Der Ablassbrief
Vor kurzem hat mich ein Jugendlicher
(den ich hier einmal Thorsten nenne)
per eMail nach dem Ablass gefragt.
Ich habe ihm folgenden Brief zurück geschrieben:
Erster Ablassbrief: Die dreifache Folge der Sünde
Lieber Thorsten,
ich kann mir vorstellen, was Du bisher über den Ablass gehört hast: Dass das
eine typisch mittelalterliche Entgleisung der Kirche war: Um Geld zu verdienen,
wurde die Sündenvergebung an die Spende von Geldern für Kirchen, Fürsten und
Päpste gebunden. «Gott sei dank», so heißt es dann oft, «gibt es heute so etwas
nicht mehr. Hätte die Kirche den Ablass schon früher abgeschafft, so gäbe es
heute kein katholisch und evangelisch.»
Um so erstaunter sind die so (gegen den Ablass) Geimpften, dass es den Ablass
bis heute noch gibt. Nicht nur vor dem Papstsegen an Ostern und Weihnachten
(«urbi et orbi») wird verkündet, dass mit dem Segen ein vollkommener Ablass
verbunden ist. Nein, auch mit Heiligen Jahr, dem Besuch von Kirchen und
Wallfahrtsorten, dem Beten oder mit guten Werken usw. sind bis auf den heutigen
Tag in der ganzen Welt Ablässe verbunden. Sind wir etwa immer noch
«mittelalterlich rückständig»?
Lieber Thorsten, hinter dieser Kritik steckt eine ganz große Unkenntnis. Wenn
Dein Religionslehrer behauptet, der Ablass sei heute überholt und gehöre längst
abgeschafft, dann ist das vielleicht seine eigene Meinung, aber nicht die Lehre
der katholischen Kirche. Tatsächlich habe auch ich es an der Universität auch
nicht anders gelernt (auch da wird nicht immer die Lehre der Kirche gelehrt,
sondern manchmal nur die Meinung des einen Professors).
Dabei ist alles gar nicht so kompliziert (bei solchen Worten musst Du immer
etwas vorsichtig sein, es gibt die "großen Vereinfacher", die komplizierte Ding
simpel, aber falsch wiedergeben. Aber, glaube mir, diesmal ist es wirklich
einfach!):
Eine dreifache Unterscheidung
Eine der großen theologischen und menschlichen Stärken der katholischen Kirche
ist es, Unterscheidungen zu treffen. Manchmal sind die äußerst feinsinnig
(manchmal auch etwas zu übertrieben, das kommt vor). So unterscheidet die
Erfahrung der Kirche bei einer Sünde drei verschiedene Folgen: Zwischen
persönlicher Schuld, Schaden und Strafe.
Wenn mir jemand zum Beispiel Geld klaut, macht er sich dreifach schuldig:
Indem er mich als Person missbraucht und dadurch verletzt (personale Schuld),
indem er mir einen materiellen Schaden zufügt (mir fehlt jetzt Geld) und
indem er sich selbst und die Gemeinschaft schädigt. (Strafe)
Bleiben wir dem Beispiel vom Diebstahl. Dir klaut jemand 1000,- DM. Er hat sich
nicht sonderlich klug angestellt, wird erwischt, verhaftet und kommt vor
Gericht. Wenn er sich bei Dir entschuldigt, Dich um Verzeihung bittet, weil es
ihm wirklich leid tut, dass er Dir das Geld genommen hat (denn er findet Dich
ganz nett), dann ist das eine Frage der personalen Schuld. Du kannst ihm
verzeihen, oder auch nicht. Aber egal, was Du tust, es hat nichts mit dem
Gerichtsverfahren zu tun. Das Gericht wird den Fall ganz neutral behandeln, ob
Du ihm jetzt verziehen hast oder nicht.
Das Gericht beachtet nämlich die anderen beiden Aspekte. Der Dieb wird zur
Wiedergutmachung verurteilt: Er muss Dir den Schaden erstatten. (Das wäre ja
auch noch schöner, wenn er das Geld behalten dürfte!). Damit ist der Fall aber
noch nicht erledigt. Denn die Gerichte verurteilen alle Straftäter noch zu einer
zusätzlichen Strafe (ein Bankräuber ist dadurch noch nicht frei, wenn er nur die
Beute zurück gibt). Das hat damit zu tun, dass der Dieb auch noch die
Gesellschaft, sich selbst und die Gerechtigkeit verletzt hat.
Also: Im ganz normalen Leben unterscheiden wir und die deutschen Gerichte immer
die drei Aspekte: personale Schuld, Schaden und Strafe. Keiner hat was dagegen
und alle sind damit einverstanden. Was allerdings im alltäglichen Leben unserem
Rechtsempfinden entspricht, findet die genaue Entsprechung im katholischen
Glauben. In der katholischen Kirche wird die personale Schuld durch Gott in der
Beichte vergeben, die Buße ist ein Zeichen der Wiedergutmachung (und sollte
deshalb auch der Tat entsprechen, also z.B. jemandem Gutes tun, den man zuvor
geschädigt hat) und die Strafe ist ein Ablass-Werk, die Tilgung der Strafe der
Ablass.
Genau wie im richtigen Leben wird als Strafe nicht nur Gefängnisstrafe, sondern
auch Geldstrafe (oft zugunsten einer Hilfsorganisation) oder Sozialstunden
verhängt: Es geht ja darum, dass der Straftäter sich selbst ändert, der
Gesellschaft noch etwas schuldet und sich erneut für die Gerechtigkeit
engagiert. Da haben wir nichts dagegen. Wenn die Kirche das aber tut, dann
schütteln wir den Kopf. Was aber ist denn so schlimm daran, wenn der Ablass
darin besteht, für eine gute Sache zu Geld spenden? Oder eine Wallfahrt machen
(sozusagen religiöse Sozialstunden abzuleisten)?
Nebenbei: Ob wir nun das Gefängnis (in dieser Welt) mit dem Gedanken des
Fegefeuers (in der anderen Welt) gleichsetzen, ist nicht so wichtig. Es gab
früher zwar Ablässe für eine bestimmte Anzahl von Tagen, was sehr an die
Bemessung von Gefängnisstrafen erinnert. Aber erstens sind diese Ablässe
abgeschafft und außerdem wollen wir den Vergleich nicht zuweit treiben.
Lieber Thorsten, es ist so menschlich und entspricht so sehr unserem
Rechtsempfinden, dass es sich bei dieser Dreiteilung (Schuld, Schaden und
Strafe) offensichtlich um etwas Allgemeingültiges handelt, also auch im
religiösen Bereich gilt.
Aber, so könntest Du fragen: «Wofür soll diese Unterscheidung gut sein?»
Ganz einfach: Wir müssen zwischen diesen drei Aspekten der Schuld
differenzieren, weil wir sonst dem Dieb nicht gerecht werden. Schau:
Vergebung - und Wiedergutmachung
Als Christen sollten wir jedem verzeihen, wie Jesus schon dem Petrus gesagt hat,
siebenmal siebenundsiebzigmal (also immer!). Das heißt aber nicht, dass wir uns
immer wieder ausrauben lassen sollen und den Dieben sogar noch die Beute
überlassen, wenn sie sich entschuldigen. Nein, wenn wir zwischen Schuld
verzeihen und Schaden wiedergutmachen unterscheiden, können wir dem Dieb gerecht
begegnen: Wenn er sich entschuldigt, können wir ihm verzeihen (also ihm bei der
nächsten Gelegenheit wieder ganz vertrauen); wir dürfen aber trotzdem darauf
bestehen, dass wir unser Geld wiederkriegen. Wenn der Dieb behauptet, er dürfe
das Geld behalte, wir hätten ihm ja verziehen, dann können wir ihm erzählen,
dass Schuld vergeben und Schaden wiedergutmachen nun einmal zwei verschiedene
Dinge sind.
Wiedergutmachung - und Strafe
Nun macht es aber einen Unterschied, ob der Dieb mir das Geld geklaut hat, um
sich damit einen schönen Tag auf Ibiza zu gönnen, oder ob er es genommen hat,
weil er ungerechterweise erpresst worden ist. Je nachdem, wie schlecht seine
Absicht gewesen ist, bekommt er eine unterschiedliche Strafe. So handeln ja auch
die Gerichte. Es geht ja nicht nur darum, festzustellen, ob der Täter schuldig
ist, sondern auch, warum er es getan hat. Danach legt der Richter das Strafmaß
fest. Einen Anspruch auf Wiedergutmachung hast Du immer, denn es ist ja Dein
Geld, auch wenn der Dieb selber unter Druck gestanden hat. Aber die Strafe kann
ich danach bemessen, ob der Dieb geglaubt hat, nicht anders handeln zu können.
Wenn ich also dem Dieb gerecht werden will, muss ich nicht nur zwischen Schuld
und Schaden, sondern auch zwischen Wiedergutmachung und Strafe unterscheiden.
Diese feinsinnige Unterscheidung der Kirche zwischen Schuld, Schaden und Strafe
ist also nicht etwa überflüssig, sondern notwendig, um dem Täter gerecht zu
werden. Das gilt, selbstverständlich, auch für Gott. Denn Gott will ja auch uns
gerecht werden.
Lieber Thorsten, es ist aber auch gut für Dich als Geschädigten, feinsinnig zu
unterscheiden. Denn wenn Du denkst, Schuld zu vergeben und Schaden hinzunehmen
sei das Gleiche, wird Dir das Christsein nicht nur viel zu schwer fallen,
sondern Du wirst auf Dauer auch verbittern. Du wirst mit Neid auf die
Nicht-Christen schauen, die auf ihr Eigentumsrecht pochen, weil Du glaubst, Du
müsstest einfach alles hinnehmen.
Wenn Du nicht mehr unterscheidest zwischen Wiedergutmachung und Strafe - und die
Strafe nicht mehr an der Gerechtigkeit ausrichtest: Dann kann dagegen Rache
Deinen Verstand benebeln. «Dem werd ich es aber mal zeigen!» Tu Dir das bitte
nicht an! Bewahre Dich vor Neid und Rache, Verbitterung und Vergeltung.
Unterscheide lieber und werde Dir, dem Sünder und Gott gerecht.
Die Verbannung des Ablasses aus dem kirchlichen Denken führt nicht, wie Dir dein
Religionslehrer gesagt hat, zu einer größeren Gerechtigkeit. Ohne den Ablass und
der Erkenntnis, die dahinter steht, wird unser Glaube ärmer an Gerechtigkeit.
Lieber Thorsten, Du willst Medizin studieren und nicht Theologie; vielleicht
sind diese Gedanken deshalb nicht ganz «Dein Ding». Aber wenn wir die Schuld des
Menschen in seinen drei Schattierungen ernst nehmen, ist das sozusagen
«Psycho-Hygiene», also doch wieder etwas Medizinisches, zumindest im weitesten
Sinn. Außerdem sollte jeder gute Mediziner auch in verwandte Gebiete der Medizin
hineinschnuppern... und die Theologie gehört mit Sicherheit dazu, immerhin
beschäftigt sie sich genauso wie die Medizin mit dem Heil der Menschen.
Okay, ich bin gespannt, was Du von meinen Überlegungen hältst. Ich wünsche Dir
auf jeden Fall alles Gute - und Gottes Segen (schadet nie!).
Dein Peter.
Ein paar Jahre später hat mir Svenja (wieder eine Medizinstudentin) eine weitere
eMail zu dem Thema "Ablass" geschickt und gefragt, warum Gott denn die Strafe
nicht einfach erlässt - wenn er uns liebt. Ich habe mich entschlossen, die
Antwort hier anzufügen - als "zweiten Ablassbrief" sozusagen.
Ein zweiter Ablassbrief: Wofür der Ablass gut ist
Liebe Svenja,
danke für Deine Mail. Beim Lesen des Artikels über den Ablass hast Du bemerkt,
dass der Brief an "Thorsten" nicht vollständig ist. Das ist richtig; diesen
"Thorsten" gab es wirklich (wenn auch mit anderem Namen - aber Deinen Namen habe
ich ja auch geändert) und auch der Brief an ihn war echt - deshalb wollte ich
ihn nicht nachträglich verändern.
Ich habe zwar die Strafe im Strafrecht mit dem Ablass im Religiösen verglichen;
aber ich habe nicht gefragt, wofür die Strafe denn gut ist. Natürlich ist sie
erst einmal (neben der Verzeihung und der Wiedergutmachung) ein Mittel, um die
Motivation des Täters zu bewerten:
Hat der Täter selbst aus Not gehandelt (oder glaubte er, etwas Gutes zu tun) so
braucht er zwar auch Verzeihung und muss auch Wiedergutmachung leisten - aber er
wird wahrscheinlich eine milde Strafe oder auch gar keine Strafe bekommen. Hat
er aber genau die gleiche Tat aus reiner Böswilligkeit begangen, wird er eine
sehr viel härtere Strafe bekommen - und hat sie ja auch verdient. Und das,
Svenja, ist auch bei Gott so. Er verzeiht nicht einfach so - wenn wir wirklich
böse waren und Böses gewollt haben, dann haben wir eine Strafe verdient, auch in
den Augen Gottes. Vermutlich ist es sogar so, dass wir selbst erst vor Gott
treten wollen, wenn wir die entsprechende Strafe erlitten haben.
Das wird ein wenig einleuchtender, wenn wir fragen, was denn eine "Strafe"
überhaupt ist. Nun, ein Gerechtigkeitsmodell ist das "Verursacherprinzip": Jeder
soll die Folgen tragen, die er selbst verursacht hat. Wer Schmerz verursacht,
soll auch den Schmerz selbst erleiden. Das alte Prinzip "Aug um Aug, Zahn um
Zahn" ist also gar nicht so schlecht: Dahinter steckt der Gedanke, dass es
gerecht ist, wenn jemand das Leid, dass er anrichtet, auch selbst spürt.
Oft ist das automatisch so: Wer ständig lügt und das Vertrauen anderer
missbraucht, der wird irgendwann nicht mehr vertrauenswürdig sein - und seine
Freunde verlieren. Das ist der Weg, auf dem er begreift, dass er sich ändern
muss.
Leider funktioniert das nicht immer: Viele Menschen leben auf Kosten anderer -
und es geht ihnen gut dabei. Gerecht ist das nicht.
Die Strafe versucht also, die Gerechtigkeit wiederherzustellen, indem eine
ausgleichende Instanz (z.B. der Staat, ein Gericht - oder auch Gott) das
Verursacherprinzip wiederherstellt. Gottseidank geht es nicht mehr nach dem
einfachen Prinzip "Aug um Aug...", sondern wir sind da sehr viel humaner und
sozialer - ganz zu schweigen von Gottes genialen Wegen, uns zu bekehren.
Wenn Du ehrlich nachdenkst oder "nachfühlst", dann kannst Du verstehen, dass
jemand, der seine Schuld einsieht und begreift, was er angerichtet hat, sehr
wohl wünscht, er könne die Folgen seiner Tat selber tragen und dadurch anderen,
denen er Leid zugefügt hat, seine Reue zeigen.
So ist auch Gott: Er weiß, dass das Ertragen des selbst angerichteten Leids
letztlich unserer eigenen "Psychohygiene" entspricht. Eine Strafe ist dabei
nicht immer etwas Feindliches; wer begreift, was er getan hat, kann sogar eine
Strafe wünschen und sie als Akt der Liebe annehmen.
Der Ablass ist also keine Strafe, die Gott verhängt, weil er sauer auf uns ist.
Der Ablass ist der Versuch, selbst zu tragen, was wir verursacht haben -
sozusagen ein Akt der Reinigung.
Wenn Du z.B. wirklich Böses getan hast und Du es bereust und den Schaden
wiedergutgemacht hast, bleibt immer noch der Wunsch, das verursachte Leid selbst
zu spüren und zu ertragen; mit der Verzeihung ist also nicht gleichzeitig der
Erlass der Strafe gemeint. Ein Beispiel: Ich bin Lehrer und erfahre es genauso:
Wenn ich bei einer bestimmten Sache (zum Beispiel das Abschreiben von
Hausaufgaben) immer eine gerechte Strafe verhänge, aber bei einem Schüler
plötzlich sage: "Ist o.k." und nichts tue, wird dieser Schüler, wenn er ehrlich
mit sich selbst ist, das "nicht-Bestraftwerden" als ungerecht empfinden.
Und für Dich als angehende Medizinerin ist vielleicht auch interessant, das
bestimmte Formen der Autoagression (vor allem das Zufügen von Schnittwunden)
durch einen Selbstbestrafungsmechanismus verursacht wird - auch, wenn die Schuld
oft nur eine subjektive und eingebildete Schuld ist. Dieser Gedanke, dass
schlechte Taten auch selbst gespürt werden müssen, sitzt sehr tief in der Psyche
des Menschen; eine Behandlung geht in solchen Fällen fast nur über die
Schuldbewältigung.
Allerdings gilt: Gott verzeiht uns - und in seinem Sohn hat Jesus auch unsere
Strafe erlitten. Dadurch sind wir davon befreit, alle Konsequenzen unseres Tuns
wirklich 1 : 1 ertragen zu müssen. Weil die Strafe (also die Konsequenz) unserer
Gottlosigkeit eigentlich der Tod wäre, hat Gott uns davor bewahrt. Uns bleibt
aber noch der Anteil, den wir tragen können. Davon will Gott uns nicht befreien,
weil er uns liebt.
Liebe Svenja, ich hoffe, Dir damit ein wenig geholfen zu haben. Ich gebe zu, das
Thema ist nicht so einfach; vor allem gehört dazu wirklich viel
Einfühlungsvermögen in die Gedankenwelt eines Menschen, der schwer unter seiner
Schuld leidet.
Ich wünsche Dir für Dein Studium, dass Du viel von diesem Einfühlungsvermögen
hast! Gott segne Dich - Dein Peter.
(http://www.karl-leisner-jugend.de/Ablass.htm)
Siehe auch Johannes Paul II: Der Ablass