Der Apostel auf dem Kreuzweg



Leiden, was am Leiden Christi noch fehlt –
Ein Abriss der paulinischen Theologie -
Von Professor Klaus Berger /
Die Tagespost



Paulus lebt sein Evangelium. So gilt: Dieser Mann ist seine Botschaft. Alles, was er lehrt, stellt er persönlich selbst dar. Daher kann man nur sagen: Aussehen täuscht. Anders als fast alle denken, gibt es hier nicht die Kluft zwischen abstrakter Theologie und dem wenig rühmlichen Handelsreisenden in Sachen Evangelium. Es gibt nicht auf der einen Seite die steile Spekulation, die auch heute kaum einer versteht, und auf der anderen Seite den mehr oder weniger erbaulichen Märtyrer. Diese Zweiteilung zwischen Theologie und Leben bei Paulus hat sich seit Augustinus, Peter Abälard, Luther und Barth eingeschlichen. Diese ganz gewiss bedeutenden Theologen sahen in Paulus vor allem den Theologieprofessor, einen wie sie selbst es waren. Insbesondere Rechtfertigung und Prädestination (Vorherbestimmung) hat man verselbstständigt gegenüber Paulus als dem Heiligen. Daher tun wir uns bis heute schwer damit, Paulus als Heiligen zu verehren, als Fürbitter anzurufen. Das scheint bei Petrus, dem volkstümlichen bekehrten Sünder, ganz anders. Wie gesagt, es scheint.

Eine emotional vorgetragene Hoffnung für sein Volk

Ich habe den Eindruck: Wer nicht die Einheit von Mensch und Botschaft bei Paulus begreift, wird ihm fremd bleiben. An zwei Punkten möchte ich das darstellen. Der erste heißt „Prädestination“. Und damit meint man die dogmatische Lehre von der umfassenden, planvollen Organisation von Gottes Heilsgeschichte, in der die Menschen entweder Marionetten oder Mitspieler sind. Je nach Konfession ist da die Antwort verschieden. Diese heftig umstrittene Lehre ist recht aktuell, da auch heute wieder die menschliche Freiheit heftig bezweifelt wird. Aber diese lohnende Frage hat man unglücklicherweise anhand der Kapitel 9–11 des Römerbriefes zu beantworten versucht. Und da geht es Paulus überhaupt nicht um einen dogmatischen Traktat, sondern um seine sehr persönliche, sehr emotional vorgetragene schmerzvolle Hoffnung für sein Volk. Seit der heiligen Edith Stein wissen wir wieder neu, was es bedeutet, wenn christlich gewordene Juden an ihr Volk denken („Ich gehe für mein Volk“). Und für Paulus in Römer 9–11 gilt der Grundsatz: Sage mir, was deine tiefste Sehnsucht ist, für die du alles geben würdest, was du hast, und ich sage dir, wer du bist. Paulus spricht hier über seinen Schmerz. Denn nur ein kleiner Teil der Juden hat den Weg zu Christus gefunden. Er würde selbst seine enge Bindung an Jesus aufgeben, wenn das denn möglich wäre, könnte er dadurch sein Volk zu Christus bekehren.

Benedikt XVI. hat neulich mit dem Karfreitagsgebet an diese Sehnsucht des Apostels angeknüpft. Und so entwirft Paulus das bewegende, ja erschütternde Bild von Gottes Erbarmen, der sich über alle Taubheit und allen Ungehorsam von Juden und Heiden hinweg am Ende aller erbarmen wird. Das ist eine Theologie, die buchstäblich mit den letzten Fasern des Herzens entworfen ist, man spürt es bis heute, wie sie förmlich im Gebet Gott abgerungen ist.

Als zweites Beispiel für das paulinische Ineinander von Leben und Denken möchte ich 2 Korinther 4 nennen: „Daran wird ganz deutlich, dass die reiche Vollmacht, die ich habe, von Gott kommt und nicht von mir selbst. Das zeigt sich auch an meinem Geschick: Immer wieder gerate ich in Bedrängnis, doch nie in Verzweiflung, ständig gerate ich in tausend Nöte, doch nie in Hoffnungslosigkeit. Ich werde verfolgt und bin doch nicht von Gott verlassen, ich werde verleumdet und gehe doch nicht unter. Tagtäglich ertrage ich Jesu Leiden und Sterben am eigenen Leibe. Doch jedes Mal rettet mich sichtbar und offenkundig die Kraft des Lebens, die von Jesus ausgeht. Denn solange ich lebe, werde ich wegen Jesus immer wieder dem Tod ausgesetzt. So soll die von Jesus ausgehende Kraft des Lebens auch an meinem sterblichen Leib sichtbar werden.“ Paulus begreift sich als die lebendige Darstellung des Evangeliums. Sein Leben ist ein einziges Passionsspiel; anders als den Darstellern in Oberammergau und anderswo tut dem Apostel freilich diese „Inszenierung“ wirklich weh. Und im Unterschied zu den Professoren und Oberkirchenräten, die vom Schreibtisch oder vom Katheder aus gut bezahlt die „geniale Theologie“ des Paulus preisen, spielt Paulus in einer anderen Liga, eben in der der Heiligen. So haben mich auch im eigenen Leben stets die Christen begeistert, die authentisch von ihrem Kampf gegen die Nazis erzählen konnten und die dafür gelitten hatten. Wie stolz waren wir darauf, dass unser Kaplan zu solchen gehört hatte. Und atemlose Stille herrschte unter den Heidelberger Theologiestudierenden, wenn Professoren wie Claus Westermann aus ihrer dramatischen Biographie zur Zeit der Bekennenden Kirche berichteten. Fast könnte man daraus den Satz ableiten: Traue keinem Theologen, der nicht für seine Botschaft Erhebliches gelitten hat. Auch in der DDR habe ich solche kennengelernt.

Übrigens wird aus 2 Korinther 4 auch ersichtlich, weshalb wir von Paulus so wenig über Jesu Leben in Palästina erfahren. Denn Paulus berichtet nach der Regel strengster Authentizität der Botschaft nur das, was er selbst auch erfahren hat. Jude sein, unter dem Gesetz stehen, Leiden für Gott, errettet werden als Bild für Auferstehung, erfüllt sein vom Geist Gottes wie der Auferstandene – das alles kann man Paulus persönlich abnehmen. Deshalb berichtet er nichts Fremdes. Und wenn Paulus in Kolosser 1, 24 sagt, er leide nur das, was am „Leiden Christi noch fehle“, dann ist nicht deshalb der ganze Brief gefälscht, wie viele annehmen, weil hier bezweifelt würde, dass Jesus uns erlöst hat. Interessant wird doch der Gedanke erst, wenn das Leiden des Apostels (und aller weiteren leidenden Zeugen) tatsächlich die notwendige Ergänzung zum Leiden Jesu Christi darstellt. Und das ist auch gleich eine Anfrage an das seit Jahrzehnten unter den Tisch gekehrte katholische Verständnis vom Opfer der Christen. Im Zusammenhang hier ist es vor allem als Leiden zu begreifen. Damit aber ergibt sich folgendes Bild: Es ist eben nicht damit getan, dass Jesus Christus einmal für uns gelitten hat – und dass die Jünger und restlichen Christen dann „aus dem Schneider“ sind. Es geht nicht an, dass einer leidet und die anderen leidfrei dahinleben. Wir müssen als Christen einfach damit rechnen, dass wir das Leiden Jesu Christi teilen könnten. Jesus wird in seinem Leiden grundsätzlich nie isoliert betrachtet.

Wie ein Tropfen im Wein ist das Leiden des Christen im Meer des Leidens Jesu. Der entsprechende Messritus – Versenkung eines Tropfens Wasser im Wein – wird seit langem so gedeutet. Denn Wein steht für Gottheit, Wasser für Menschsein, im Kontext der „Opferung“ geht es um Hingabe und Leiden überhaupt. Wenn der Apostel Paulus schildert, wie er in das Leiden Christi hineingezogen ist, so in 2 Kor 4, 12, unterscheidet er nicht Sühneleiden vom „Leiden zum Angucken“. Schon die Evangelien sprechen daher davon, „mit“ Jesus zu sterben. Wenn unser Grundansatz stimmt, die Theologie des Apostels von seiner Berufung zum Apostel her zu begreifen, dann müsste sich dieses auch bei dem bewahrheiten, was man mit einem unglücklichen Ausdruck „Rechtfertigungslehre“ nennt. Fragt man Menschen von der Straße oder den Pfarrer von nebenan, so ist die Antwort, dieses Thema sei ebenso uninteressant wie kontrovers wie schwierig, kurzum unerbaulich und heute unwichtig. Ich finde: Man müsste einen Preis für den aussetzen, der den Nährwert dieser „Lehre“ erklären kann. Vielleicht wäre der heilige Bernhard ein Aspirant für diesen Preis. Folgt man seinem Ansatz, dann muss man nicht von juristischen Konstruktionen ausgehen, wie etwa von der Frage, ob die Gerechtigkeit dem Sünder bloß angerechnet wird, oder ob er wirklich „gerecht“ gemacht wurde. Man muss auch nicht darauf achten, dass der positive Anteil des Menschen an seiner Rettung möglichst klein zu halten sei, weil nur das wirklich fromm sei, wenn man Gott alles tun lässt. Sondern man darf von der Sehnsucht des Menschen ausgehen. Es ist die Sehnsucht, die nur Gott stillen kann. Gleichzeitig hat aber auch Gott Sehnsucht nach den Menschen, und er bietet ihm deshalb Vergebung, Liebe und Freundschaft an.

Stolz auf gute Werke? Das war kein paulinisches Problem!

Die Sehnsucht des Menschen bedeutet für ihn Eingeständnis, dass ihm das allein selig Machende mangelt. Es kann nur von Gott kommen und ist dem Wesen nach Liebe. Diese Lösung hat gegenüber den herkömmlichen dogmatischen den Vorteil, dass jeder Gedanke an irgendeine Leistung des Menschen, sei es durch Werke, sei es durch Glauben (für viele Menschen oft ein besonders schwieriges Werk!) als abwegig erscheint. Sehnsucht ist kein Werk, sondern lebhaft beklagter Mangel. Selbst noch ein Theologe wie Karl Rahner, der mit Paulus nicht viel im Sinn hatte, konnte sagen, für ihn bestehe Glaube wesentlich im Aushalten der Verborgenheit Gottes. Von Mutter Teresa wissen wir, dass diese Erfahrung der Abwesenheit Gottes eben sehr viel mit Sehnsucht zu tun hat. Rechtfertigung aus Glauben heißt für mich: Meine unstillbare Sehnsucht kann allein Gott im Gekreuzigten erfüllen.

Sehnsucht aber bringt Liebe und Freundschaft hervor. Dass diese ihre eigenen Regeln haben, weiß jeder, und Paulus verlangt auch deren Einhaltung von den Christen. Aber Stolz auf gute Werke oder das Bestreben, sich durch Werke als gerecht zu qualifizieren, sich dabei auch noch am alttestamentlichen Gesetz zu messen, das alles waren eben auch nicht die Probleme des Apostels. Er war nicht gegen Werke und nicht gegen das Gesetz, sondern der Glaube hatte für ihn eine neue Mitte bekommen, an der alles zu messen war und um die kein Weg herumführte. Und auch diese Mitte ist nur biographisch zu verstehen: Es ist die Begegnung mit dem auferstandenen Herrn.

Diese schlechthin umwerfende Kehre in seinem Leben geht wiederum aller Theologie voraus. Denn Paulus wird zum Apostel berufen, er nennt sich fortan „Sklave Jesu Christi“, denn er weiß: Es ist Gott selbst, der ihm im verklärten Menschen Jesus Christus begegnet. Zweifellos war das das Ziel aller hellenistischen Verwandlungsmythen, die Vergottung des Menschen, der Wunschtraum Adams und Evas, als Menschen zu sein wie Gott. Wenn dieser Traum in Jesus Christus erfüllt war, wenn der Auferstandene genau jene ersehnte Einheit von Gott und Mensch darstellte, dann war das ein neuer, unübertrefflicher Lebensbeweis Gottes. Gott ist lebendig, und er gibt sein Leben weiter als der, der Tote lebendig macht. Für Paulus und für andere frühe Christen ist entscheidend die Weitergabe und Teilhabe an Gott. Dass Gott sein Gottsein, sein kräftiges Leben, nicht für sich alleine behält, sondern darauf brennt, es weiterzugeben. Dann ist Jesus Christus nur das Erstgeborene unter vielen Kindern Gottes. Dann gilt die Grundstruktur der Christologie in vergleichbarem Maße auch für jeden Christen.

Zwei weitere Zentren paulinischer Theologie sind damit organisch verbunden: Die Lehre von der Dreifaltigkeit und die Sakramente. „Dreifaltigkeit“ – das meint diesen Gott, der sich selbst weitergibt, der im Sohn wohnt und durch denselben heiligen Geist in jedem Christen. Dreifaltigkeit meint also einen Gott, der durch sein Wohnen im Herzen alle Kreatur sich aneignen will, ihr die Kraft zur Erfüllung seines Willens gibt und der von der „herzlichen Mitte“ des Menschen her auch Auferstehung der Menschen bewirken kann. Theologie der Dreifaltigkeit ist wie keine andere eine Theologie des Herzens. Denn das Herz ist ein Bild dafür, dass sich einer öffnet für andere und für sie da ist, beim himmlischen Vater, bei Jesus, bei den missionierenden Christen wie Paulus einer war.
In den Sakramenten aber wird jene Anteilgabe an sich selbst, die Gott will, gültig, mit den sichtbaren Zeichen verknüpft, um den Menschen Gewissheit zu geben und die Hoffnung auf die Erlösung ihres ganzen Leibes. Alle Sakramente sind, jedes auf seine Weise, verbindliche Zeichen des Neuen Bundes. Durch sie kommt die Anteilhabe an Jesus Christus zustande, und das Ganze nennt man Leib Christi oder Kirche. Leib Christi heißt: Wäre er nicht, dann gäbe es die Kirche nicht. Wenn man alle Christen zusammen wie die Figuren in einem Rosettenfenster denkt, dann ist Jesus nach Paulus nicht nur die Mitte, sondern auch die Sonne. Ohne ihn wäre nur Dunkel.

In allem Leid weiß sich der Apostel zutiefst geborgen

Wegen der absoluten Abhängigkeit der Kirche von Jesus Christus ist sie durchaus etwas anderes als das Gottesvolk der Juden. Sie wird nicht durch Torah und Beschneidung zusammengehalten, sondern vor allem durch die „mystische“, unsichtbare, aber doch höchst reale Weise, in der jeder an Jesus Anteil hat. Das darf man sich durchaus in einem weiblichen Bild vorstellen: Jeder Einzelne ist wie durch eine Nabelschnur mit Jesus verbunden. Durch sie fließt das unzerstörbare Leben.

Am Ende kehren wir zum Anfang zurück. Was bedeutet Jesus Christus für den Juden Paulus? In ihm geht Gott auf die Menschen zu, er ist der Messias, und messianisch ist zumindest immer dieses: verschwenderische Fülle, wie sie Wunschkindern zuteil wird. In allem, was er durchmachen muss, weiß er sich in einem Maße geborgen, das schier unvorstellbar ist. – Aber warum meint er, das alles durchmachen zu müssen? Woher diese Selbstverständlichkeit der Leidensteilhabe. Insbesondere nach der Kreuzigung Jesu ist der Widerspruch zwischen Gott und Welt, das heißt: den Mächtigen in der Welt, so groß, dass Gott und jeder, der zu ihm gehört, auf Erden nur auf der Seite der Nicht-Mächtigen stehen kann. Gott selbst und Gottes Sohn, der Apostel und alle Gläubigen können deshalb nicht auf Seiten der Mächtigen, Reichen, Schönen und Adeligen stehen, sondern nur auf der Seite der Armen und derer, die nichts gelten. Sie können doch nicht die Mächtigen mit ihrer mörderischen Macht noch übertreffen. Deshalb gehören sie auf die Seite der Leidenden und Verachteten in der Welt. Das hat nichts mit Sozialromantik zu tun, sondern mit Gott und Kreuz. Das Kreuz als Zeichen der Schande wird seitdem und bis heute Abzeichen derer, die wahres Leben, das aus dem Herzen kommt, unterscheiden können vom leeren Wahn der Macht.