wort ist meinem Fuß eine Leuchte, / ein Licht für meine Pfade“ (Ps 119,105).

Einmal war ich zu einer Mission in Australien. Am letzten Tag besuchte mich ein Mann, ein italienischer Emigrant, der dort arbeitete. Er sagte mir: „Pater, ich habe ein ernstes Problem. Ich habe einen elfjährigen Sohn, der noch nicht getauft ist. Es ist nämlich so, dass meine Frau eine Zeugin Jehovas geworden ist und nichts von einer Taufe in der katholischen Kirche wissen will. Wenn ich ihn taufen lasse, so wird das zu einer Krise führen, wenn ich ihn nicht taufen lasse, fühle ich mich nicht ruhig, denn als wir heirateten, waren wir beide katholisch und haben versprochen, unsere Kinder im Glauben zu erziehen. Was soll ich tun?“ Ich sagte ihm: „Lass mich die Nacht überlegen, kehr morgen früh zurück, und dann werden wir sehen, was zu tun ist.“ Am nächsten Morgen kommt dieser Mann zu mir und war sichtbar erleichtert; er sagt mir: „Pater, ich habe die Lösung gefunden. Gestern Abend, als ich nach Hause kam, habe ich ein wenig gebetet. Dann habe ich die Bibel einfach so aufgeschlagen. Ich kam zufällig an die Stelle, an der Abraham seinen Sohn Isaak opfern wollte. Und ich habe gesehen, dass Abraham, als er den Sohn opfern wollte, seiner Frau nichts davon sagt.“ Es war dies eine exegetisch perfekte Unterscheidung. Ich selbst taufte den Buben und es war ein Augenblick großer Freude für alle.

Die Bibel zufällig auszuschlagen ist eine delikate Angelegenheit, die umsichtig und in einer Atmosphäre des Glaubens zu tun ist und nicht ohne vorher lange zu beten. Es darf dennoch nicht die Tatsache vernachlässigt werden, dass sie unter diesen Bedingungen oft wunderbare Früchte gegeben hat und auch von den Heiligen praktiziert worden ist. Über Franz von Assisi ist in den Quellen zu lesen, dass er die Lebensart, zu der ihn Gott berief, dadurch entdeckte, dass er dreimal zufällig „nach frommem Gebet“ das Buch der Evangelien öffnete „in der Bereitschaft, den ersten Rat zu verwirklichen, der sich ihm bot“. (Thomas von Celano, Vita Secunda, X, 15) Augustinus interpretierte die Worte „Tolle lege“, nimm und lies, die er aus einem nahe gelegenen Haus hörte, als einen göttlichen Befehl, das Buch der Briefe des Paulus zu öffnen und den Vers zu lesen, auf den als erstes sein Blick gefallen wäre. (Augustinus, Confessiones VIII, 12)

Es gibt Seelen, die heilig geworden sind mit dem einen geistlichen Begleiter, der das Wort Gottes ist. „Im Evangelium – so schrieb die hl. Therese von Lisieux – finde ich alles Notwendige für meine arme Seele. In ihm entdecke ich immer neues Licht, verborgene und geheimnisvolle Bedeutungen. Ich verstehe und weiß aus Erfahrung, dass ‚das Reich Gottes in uns ist’ (vgl. Lk 17,21). Jesus braucht keine Bücher oder Lehrer, um die Seelen zu formen; er, der Lehrer der Lehrer, lehrt ohne den Lärm der Worte.“ (Therese von Lisieux, Handschrift A, n. 236) Durch ein Wort Gottes entdeckte die Heilige ihre tiefe Berufung, indem sie die Kapitel 12 und 13 des ersten Briefs an die Korinther eines nach dem anderen las und jubilierend ausrief: „Im mystischen Leib Christi werde ich das Herz sein, das liebt!“

Die Bibel bietet uns ein anschauliches Bild, das alles zusammenfasst, was über die Meditation des Wortes gesagt worden ist: das Bild des gegessenen Buches, das im Buch Ezechiel zu lesen ist:

„Und ich sah: Eine Hand war ausgestreckt zu mir; sie hielt eine Buchrolle. Er rollte sie vor mir auf. Sie war innen und außen beschrieben und auf ihr waren Klagen, Seufzer und Weherufe geschrieben. Er sagte zu mir: Menschensohn, iss, was du vor dir hast. Iss diese Rolle! Dann geh und rede zum Haus Israel! Ich öffnete meinen Mund und er ließ mich die Rolle essen. Er sagte zu mir: Menschensohn, gib deinem Bauch zu essen, fülle dein Inneres mit dieser Rolle, die ich dir gebe. Ich aß sie und sie wurde in meinem Mund süß wie Honig“ (Ez 2, 9-3, 3; vgl. auch Offb 12,10)

Es besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen dem einfach gelesenen oder studierten Buch und dem gegessenen Buch. Im zweiten Fall wird das Wort wirklich, wie der hl. Ambrosius sagte, „die Substanz unserer Seele“, das, was die Gedanken in-formiert, die Sprache bildet, die Handlungen bestimmt, den „geistlichen“ Menschen schafft. Das gegessene Wort ist ein vom Menschen „aufgenommenes“ Wort, obwohl es sich um eine passive Aufnahme handelt (wie im Fall der Eucharistie), das heißt um ein vom Wort „Aufgenommen-Werden“, vom Wort unterjocht und besiegt, das das stärkere Lebensprinzip ist.

Für die Betrachtung des Wortes haben wir ein wunderbares Vorbild, Maria; sie bewahrte alles, was geschehen war (wörtlich: diese Worte) in ihrem Herzen und dachte darüber nach (vgl. Lk 2,19). In ihr ist die Metapher des gegessenen Buches auch physische Wirklichkeit geworden. Das Wort hat ihr im wörtlichen Sinn „den Bauch gefüllt“.

4. Nach dem Wort handeln

So gelangen wir zur dritten Phase des vom Apostel Jakobus vorgeschlagenen Weges, die der Apostel am meisten betont. „Hört das Wort nicht nur an, sondern handelt danach… Wer das Wort nur hört, aber nicht danach handelt…; wer es nicht nur hört, um es wieder zu vergessen, sondern danach handelt, der wird durch sein Tun selig sein“ . Dies ist es auch, was Jesus am meisten am Herzen liegt: „Meine Mutter und meine Brüder sind die, die das Wort Gottes hören und danach handeln“ (Lk 8,21). Ohne dieses „nach dem Wort handeln“ bleibt alles Illusion, ein Gebäude auf Sand. Man kann nicht einmal sagen, das Wort verstanden zu habe, denn, wie der hl. Gregor der Große schreibt, das Wort Gottes ist in Wahrheit nur dann zu verstehen, wenn man beginnt, es in die Tat umzusetzen. (Gregor der Große, Über Ezechieel, I, 10, 31 [CCL 142, p. 159])

Diese dritte Etappe besteht im Gehorsam gegenüber dem Wort. Der im Neuen Testament gebrauchte griechische Begriff für „Gehorsam“ (hypakouein) bedeutet wörtlich übersetzt „auf etwas hören“, was heißen will: das ausführen, was gehört wurde. „Doch mein Volk hat nicht auf meine Stimme gehört; / Israel hat mich nicht gewollt“, beklagt sich Gott in der Bibel (Ps 81,12).

Sobald man versucht, im Neuen Testament danach zu suchen, worin die Pflicht des Gehorsams besteht, macht man eine überraschende Entdeckung: Gehorsam ist fast immer als Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes gesehen. Der hl. Paulus spricht von Gehorsam gegenüber der Lehre (Röm 6,17), Gehorsam gegenüber dem Evangelium (Röm 10,16; 2 Thess 1,8), Gehorsam gegenüber der Wahrheit (Gal 5,7), Gehorsam gegenüber Christus (2 Kor 10,5). Wir finden dieselbe Sprache auch an anderen Stellen: die Apostelgeschichte spricht von Gehorsam gegenüber dem Glauben (Apg 6,7), der erste Brief des Petrus spricht von Gehorsam gegenüber Christus (1 Petr 1,2) und von Gehorsam gegenüber der Wahrheit (1 Petr 1,22).

Der Gehorsam Jesu wird vor allem durch den Gehorsam gegenüber den geschriebenen Worten ausgeübt. In der Episode der Versuchungen in der Wüste besteht der Gehorsam Jesu darin, dass er sich auf die Worte Gottes beruft und sich an sie hält: „Es steht geschrieben!“ Seinen Gehorsam übt er insbesondere gegenüber den Worten aus, die über ihn und für ihn „im Gesetz, in den Propheten und den Psalmen“ geschrieben sind und die er als Mensch schrittweise entdeckt, je mehr er im Verstehen und in der Erfüllung seiner Sendung voranschreitet. Als sie sich seiner Gefangennahme widersetzen wollen, sagt Jesus: „Wie würde dann aber die Schrift erfüllt, nach der es so geschehen muss?“ (Mt 26,54). Es ist, als sei das Leben Jesu von einem leuchtenden Leitfaden begleitet, der aus den für ihn geschrieben Worten gebildet ist. Er entnimmt den Schriften das „man muss“ (dei), das sein ganzes Leben leitet.

Die Worte Gottes im aktuellen Wirken des Geistes werden zum Ausdruck des lebendigen Willens Gottes mir gegenüber zu einem bestimmten Zeitpunkt. Ein kleines Beispiel wird zum Verständnis helfen. Einmal bemerkte ich, dass jemand in der Kommunität irrtümlich etwas genommen hatte, das mir gehörte. Ich war dabei, ihn darauf aufmerksam zu machen und darum zu bitten, dass es mir zurückerstattet wird, als ich zufällig (aber vielleicht war es nicht wirklich zufällig) auf das Wort Jesu stieß, das sagte: „Gib jedem, der dich bittet; und wenn dir jemand etwas wegnimmt, verlang es nicht zurück“ (Lk 6,30). Ich verstand, dass dieses Wort nicht im Allgemeinen und in allen Fällen anzuwenden war, aber sicher fand es Anwendung für mich in jenem Moment. Es ging darum, dem Wort zu gehorchen.

Der Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes ist der Gehorsam, den wir immer leisten können. Befehlen oder sichtbaren Autoritäten zu gehorchen kommt nur ab und zu vor, insgesamt drei oder vier Mal im Leben, wenn es sich um ernsthaften Gehorsam handelt; aber dem Wort Gottes zu gehorchen, kann in jedem Moment geschehen. Dies ist auch der Gehorsam, den wir alle leisten können, Untergebene und Obere, Kleriker und Laien. Die Laien haben in der Kirche keinen Oberen, dem sich gehorchen müssen – wenigsten nicht in dem Sinne, in dem dies bei den Ordensleuten und Klerikern der Fall ist –; sie haben aber statt dessen einen „Herrn“, dem zu gehorchen ist! Sie haben sein Wort!

Beschließen wir diese unsere Meditation, indem wir uns das Gebet zu eigen machen, das der hl. Augustinus zu Gott in seinen Confessiones erhebt, um das Verständnis für das Wort Gottes zu erlangen: „Möge deine Schrift meine keusche Wonne sein, auf dass ich mich nicht irre noch andere irreleite… merke auf meine Seele, und höre die Stimme des Rufenden aus der Tiefe… Gewähre mir aus ihnen die Zeit, mit meinen Gedanken in die Geheimnisse deines Gesetzes einzudringen, und verschließe es denen nicht, die anklopfen… Siehe, deine Stimme ist meine Freude, deine Stimme ist mir mehr als alle Wonne der Lust. Gib mir, was ich liebe… verachte nicht dein dürstendes Kräutlein… es eröffnen sich die inneren Tiefen deiner Worte, wenn ich sie betreten will… Ich flehe dich an im Namen unseres Herrn Jesu Christi…, in welchem verborgen liegen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis (Kol 2,3). Diese suche ich in deiner Schrift.“ (Augustinus, Confessiones XI 2, 3-4)