Liebe junge Christen!
1. Es gibt keinen Menschen auf Gottes weiter Erde, der
so viele junge Menschen auf die Beine bringt wie unser Heiliger Vater
Papst Johannes Paul II. Auch wenn er am Stock geht und gestützt werden
muß, sein Herz ist von einer Weite, Offenheit und Jugendlichkeit, daß sich
jeder von uns, ob alt oder jung, ob klein oder groß, ob schwarz oder weiß,
von ihm verstanden, akzeptiert und angenommen weiß. Weil das so ist,
erfahren wir uns aber auch untereinander als Schwestern und Brüder, als
Menschen, die zusammengehören und durch Taufe und Firmung miteinander
verwandt sind. Das schönste Geschenk von Toronto besteht darin, daß wir
dem Heiligen Vater begegnen und daß wir einander begegnen.
Das schönste Geschenk, das ihr für andere nach Toronto
mitgebracht habt, ist, daß ihr euch selbst hierhergebracht habt. Denn der
Christus im anderen ist immer gewisser als der Christus in mir selbst. Ich
brauche den anderen für meine eigene Christusvergewisserung. Oder anders
gesagt: Das Wort, das mir helfen kann, kann ich mir nie selbst sagen, es
muß mir immer von einem anderen gesagt werden. Darum ist das Wort Christi,
das in uns lebt, nicht nur für uns da, sondern ganz besonders für den
anderen. Daher schulde ich ihm das Wort Christi und muß es ihm zusprechen.
Wir begegnen uns hier in Toronto als Schwestern und Brüder, die das Wort
des Heiles für den anderen in sich tragen. Und darum sollten wir uns immer
mit der unausgesprochenen Bitte auf den Lippen begegnen: »Und sprich nur
ein Wort, so wird meine Seele gesund.« Also: Dein Glaube ist nicht dein
Glaube, dein Glaube ist mein Glaube, und mein Glaube ist nicht mein
Glaube, mein Glaube ist dein Glaube. Den wollen wir uns in diesen Tagen
und in dieser Stunde jetzt zusprechen, zuhandeln und zubeten.
2. Die Kirche hat nichts aus sich selbst und nichts für
sich selbst. Alles, was sie hat, hat sie von Jesus Christus und hat sie
für die Menschen. Das wollen die beiden biblischen Bildworte von uns als
Gliedern der Kirche aussagen: »Ihr seid das Salz der Erde …«, und »Ihr
seid das Licht der Welt.« Salz hat keinen Sinn für sich selbst, sondern
Salz wird nur sinnvoll, wenn es in die Weltsuppe hineingerührt wird, um
dem Ganzen Würze zu geben und damit Geschmack und zum Appetit anzuregen.
Das ist eine der wichtigsten Aufgaben, die wir gerade als junge Christen
haben. Wir müssen anderen Geschmack an Gott machen. Sie müssen eigentlich
durch unser Leben selbst Appetit auf Gott bekommen. Und wer einmal Gott
gekostet hat, der kommt nicht mehr von ihm los. Denn Gott schmeckt immer
nach mehr. Wer Gott gekostet hat, der verliert alle Geschmacklosigkeit,
alle Appetitlosigkeit, alle Abgeschmacktheit an Gott. Der hat immer
Appetit auf Gott und kann an Gott gar nicht satt werden.
Gott ist wirklich unser Lebenselement. »In ihm leben
wir, bewegen wir uns und sind wir« (Apg 17, 18). »Kostet und seht,
wie gut der Herr ist«, ruft uns der Priester bei der heiligen Messe vor
dem Kommunionempfang zu. Darum geht es in diesen Tagen in Toronto: Gott zu
schmecken, an seiner Welt Geschmack zu finden, dem Leben der Mitmenschen
Würze zu geben und ihnen Appetit auf Gott zu machen.
Das Lichtwort erinnert uns daran, anderen zu leuchten,
sonst hätte es überhaupt keinen Sinn. »So soll euer Licht vor den Menschen
leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel
preisen« (Mt 5, 16), sagt Christus. Unser Leben soll ein solches
Licht für die anderen sein, damit es ihre Herzen erleuchtet und ihre Augen
für Gott öffnet. Diese Leuchtmöglichkeit unseres Lebens ist nichts anderes
als unser Beispiel. Das Beispiel, das wir geben, hat eine gewaltige
Verantwortung, viel größer als die des Wortes. Das Wort kann man annehmen
oder ablehnen, hören wollen oder nicht. Wir alle haben schon erlebt, wenn
wir irgend jemandem einmal gut zugeredet haben, unsere besten Kräfte dabei
einsetzten und der andere dann vielleicht trotzdem noch hartnäckiger
geworden ist. Wenn man auf jemanden einredet, dann kann so leicht die
Trotzreaktion kommen: »Nun erst recht nicht!«
Ganz anders ist die Wirkung des Beispiels. Sie ist viel
feiner, stiller und tiefer. Ohne daß man es merkt, wirkt es auf die Seele
des anderen ein. Ohne daß wir es selber merken, empfangen wir die
Eindrücke vom Beispiel des anderen. Wir müssen es nur einmal in den
Kleinigkeiten des täglichen Lebens beobachten. Wenn wir viel mit jemandem
zusammen sind, so dauert es gar nicht lange, dann haben wir seine Art des
Sprechens, seine Art sich zu geben, seine Art zu denken angenommen. Wie
nimmt doch der Mensch so gern die guten Züge des anderen an, und nach
Jahren erst kommt es einem selbst zum Bewußtsein: Ja, das habe ich von dem
und das habe ich von jenem angenommen. Und weil das so ist, hat das
Beispiel eine ganz unheimliche Gewalt, denn es wirkt, ob du willst oder
nicht. Du bist kein schlechter Mensch, willst auch kein schlechter Mensch
sein; glaube mir, läßt du dich einmal gehen, und es wird von einem anderen
bemerkt, dann wirkt das in seiner Seele nach, ob du willst oder nicht,
vielleicht Jahre lang.
Dieses Apostolat des Beispiels mußt du üben, ob du
willst oder nicht, wie etwa der Priester sein Priestertum. Selbst wenn er
abfällt, bleibt doch das unauslöschliche Merkmal seiner Weihe. Du kannst
tun, was du willst, du bist ein Priester und gibst Beispiel, ein gutes
oder ein schlechtes, je nachdem, wie du handelst. Du mußt Licht sein, oder
du bist Finsternis. Wenn du über die Straße gehst und von anderen gesehen
wirst, wirkt das auf die anderen, ob du willst oder nicht.
Diese Wirkung auf die anderen, Beispiel genannt, meint
das Wort: »Ihr seid das Licht der Welt.« Das Licht muß immer leuchten, ob
es will oder nicht. Es darf nur kein Irrlicht sein, das auf die Holzwege
lockt, sondern das helle Licht, das uns auf die Wege Gottes führt.
Abschließend können wir also sagen:Christ ist man immer für andere, so wie
es den Menschen nie ohne den Mitmenschen gibt, so gibt es auch den
Christen nie ohne den Mitchristen. Alles, was du hast, hast du von einem
anderen und für andere, wie die Kirche. Du bist Salz, und du bist Licht.
Diese Gegebenheit macht uns die Apostelgeschichte
deutlich im 8. Kapitel 26. bis 40. Vers: »Die Taufe des Äthiopiers: Ein
Engel des Herrn sagte zu Philippus: Steh auf und zieh nach Süden auf der
Straße, die von Jerusalem nach Gaza hinabführt. Sie führt durch eine
einsame Gegend. Und er brach auf. Nun war da ein Äthiopier, ein Kämmerer,
Hofbeamter der Kandake, der Königin der Äthiopier, der ihren ganzen Schatz
verwaltete. Dieser war nach Jerusalem gekommen, um Gott anzubeten, und
fuhr jetzt heimwärts. Er saß auf seinem Wagen und las den Propheten
Jesaja. Und der Geist sagte zu Philippus: Geh und folge diesem Wagen.
Philippus lief hin und hörte ihn den Propheten Jesaja lesen. Da sagte er:
Verstehst du auch, was du liest? Jener antwortete: Wie könnte ich es, wenn
mich niemand anleitet? Und er bat den Philippus, einzusteigen und neben
ihm Platz zu nehmen. Der Abschnitt der Schrift, den er las, lautete: ›Wie
ein Schaf wurde er zum Schlachten geführt; und wie ein Lamm, das
verstummt, wenn man es schert, so tat er seinen Mund nicht auf. In der
Erniedrigung wurde seine Verurteilung aufgehoben. Seine Nachkommen, wer
kann sie zählen? Denn sein Leben wurde von der Erde fortgenommen.‹ Der
Kämmerer wandte sich an Philippus und sagte: Ich bitte dich, von wem sagt
der Prophet das? Von sich selbst oder von einem anderen? Da begann
Philippus zu reden, und ausgehend von diesem Schriftwort, verkündete er
ihm das Evangelium von Jesus. Als sie nun weiterzogen, kamen sie zu einer
Wasserstelle. Da sagte der Kämmerer: Hier ist Wasser. Was steht meiner
Taufe noch im Weg? Da sagte Philippus zu ihm: Wenn du aus ganzem Herzen
glaubst, ist es möglich. Er antwortete: Ich glaube, daß Jesus Christus der
Sohn Gottes ist. Er ließ den Wagen halten, und beide, Philippus und der
Kämmerer, stiegen in das Wasser hinab, und er taufte ihn. Als sie aber aus
dem Wasser stiegen, entführte der Geist des Herrn den Philippus. Der
Kämmerer sah ihn nicht mehr, und er zog voll Freude weiter. Den Philippus
aber sah man in Aschdod wieder. Und er wanderte durch alle Städte und
verkündete das Evangelium, bis er nach Cäsarea kam.«
3. Der Heilige Geist macht den Menschen Beine. Darum
ist es nicht von ungefähr, daß die erste Bezeichnung für Christen im Neuen
Testament heißt: »Anhänger des neuen Weges« (Apg 9, 2). Wege müssen
gegangen werden. Darum sind unsere Füße die einzigen Körperteile, die eine
christliche Bezeichnung erhalten haben: pedes apostolorum – apostolische
Füße. Die Heilige Schrift kennt keine sitzende Kirche, sondern nur eine
Geh-hin-Kirche. In unserer Erzählung drückt sich das Lebensgefühl und die
Erfahrung einer Kirche im Vormarsch aus, die ihren Glauben ohne Scheu zu
bezeugen wußte, die sich vom Ruf Gottes erfaßt und geleitet fühlte und der
es gelang, einflußreiche und mächtige Persönlichkeiten zu gewinnen und
über sie ganze Gruppen von weniger einflußreichen zu Jesus Christus zu
führen.
Hier trifft uns – meine ich – das Schriftwort bis ins
Herz. Wir fühlen uns mit unserem Glauben heute in die Verteidigung
gedrängt, ja zum Rückzug verurteilt. Uns drängt es eigentlich nicht mehr,
unsere Zeitgenossen zu fragen: »Versteht ihr eigentlich, was ihr da mit
eurem Leben macht und tut?« Wir sind eher froh, wenn uns keiner mehr
fragt, was wir mit unserem Leben anstellen. Die jüngere Generation – so
sagt man, also ihr – hat eine Art, nach dem Tun und Lassen der Älteren zu
fragen, nach den Begründungen ihres Denkens und Handelns, die die Älteren
oft in Furcht versetzt. Ihre Verlegenheit versuchen sie damit zu
überspielen, daß sie sich den Jüngeren gegenüber auf die größere
Lebenserfahrung berufen und etwa sagen: »Das könnt ihr jetzt noch gar
nicht verstehen, ihr seid noch viel zu jung dazu.« Aber in Sachen Glauben,
Leben und Lieben gibt es keine verantwortungsfreie Zeit der Probe, hier
ist immer gleich Ernstfall, ob ich 1, 20 oder 30 Jahre alt bin. Und darum
haben auch gerade junge Leute etwas Wichtiges zu sagen im Hinblick auf den
Glauben. Der Papst jedenfalls nimmt das Glaubenszeugnis junger Menschen so
ernst, daß er alle zwei Jahre Jugendliche aus aller Welt zum Welttreffen
der Jugend einlädt.
4. Wir tun sicher gut daran, diesen großen Unterschied
zwischen der apostolischen Zeit damals und heute nicht einfach zuzudecken
oder ihn zu überspielen, als wäre alles noch so wie damals. Aber wir täten
auch nicht gut daran, zu lamentieren und zu meinen, solche Zeichen eines
Erwachens im Glauben, eines neuen Pfingstens, eines geistlichen Aufbruchs
wären vorüber. Wir sollten lieber in aller Hochherzigkeit und inneren
Bereitschaft die Wahrheit dieses Glaubenszeugnisses der Heiligen Schrift
an unser Herz heranlassen und prüfen, ob sie uns nicht doch etwas
Wesentliches zu sagen hat.
Es sieht so aus, als ob unsere Zeitgenossen heute an
religiösen Fragen überhaupt nicht mehr interessiert seien. Die
Diesseitigkeit scheint den Menschen so gefangengenommen zu haben, daß er
für alles, was darüber hinaus geht, keinen Sensus mehr hat. Aber ist das
wirklich so, daß die Mehrheit der Menschen heute von Glaubensfragen nicht
mehr berührt wird und die Frage des Philippus: »Verstehst du auch, womit
du da beschäftigt bist?« überflüssig geworden wäre?
Als der schreckliche Amoklauf im Gutenberg-Gymnasium in
Erfurt stattfand, dem fast 20 junge Menschen zum Opfer gefallen sind, da
liefen die Menschen nicht fassungslos in die Bars oder in die Discos,
sondern sie rüttelten an den verschlossenen Türen der Kirchen, als wollten
sie sagen: »Macht uns auf, wir bekommen nirgendwo eine Auskunft über das
unbegreifliche Geschehen als vielleicht noch in der Kirche.« Und so haben
Tausende von Erfurtern, junge und alte, tagelang die Kirchen belagert,
haben Kerzen angezündet und Blumen niedergelegt und in die Stille der
Kirche hineingelauscht, um eine Antwort zu bekommen auf das unbegreifliche
Geschehen, das in der Schule passiert ist.
5. Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß sich auch im
alltäglichen Leben sehr viele Menschen mit Fragen herumschlagen, von denen
sie gar nicht wissen oder nicht wahrhaben wollen, daß es letztlich
religiöse Fragen sind, Fragen nach Gott.
Indem wir so etwas erfahren und ahnen, empfangen wir
einen solchen Anruf des Geistes Gottes wie Philippus, den der Engel des
Herrn auf die Straße nach Gaza schickte. Ich bin davon überzeugt, von zehn
Menschen, die wir heute auf den Straßen unserer Städte und Dörfer treffen,
sind sechs, sieben oder acht auf dem gleichen Weg wie der äthiopische
Regierungsbeamte, nämlich auf dem Rückweg von der Welt Gottes, von der
Welt des Glaubens, auf dem Rückzug von der Kirche in ein sogenanntes
religionsloses Dasein zurück. Aber sie buchstabieren alle am Sinn ihres
Lebens herum, so wie der Äthiopier in seinem Wagen an der Jesaja-Rolle
herumbuchstabierte. Er erhielt keine Antwort, weil niemand ihm half, eine
solche Antwort zu finden. Sie brauchen jemanden, der an ihre Seite tritt
mit der Auskunft eines ganz persönlich gelebten Glaubens. Für viele
Menschen wird Jesus Christus ein papierener, gemalter, geschnitzter,
gemeißelter Christus in feierlichen Kirchenräumen und Museen bleiben, wenn
nicht wir alle ihn auf die Straße der Ratlosen und Enttäuschten bringen,
ihm nicht unsere Hände und Füße, unser Gesicht und unsere Stimme leihen,
damit er als der heute Lebendige, als der heute die Menschen Verwandelnde
reden kann.
6. Freilich ist das nicht ganz leicht. Aber das Wort
der Schrift macht Mut und sagt uns, daß es geht und wie es geht und warum
es geht. Es braucht zunächst nicht das totale Engagement eines
hauptberuflichen Christentums, um Gottes Anruf gehorsam zu beantworten.
Ein kleines Stück Weggenossenschaft mit einem anderen kann schon viel,
kann vielleicht alles bedeuten. Wir lassen uns manchmal nicht auf die
Probleme eines anderen Menschen ein, weil wir meinen, sie für ihn lösen zu
müssen. Vielleicht genügt es schon, wenn wir ihm nur ein wenig zuhören,
ein wenig mitdenken, oder es reicht schon die Wohltat, daß sich einer in
seine Lage hineinversetzt, sozusagen in seinen Lebenswagen mit
hineinsteigt und seine Fragen ernst nimmt, das heißt dort anfängt
mitzudenken und mitzufahren, wo der andere steht oder sitzt.
7. Unsere Antwort muß auch nicht ganz vollständig sein.
Wir wissen gar nicht, wie lange Philippus mit dem Äthiopier unterwegs war,
aber ich glaube kaum, daß er eine vollständige Theologie an den Mann
bringen konnte, selbst wenn er sie gehabt hätte. Zeugenschaft für Jesus
Christus braucht nicht zuerst eine hoch gerüstete Christologie, sondern
zuerst etwas viel Wichtigeres: Sie braucht immer einen Deckungspunkt im
eigenen Leben, und sei es nur ein einziger ganz kleiner Deckungspunkt.
Kinder z.B. brauchen gar nicht einen theologisch hoch gebildeten Vater.
Aber wenn er ihnen auch nur an einer einzigen Stelle einmal klar machen
kann, warum sein ruhiges und freundliches Verhalten gegenüber einem
aufgeregt schimpfenden Nachbarn etwas mit seinem Glauben an Jesus Christus
zu tun hat, warum der Blick auf Jesus Christus ihm kein anderes Benehmen
erlaubt, so werden sie das ganz sicher nicht vergessen. In diesem Sinne
muß es im Leben eines Christen immer etwas geben, das es nur deshalb gibt,
weil es Jesus Christus gibt.
Als Bischof von Berlin ist mir das einmal sehr deutlich
vor Augen gestellt worden. Ich hörte, daß eine Familie eine schwer
nervenkranke Verwandte bei sich aufgenommen hatte, sodaß die Frau und
Mutter nicht mehr mitarbeiten konnte, was in der früheren DDR
lebensnotwendig war. Als ich das hörte, steckte ich mir Geld in die Tasche
und wollte dort das Familienbudget etwas auffrischen. Als ich damit ankam,
sagte mir die tapfere Frau: »Herr Kardinal, behalten sie Ihr Geld. Das tue
ich nur deshalb, weil es Jesus Christus gibt. Das kann man gar nicht mit
Geld bezahlen!« Ein kurzes, alle großen Worte vermeidendes Gespräch
darüber, wie wir mit Jesus Christus im Alltag leben, wird viele
theoretische Erörterungen aufwiegen. Denn überall, wo die Person Jesu
Christi mit einem Wort oder einer stillen, selbstverständlich vollbrachten
Tat im wirklichen und alltäglichen Leben zum Stehen kommt, da steht sie
ganz und gar und beginnt ihr mächtiges Eigenleben zu leben. Diese kleine
Münze alltäglicher Vergegenwärtigung ohne großes Tamtam wird zu dem Licht,
das die Menschen erleuchtet, und wird zu dem Salz, das den Menschen
Geschmack an Gott schenkt. Und ich sage es noch einmal: Dieser Gott
schmeckt immer nach mehr.
8. Daß Gott ist, steht für uns Christen außer Frage.
Aber diese Erkenntnis genügt nicht. Der Christ ist von seiner Berufung her
Zeuge und nicht Theoretiker. Mit einem theoretischen Glauben ist nichts
auszurichten, und gegen eine rein theologische Christlichkeit sind die
Heiligen energisch zu Felde gezogen. Das Wirken des Heiligen Geistes ist
darauf gerichtet, daß das Himmlische die Seele des Irdischen wird, das
Ewige die Seele des Zeitlichen. Das Evangelium ist nicht eine Konserve,
sondern Sauerteig, der in das alltägliche Leben eingebracht werden muß. Es
ist die Prise Salz, die man nicht neben die Suppenschüssel stellt, sondern
in die Suppe hineinstreuen muß, damit sie schmackhaft wird. Eine Religion,
die nur aus klugen Reden und Kritisieren besteht, ist ein hohles und
leeres Gespenst. Saint-Exupéry schreibt: »Man kann nicht leben von
Eisschränken, von Politik, von Bilanzen und Kreuzworträtseln. Man kann es
einfach nicht.« »Der Geist ist es, der lebendig macht, das Fleisch nützt
nichts« (Joh 6, 63), sagt der Herr. Die Welt braucht ein herzhaftes
Christentum, das eine innere Kraft hat, die aus dem vereisten Boden
gesellschaftlicher Wirklichkeit Keime des Lebens hervorbringt. Glaube und
Leben bilden eine unzertrennbare Einheit. Der Trennung von beiden stellen
wir ein eindeutiges Nein entgegen. Dazu sind wir in Dienst genommen. Es
ist nicht fair, den Zustand der Welt zu beklagen, denn nicht die Welt hat
den Geist Gottes empfangen, sondern wir haben ihn für die Welt empfangen.
9. Das Christentum ist noch nie weitergegeben worden
durch Propaganda oder Reklame, sondern immer nur gleichsam durch
Ansteckung. Hier möchte ich als Ergänzung noch einmal zwei wichtige Bilder
anführen und die beiden Bildaussagen vom »Salz der Erde« und »Vom Licht
der Welt« ergänzen. Das eine Bild ist der Physik entnommen: Wer mit
radioaktiver Materie in Berührung kommt, der wird selbst radioaktiv
angesteckt. Und wer dann mit einem Radioaktiven in Kontakt kommt, der wird
dann seinerseits radioaktiv belastet und angesteckt. Jetzt wenden wir
dieses Bild ins Positive: Wer mit Jesus Christus in Berührung kommt, wird
christoaktiv. Und wer dann mit einem solchen Christoaktiven in Kontakt
kommt, der wird seinerseits christoaktiv. Wir brauchen in der Welt solche
christoaktiven Menschen nicht um unsertwillen, sondern um der Menschen
Willen, damit sie den Sinn ihres Daseins begreifen. Das Weltjugendtreffen
in Toronto hat den Sinn, daß wir als Weltjugend hier christoaktiv werden
und dann mit unserer Christoaktivität junge Menschen in aller Welt damit
anstecken.
Oder nehmen wir ein anderes Bild: Die Menschen drängten
sich um die Person Jesu, um mit ihm in körperlichen Kontakt zu kommen,
weil von ihm eine Kraft ausging, die alle heilte. Und wenn es nur der Saum
seines Gewandes von hinten war, die Berührung machte sie heil (vgl. Mt
14, 38). Nach der Erhöhung des Herrn gehen die Apostel zum
Gebetsgottesdienst in den Tempel von Jerusalem, die Bewohner der Stadt
legen ihre Kranken an die Straßen, die zum Tempel führen, damit wenigstens
der Schatten der Apostel sie berühre, denn es ging von ihrem Schatten eine
Kraft aus, die alle heilte (vgl. Apg 5, 15). Wir sind ermächtigt
und begnadet, für andere solche heilenden Schattenspender zu sein:für
unsere Familien, für unsere Nachbarschaft, für unsere Gemeinde, für unsere
Freunde, für unsere Schulklasse, für unseren Verband, vielleicht für arme
und kranke Menschen.
Der Christ ist nicht ein armer Habenichts, sondern er
ist beschenkt, um andere zu beschenken. Der Apostel Paulus sagt: In ihm
sind wir in allem reich geworden (vgl. 1 Kor 1, 5). Darum vergeßt
nicht: Ihr seid das Salz der Erde, ihr seid das Licht der Welt. Alles, was
wir haben, haben wir von einem anderen: von Jesus Christus, und alles, was
wir haben, haben wir für andere: für die Menschen. Salz gehört in die
Weltsuppe, damit es ihr die nötige Würze, den nötigen Geschmack verleiht.
Das Licht gehört auf den Leuchter, damit es allen leuchte und niemand in
der Finsternis umkomme, so wie es in einem Kanon heißt:
In der Welt ist’s dunkel,
leuchten müssen wir,
du in deiner Ecke,
ich in meiner hier!
Amen.
Joachim Kardinal Meisner
Erzbischof von Köln