Sünde - Abkehr von Gott
Kardinal Schönborn
8. Katechese vom 14. April 2002

 

In unserem Gottesdienst ist viel von Sünde die Rede. Im Alltag scheint das oft übertrieben. Warum ist die Sünde in unserem christlichen Verständnis so wichtig? Was ist Sünde überhaupt? Wie kommt es, dass ihr Gewicht uns so stark bewusst ist?

 

Herr, Jesus Christus, am Osterabend tratst du in die Mitte deiner Jünger und sprachst den Friedensgruß. So bitten wir dich: Du Sieger über Sünde und Tod, schau nicht auf unsere Sünden, sondern auf den Glauben deiner Kirche und schenke ihr nach deinem Willen Einheit und Frieden, der du lebst und herrschest in Ewigkeit. Amen.

I.

Das Thema der heutigen Katechese ist die Sünde. Wenn wir die Grundlagen des sittlichen Handelns besprechen, können wir nicht umhin, auch von dieser Wirklichkeit zu sprechen, die uns so oft dem Namen und auch der Wirklichkeit nach begegnet. Wenn jemand, der unsere liturgische Sprache nicht gewohnt ist, in einen Gottesdienst kommt, mag ihm auffallen, wie oft von der Sünde die Rede ist: vom Beginn des Gottesdienstes bis zum Schluss, vom Sündenbekenntnis angefangen, wenn wir sagen "Ich bekenne ... dass ich gesündigt habe ... durch meine große Schuld", bis hin zu dem Gebet vor dem Friedensgruß, das ich eben jetzt in der Osterfassung gebetet habe: "Schau nicht auf unsere Sünden sondern auf den Glauben deiner Kirche." Zwischen diesen Texten am Anfang und am Ende des eucharistischen Gottesdienstes kommen viele Stellen vor, wo immer wieder von der Sünde die Rede ist. Selbst im Gloria, in diesem Lobpreis auf die Herrlichkeit Gottes, ist die Rede von dem Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinweg nimmt. Und dieses Wort vom Lamm Gottes kommt noch mindestens zweimal im Gottesdienst vor, im Agnus Dei, dem dreimaligen "Lamm Gottes, das du hinwegnimmst die Sünde der Welt, erbarme dich unser – gib uns deinen Frieden", und schließlich bei der Einladung zur Kommunion: "Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt."

Aber auch in den stillen Gebeten, die der Priester für sich alleine spricht, kommt das Thema Sünde immer wieder vor. Ich nenne nur drei Beispiele, die wir meist nicht hören, weil der Priester sie leise spricht. Etwa, wenn er nach dem Evangelium sagt: "Per Evangelica dicta deleantur nostra delicta" – "Herr, durch dein Evangelium nimm hinweg unsere Sünden"; oder wenn er bei der Händewaschung sagt: "Herr, wasche ab meine Schuld und von meinen Sünden mache mich rein" (Ps 51,4); oder wenn er vor der Kommunion für sich und für alle Gläubigen, die die Kommunion empfangen, still betet: "Erlöse mich durch deinen Leib und dein Blut von allen Sünden und allem Bösen".

Ein Beobachter von außen mag den Eindruck haben, die Katholische Kirche sei geradezu besessen von der Frage der Sünde. Das komme wie bei einer "Obsession" fast ständig vor. Ist das nicht etwas Krankhaftes, dauernd von Sünde zu reden? Sind die Christen Menschen, die überall die Sünde wittern, die alles in dem negativen Licht der Sünde sehen? Ist das nicht ein Anzeichen einer krankhaften Haltung, die wiederum andere Menschen und den, der sie hat, krank macht? Diesen Vorwurf kann man immer wieder hören, dass das Christentum neurotisierend sei, dass es krank mache, eben wegen dieser ständigen Betonung der Sünde.

Was hat es mit der Sünde auf sich? Wir müssen vorweg sagen, das Wort von der Sünde ist in den zentralsten, wesentlichsten Worten unseres Glaubens zu finden, deshalb wohl auf keinen Fall einfach zu streichen. Selbst wenn es uns fremd geworden ist, ist es durch kein anderes Wort zu ersetzen. Nehmen wir die Mitte, den wesentlichsten Teil der Eucharistiefeier, die Wandlungsworte, das heißt die Worte, die der Priester im Namen Jesu über Brot und Wein spricht. Wenn es dort von dem Kelch, eben mit den Worten Jesus selbst, heißt: "Das ist der Kelch des neuen und ewigen Bundes, mein Blut, das für euch und für alle vergossen wird, zur Vergebung der Sünden", dann heißt das doch, dass die Vergebung der Sünden das Anliegen des Todes Jesu ist. Der Evangelist Matthäus erklärt uns sogar den Namen Jesu selbst von dieser Sendung her, die das ganze Leben bestimmt: Jesus soll er genannt werden, sagt der Engel dem Josef, "denn er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen" (Mt 1,21). Jesus ist also zur Vergebung der Sünden gekommen und gestorben. Im Glaubensbekenntnis, Credo bekräftigen wir am Ende feierlich, dass wir an die Vergebung der Sünden glauben. Wenn wir an ihre Vergebung glauben, dann glauben wir auch, dass es sie gibt.

Dieser so wesentlichen Bedeutung steht eine Banalisierung, eine Veroberflächlichung des Wortes "Sünde" im heutigen Sprachgebrauch gegenüber. Das Wort Sünde kommt in allen möglichen Kontexten, Zusammenhängen vor. Ich nenne drei Beispiele, die man immer wieder hören kann: Wenn von Verkehrssünden die Rede ist, von Bausünden – ich will jetzt keine Beispiele nennen, wo man von Bausünden redet –, Umweltsünden, ist ein beliebtes Wort, und speziell in Österreich, vermerkt der Duden, sagt man, wenn etwas besonders teuer ist, es sei sündteuer. Aber am meisten kommt das Wort Sünde im Umfeld des sechsten Gebotes vor. "Kann denn Liebe Sünde sein?", ist ein beliebtes Wort, ein immer wieder zu findender Ausdruck, wobei sowohl Liebe wie Sünde auf Sexualität fixiert und beschränkt erscheinen.

II.

Was also ist Sünde? Wir müssen uns von vorn herein klar sein, dass das Gewicht dieses Wortes und dieser Wirklichkeit sich nicht bloß dem Nachdenken erschließt. Das ist nicht zuerst eine Frage der gelehrten Theologie. Es gibt noch eine andere Art von Einsicht, von Erkenntnis, die nicht nur vom Verstand ausgeht, sondern, sagen wir einmal vorweg, die vom Herzen ausgeht. Dort, im Herzen begreifen wir, was Sünde ist, entdecken wir diese Wirklichkeit. Aber bevor wir uns dem nähern, beginnen wir mit diesen etwas oberflächlichen Beispielen, die ich genannt habe. Vielleicht führen sie doch etwas tiefer. Vielleicht steckt in ihnen eine verwehte Ahnung von dem, was Sünde wirklich ist. Verkehrssünden, Bausünden, Umweltsünden – was bezeichnet man mit diesen Worten?

Zuerst einmal ist gemeint, dass gegen bestehende Regeln verstoßen wird, gegen die Straßenverkehrsordnung, gegen die Bauordnung oder gegen die Umweltschutzordnung. Darin kündigt sich etwas Richtiges an: Sünde hat immer zu tun mit einem Verstoß gegen eine Ordnung. Aber wir sehen gleich, nicht jeder Verstoß gegen jegliche Ordnung wird als Sünde bezeichnet. Selbst in diesem etwas oberflächlichen Sprachgebrauch, wenn man von Verkehrssünden redet, meint man doch etwas Besonderes. Nicht jeder Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung ist eine Verkehrssünde. Wenn jemand schlecht parkt, dann sagt man vielleicht, dass er nicht gut Auto fahren kann. Aber man wird das wahrscheinlich nicht als Verkehrssünde bezeichnen. Und dasselbe gilt sicher auch von den beiden anderen Beispielen.

Es muss wohl etwas dazu kommen, ein zusätzliches Element, zu einem Verstoß gegen eine Regel, die das Wort Sünde auch in diesem oberflächlichen Sprachgebrauch rechtfertigt, ein Element der Absichtlichkeit. Wir müssen noch weitergehen: ein Element der Böswilligkeit gehört wohl dazu, dass man von Verkehrssünden spricht. Das heißt übrigens nicht, dass dem Verkehrssünder das bewusst sein muss im Moment, wo er es tut. Aber die anderen erfahren es so. Es kann sein, dass dem Täter nachher schmerzlich bewusst wird, dass das, was er getan hat, nicht einfach nur ein Regelverstoß war. Da war etwas Schlimmeres dabei. Dieses Schlimmere kann einem allmählich bewusst werden oder plötzlich erschreckend bewusst werden, dass man schuldig geworden ist.

Beim Nachdenken über diese Dinge kam mir wieder ein Mitschüler aus der Mittelschule in Erinnerung, der von zu Hause sehr verwöhnt war. Die Eltern waren wohlhabend, er das einzige Kind. Schon mit fünfzehn, sechzehn, die Eltern ließen ihn oft alleine, hat er begonnen, sich unerlaubterweise den Wagen der Eltern auszuborgen und wilde Autorasereien zu machen. Ich kann mich gut erinnern, wie ich ihn einmal zur Rede gestellt habe, als er damit in der Klasse geprahlt hat, weil ich wusste, dass auf der selben Strecke am selben Tag meine Mutter zur Arbeit fuhr. Und ich habe ihn sehr erregt angesprochen: Weißt du, was du da tust, dass du andere Menschen in Gefahr bringst? Einige Monate später ist er mit 140 Stundenkilometern gegen einen Baum gerast, als sechzehnjähriger mit drei anderen im Auto, alle unter achtzehn. Alle vier waren tot.

Wenn wir von Umweltsünden sprechen, dann meinen wir auch nicht einfach Dinge, die so zufällig passieren oder die unabsichtlich passieren, sondern wir meinen zum Beispiel das so tragische, schlimme Zusammenspiel von verschiedensten wirtschaftlichen und politischen Interessen, die zum Beispiel dazu führen, dass die Regenwälder hemmungslos abgeholzt werden. Ich werde auf diese Frage der Verknüpfung von verschiedenen Elementen noch zurückkommen, die man heute auch "Strukturen der Sünde" nennt.

III.

Wir haben bisher festgestellt, dass auch zu der etwas oberflächlichen Rede von Sünden des Alltags das Element der Mutwilligkeit oder Böswilligkeit gehört, zumindest so, dass es entdeckt werden kann, wenn das Gewissen aufwacht. Nun stelle ich mir die Frage: Ist diese Rede von Sünde in außerkirchlichen Zusammenhängen ein Überrest von religiöser Sprache? Sind das so Versatzstücke, die aus dem Museum des Christentums noch in der Gesellschaft übriggeblieben sind? Oder drückt sich darin doch ein tieferes Gespür aus, vielleicht eine verwehte Ahnung von dem, was Sünde wirklich ist.

Aber was ist Sünde? Schlagen wir im Katechismus nach. Dort werden zwei Definitionen gegeben. Und aufs erste gesehen sind diese beiden Definitionen widersprüchlich. In der einen Nummer heißt es: "Die Sünde ist ein Verstoß gegen die Vernunft, die Wahrheit und das rechte Gewissen" (KKK 1849). Im nächsten Absatz heißt es: "Die Sünde ist eine Beleidigung Gottes" (KKK 1850).

Ist das nicht ein gewisser Widerspruch? Zumindest gibt es Einsprüche gegen diese beiden Definitionen. Ein Verstoß gegen die Vernunft, ist das schon Sünde? Hat Sünde nicht immer etwas mit Gott zu tun, mit einem religiösen Zusammenhang? Manche sagen deshalb, im Bereich der Vernunft sollte man gar nicht von Sünde reden. Da redet man vielleicht von Schuld, aber nicht von Sünde. Sünde ist ein ausgesprochen religiöses Wort. Schuld gibt es auch im nichtreligiösen Bereich. Sünde hat immer einen religiösen Klang, hat mit Gott zu tun. Was hat sie im profanen, weltlichen Bereich zu suchen? Dort gibt es schuldig Werden, aber Sünde? Wenn anderseits gesagt wird: Sünde ist eine Beleidigung Gottes, dann sagen manche – es war auch in diesen Tagen wieder zu hören: Man kann doch Gott nicht beleidigen. Gott ist doch unendlich erhaben über das, was wir tun können. Wir können ihm nichts anhaben.

In der Diskussion um ein Karikaturenbuch kam immer wieder diese Frage: Kann man denn Gott, kann man Christus beleidigen? Gott ist erhaben über alle menschlichen Verfehlungen. So kann man fragen: Ist im Grunde Sünde ein "Fehlbegriff", ein Begriff, den wir am besten eigentlich weglassen sollten? Im menschlichen Bereich sollte man von Schuld sprechen und Gott gegenüber eine Beleidigung, das kann es doch gar nicht geben. Gott kann nicht getroffen werden, so wird gesagt. Sollen wir also das Wort Sünde doch sozusagen im Museum der religiösen Versatzstücke ablegen?

Es gibt einen berühmten mittelalterlichen Dialog zwischen einem Abt und seinem Schüler, der auch ein Mönch ist, wo es um die Frage geht: Warum ist Gott eigentlich Mensch geworden? Warum hat Gott seinen Sohn gesandt, dass er Mensch werde? Was konnte Gott bewegen, seinen Sohn in diese Welt zu senden, dass er Mensch werde? In diesem langen Dialog zwischen dem Abt und seinem Mönchsschüler kommt das Gespräch an einer Stelle zum Stoppen. Dann sagt der Abt, es handelt sich um den hl. Anselm von Canterbury (†1109) – am 21. April ist sein Fest, an diesem Tag ist er gestorben –, zu seinem Schüler Boso: "Du hast noch nicht bedacht, welches Gewicht die Sünde hat" (Cur Deus homo I,2).

Es bedarf eines ganz anderen Schrittes, um sich des Gewichts der Sünde bewusst zu werden. Ich lade Sie jetzt ein, dass wir diesen Schritt versuchen, mit dem Herzen, mit dem Glauben. Versuchen wir uns einmal ganz schlicht vor Augen zu halten, was uns der Glaube als Gewissheit sagt, was wir also im Glauben festhalten, auch wenn wir es gefühlsmäßig nicht immer spüren. Im Glauben halten wir fest als eine Tatsache: Die Sünde hat so ein Gewicht, dass sie Gott das Leben gekostet hat. Um unserer Sünden willen ist der Sohn Gottes gestorben. Was die Sünde wiegt, das erschließt sich erst, das ahnen wir erst, wenn wir schauen, welchen Lösepreis, welches Lösegeld Gott dafür zahlen musste, wollte, gezahlt hat, wenn wir bedenken, was Gott der Loskauf von der Sünde gekostet hat. "Du hast noch nicht bedacht, welches Gewicht die Sünde hat", sagt Abt Anselm zu seinem Schüler Boso.

Ich habe am Anfang gefragt, warum in der heiligen Messe so oft die Rede von der Sünde ist. Vielleicht haben wir jetzt schon eine deutlichere Antwort: Weil gerade in der Eucharistie Tod und Auferstehung Jesu gefeiert werden, gegenwärtig werden. "So oft wir dieses Opfer feiern", sagt die Liturgie, "vollzieht sich das Werk der Erlösung" (II. Vatikanisches Konzil, Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium 2). Immer, wenn die Eucharistie gefeiert wird, geschieht, wird das Werk der Erlösung gegenwärtig. Damit wird die ganze Tragweite dessen gegenwärtig, was unsere Sünde Gott gekostet hat. Oder, wir können es jetzt anders sagen: Im Blick auf die Eucharistie, im Blick auf das Kreuz, auf Tod und Auferstehung Jesu wird uns erst die Sünde offenbar.

Vielleicht verstehen wir von daher, warum speziell im Christentum so viel von der Sünde die Rede ist, weil erst durch Christus die Sünde wirklich geoffenbart ist. Vorher konnte man sich noch ein wenig darüber hinwegtäuschen oder zumindest hatte man nicht die ganzen Ausmaße der Wirklichkeit der Sünde erkannt. Erst vom Kreuz her wird sichtbar, was für ein Gewicht die Sünde hat. Meine Sünde, sie hat Gott das Leben gekostet, unser aller Sünde, die Sünde der Welt, das ganze Gewicht der Sünde, das das Lamm Gottes auf sich nimmt.

IV.

Aber das können wir auch jetzt anders noch einmal sagen. Erst wenn uns das Ausmaß der vergebenden Liebe Gottes im Kreuz begegnet, ahnen wir, wie groß, tief, gewichtig, wie schwer unsere Sünden sind. Daher glaube ich, dass wir sagen können und müssen: Christus hat die Realität, das Gewicht der Sünde erst ganz geoffenbart. Vorher ist noch vieles verhüllt geblieben. Aber als Jesus am Kreuz den Geist aushauchte und dann am Ostertag den Jüngern den Geist einhauchte und dann am Pfingstfest den Heiligen Geist über sie ausgegossen hat, da ist die Sünde ganz offenbar geworden. Jesus selber hat es im Abendmahlssaal angekündigt, als er beim letzten Mahl zu den Aposteln gesprochen hat, dreimal redete er von dem Geist, der kommen wird, den er verheißen hat, und beim drittenmal sagte der:

Der Geist, der Tröster, den er senden wird, "er wird die Welt der Sünde überführen" (Joh 16,7f). Das heißt, der Heilige Geist wird erst bewusst machen, offen machen, was für ein Gewicht die Sünde hat. Erst wo Gnade und Vergebung überreich geschenkt werden, kann sich die Wirklichkeit der Sünde zeigen.

Ich möchte ein Beispiel bringen, um das zu verdeutlichen. Eine ganz einfache menschliche Erfahrung zeigt uns, dass es tatsächlich so ist, wie es uns geoffenbart ist. Ein Kind, das nicht geliebt ist, das sich nicht angenommen weiß, wird sich sehr schwer tun, zu seinen Eltern zu gehen, wenn es etwas angestellt hat und das zu sagen. Es wird alle Schuld abstreiten, wird zumachen, abblocken, es wird sich trotzig hinter seiner Unschuld verstecken, diese behaupten, vielleicht andere beschuldigen, aber sicher nicht selber Schuld zugeben.

Ein Kind, das sich geliebt weiß, das aus dieser inneren Sicherheit heraus lebt, angenommen zu sein, gewollt zu sein, wird sich vielleicht auch schwer tun, eine Schuld zuzugeben. Aber es wird nicht diese Blokade da sein. Es weiß, wenn es zur Mutter oder zum Vater geht und zugibt, dass es etwas angestellt hat, dann wird es nicht verstoßen werden, sich nicht abgelehnt finden. Ein Kind, das abgelehnt ist, das mit dieser Ablehnung aufwächst, darf in gewisser Weise, fast möchte ich sagen aus seelischer Hygiene, Schuld gar nicht zugeben, weil es fast so etwas wie seelischer Selbstmord wäre, wenn man sich nicht angenommen weiß. Ein Kind, das sich in der Liebe der Eltern nicht sicher ist, sondern immer am Gängelband gehalten wird: Wenn du brav bist, liebe ich dich, wenn du nicht brav bist, bist du nicht geliebt, ein solches Kind wird auch nicht vertrauen können, seine Schuld einzugestehen. Aber ein Kind, dass sich in der Liebe der Eltern geborgen weiß, kann mit der Schuld offen zu den Eltern gehen. Es wird nicht Ablehnung erfahren, sondern Vergebung.

Nun das erstaunliche, das uns die Erfahrung ja auch beweist: Gerade in solchem Angenommensein wird einem erst die Tiefe der eigenen Schuld wirklich bewusst. Wenn man sich wirklich geliebt weiß von den Eltern, dann tut das Wehtun über die Schuld wirklich weh, weil man merkt, man hat die Liebe verletzt. Je tiefer die Annahme ist, desto größer kann das Bewusstsein der eigenen Schuld werden. Das klingt vielleicht aufs erste überraschend, aber ist es nicht so, gerade dann, wenn die Eltern das Kind nicht mit Vorwürfen überhäufen, ihm Vorhaltungen machen: Warum hast du das getan? Wenn sie ihm mit der Liebe zuvorkommen, ist der Raum eröffnet, dass das Kind auch sein Versagen erkennen und aussprechen kann und dass die heilende Reue geschehen kann, weil es wehtut, denen wehzutun, die man liebt und von denen man sich geliebt weiß.

Jetzt können wir fragen: Ist das nicht der Kern der Frohen Botschaft? Der Apostel Johannes sagt uns: "Er hat uns zuerst geliebt" (Joh 4,19). Nicht, weil wir brav sind, liebt uns Gott, sondern weil Gott uns liebt, können wir auch erkennen, wie armselig wir sind, wie viel in uns Sünde ist. Erst im Licht dieser Liebe erkennen wir überhaupt, welches Gewicht die Sünde hat. Andernfalls müssen wir sein wie ein Kind, das immer abblockt, das immer die andern beschuldigt, das nie etwas zugeben kann aus Angst, abgelehnt, verworfen zu sein.

Es gibt wohl kein Wort des Evangeliums, das so tief diese Wirklichkeit sagt, wie das Wort Jesu zur Ehebrecherin: "Ich verurteile dich nicht. Geh und sündige fortan nicht mehr!" (Joh 8,11). Erst in diesem Raum, wirklich nicht verurteilt zu sein, kann die wirkliche Einsicht in die Sünde kommen. Daher ist immer die Gnade der Sünde voraus. Diese Gnadenerfahrung macht Petrus, als er dem Blick Jesu begegnet. Wir haben diesen Blick nicht gesehen, aber wir glauben ihn und im Glauben haben wir ihn wahrgenommen. Es ist ein Blick, in dem keine Spur von Verurteilung ist, nur die zuvorkommende, alles schenkende und annehmende Liebe. Deshalb weint Petrus bitterlich.

Nachdem Petrus den Herrn in der Nacht des Prozesses dreimal verraten hat, ist er seinem Blick begegnet. Ich glaube, der Blick hat ihm die ganze Tiefe, den ganzen Schrecken seiner Sünde geoffenbart aber untrennbar damit verbunden die Vergebung. Denn nur in dem Maß, wie die Vergebung erkannt wird, kann auch die Sünde erfasst werden. Nur wer dieser Liebe begegnet, beginnt zu ermessen, welches Gewicht die Sünde hat, weil sie ein Nein zu dieser Liebe ist und nicht nur ein Verstoß gegen eine Regel. Der hl. Franziskus sagt: Weil die Liebe nicht geliebt wird. Es ist der Schmerz darüber, dass ich die Liebe nicht geliebt habe.

V.

Ist also Sünde "Beleidigung Gottes"? Hören wir noch einmal den Katechismus: "Die Sünde ist eine Beleidigung Gottes: ‚Gegen dich allein habe ich gesündigt, ich habe getan, was dir missfällt (Ps 51,6). Die Sünde lehnt sich gegen die Liebe Gottes zu uns auf und wendet unsere Herzen von ihm ab ... Die Sünde ist somit ‚die bis zur Verachtung Gottes gesteigerte Selbstliebe‘ (Augustinus, De civitate Dei 14,28)" (KKK 1850). Aber wieso ist dann Sünde auch ein Verstoß gegen die Vernunft, wenn sie doch zuerst und in dem Sinn Beleidigung Gottes ist, dass sie ein Nein zu seiner Liebe ist. Was hat das mit der Vernunft zu tun?

Der hl. Anselm, den ich schon genannt habe, hat in seinem langen Gespräch mit seinem Schüler Boso lange darüber nachgedacht. Er kommt dazu, zu sagen: Alles, was gegen die Ordnung Gottes verstößt, verstößt auch gegen die Vernunft. Denn unsere Vernunft lässt uns ja die Ordnung Gottes erkennen, zumindest bruchstückhaft, die Schöpfungsordnung, die Lebensordnung, die Ordnung des zwischenmenschlichen Zusammenlebens, alles das, was uns unser Verstand, das Licht unserer Vernunft oft sehr deutlich, deutlich genug sagt, um es zu wissen. Ein Verstoß gegen die Vernunft ist ein Verstoß gegen die Ordnung Gottes, die uns die Vernunft zeigt.

Ein Beispiel: Umweltsünde. In diesem Sinn kann man tatsächlich sagen, eine Umweltsünde ist eine Sünde gegen Gott, weil es eine Missachtung der Schöpfungsordnung ist. Diese Schöpfungsordnung ist Ausdruck des Willens Gottes. Wer Gottes Werk verachtet, beleidigt Gott, verstößt gegen Gottes Willen und damit gegen Gottes Liebe. Weil Gott den Menschen, wie die Bibel sagt, als seinen Augapfel betrachtet (Ps 17,8; Sach 2,12), das kostbarste Geschöpf auf Erden, ist die Ausbeutung des Armen, nach dem Zeugnis der Bibel, eine "himmelschreiende Sünde" (KKK 1867). Weil Gott den Menschen schützt, ist ein Verstoß gegen die zwischenmenschliche Ordnung auch ein Verstoß gegen Gott. Die Sünde ist daher immer widervernünftig und beleidigt Gott.

VI.

Wir haben versucht, ein wenig darüber nachzudenken, was das Gewicht der Sünde ist. Aber haben alle Sünden das selbe Gewicht? Ist alles auf einer Ebene? Gibt es nicht Sünden, wie wir das so zu sagen pflegen: das, was so passiert, das Übliche? Hat das das selbe Gewicht wie eine schwere Sünde? Gibt es diesen Unterschied, und was bedeutet er? Ich möchte zum Schluss ein wenig über diesen Unterschied sagen: schwere Sünde – sogenannte lässliche Sünde, und dann auch ein Wort über die Sünde wider den Heiligen Geist, dieses rätselhafte Wort Jesu im Evangelium.

"Du hast noch nicht bedacht, welches Gewicht die Sünde hat." Es kann im Glaubensweg des einzelnen, in unserm persönlichen Glaubensweg auch eine scheinbar ganz kleine Sünde ein immenses Gewicht haben. Es kann in einem kleinen, verächtlichen Blick mir erschreckend das ganze Gewicht der Sünde, die in mir ist, bewusst werden. Trotzdem unterscheiden wir lässliche Sünden und sogenannte Todsünden. Der Katechismus sagt: "Die Todsünde zerstört die Liebe im Herzen des Menschen durch einen schweren Verstoß gegen Gottes Gesetz" (KKK 1855). Sie ist sozusagen ein Bruch in der Lebenslinie hin auf Gott, ein Abbruch des Weges hin zu Gott. Dem gegenüber wäre die lässliche Sünde sozusagen "nur" ein kurzes Abweichen, aber nicht ein grundsätzliches Verlassen des Weges zu Gott.

Aber gibt es das überhaupt wirklich, Todsünde? Wir wissen, früher hat man allzu leicht vieles als Todsünde bezeichnet. Heute haben wir die andere Gefahr, dass man fast nichts mehr als Todsünde empfindet oder bezeichnet. Kann man wirklich von Todsünde sprechen? Die Lehre sagt, zur Todsünde gehören drei Elemente: Erstens, dass es wirklich etwas ganz Schwerwiegendes ist, Mord, schwerer Diebstahl, Ehebruch werden normalerweise genannt, Gotteslästerung, Glaubensabfall, eine schwerwiegende Materie sozusagen.

Aber zwei weitere Elemente gehören dazu, dass man von Todsünde sprechen kann, die volle Erkenntnis, dass es wirklich etwas so Schweres ist, und noch schwieriger die volle Zustimmung, also der volle freie Wille (KKK 1858-1859). Wo kommt so etwas schon vor? Kommt es vor, dass wir im vollen Wissen um die Schwere einer Tat, die uns aus der Liebe Gottes herausnimmt, die uns trennt von Gott, mit voller Zustimmung und voller Klarheit eine solche Sünde tun? Möglich ist es. "Die Todsünde ist wie auch die Liebe eine radikale Möglichkeit, die der Mensch in Freiheit wählen kann" (KKK 1861).

Aber im Katechismus steht auch: Es kann auch Todsünde etwas sein, was durch Herzensverhärtung geschieht (KKK 1859). Wenn wir ins Evangelium schauen, dann ist eigentlich das Erschreckendere nicht so sehr die willentliche, ganz bewusste schwere Sünde, sondern die Unterlassung, das schwere Versäumnis. Der reiche Prasser sieht den Lazarus vor seiner Tür nicht mehr (Lk 16,19-31). Das Erblinden seines Herzens ist das viel Schwerwiegendere als die aktive böse Tat. Im Matthäusevangelium sagt uns der Herr über das Weltgericht: "Ich war krank und du hast mich nicht besucht, ich war arm und du hast mir nicht geholfen, ich war nackt, du hast mich nicht bekleidet – was ihr dem geringsten meiner Brüder nicht getan habt, das habt ihr mir nicht getan" (vgl. Mt 25,42-45). Unterlassungen können schwere Sünden sein. Das Gefährliche daran ist, dass wir sie nicht mehr merken, weil das Herz hart geworden ist.

Die Lässigkeit mit den lässlichen Sünden kann auch zur Verhärtung des Herzens führen. Augustinus sagt: "Falls du sie für harmlos hältst, wenn du sie wägst, zittere, wenn du sie zählst" (Auslegung zum Johannesbrief 1,6). Es mag im einzelnen harmlos sein, eine kleine Lieblosigkeit. Aber viele kleine Lieblosigkeiten können mein Herz hart machen. Darum beten wir vor der Kommunion so inständig: "Lass nicht zu, dass ich jemals von dir getrennt werde", denn um diese Gefährdung muss jeder von uns wissen, die gibt es auch in meinem Leben.

Nun das Entscheidende, die Frage nach der Sünde wider den Heiligen Geist. Jesus sagt: Jede Sünde wird vergeben, jede Lästerung wird vergeben, auch die Lästerung gegen den Menschensohn, gegen Christus. Nicht vergeben wird die Lästerung gegen den Heiligen Geist (Mk 3,29). Was heißt das? Es gibt nur eine Sünde, sagt die hl. Katharina von Siena, die Gott nicht verzeihen kann, zu glauben, dass unsere Sünden größer sind als Gottes Barmherzigkeit, zu glauben, dass das Erbarmen Gottes nicht ausreicht für meine Sünden. Oder anders, wie es der Katechismus sagt: sich absichtlich zu weigern, "durch Reue das Erbarmen Gottes anzunehmen" (KKK 1864). Demgegenüber ist Gott ohnmächtig. Es geht also, ob schwere oder leichte Sünde, um die Reue, um das grenzenlose Vertrauen in die Barmherzigkeit Gottes.

Ich kehre zurück zum Anfang. Was macht die Sünde zur Sünde? Was offenbart uns die Sünde? Erst das Erbarmen Gottes, erst Jesus hat wirklich geoffenbart, warum die Sünde so ein Gewicht hat. Erst wenn wir das erkennen, ahnen wir, dass die Sünde nicht eine Banalität ist. Ich schließe mit einem Wort aus dem ersten Johannesbrief, einem Wort des Lieblingsjüngers, der wirklich wusste, wie groß die Liebe des Herrn ist. Johannes sagt: "Wenn wir sagen, dass wir keine Sünde haben, führen wir uns selbst in die Irre und die Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir unsere Sünden bekennen, ist er treu und gerecht. Er vergibt uns die Sünden und reinigt uns von allem Unrecht" (1 Joh 1,8-9).

(Kardinal Christoph Schönborn)


 


 

 
  









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