”Zeit zur Aussaat" Missionarisch Kirche sein

Die deutschen Bischöfe    

26. November 2000

Herausgeber:

Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz

Kaiserstraße 163, 53113 Bonn

 

Inhalt

0.  Zum Geleit         5

 

I.   Die Welt, in der wir leben           7

     Wegmarkierungen        8

     Die Botschaft vom Leben       10

 

II.  Die Hand, die aussät – missionarische Spiritualität           11

     Demütiges Selbstbewusstsein           13

     Gelassenheit           14

     Gebet           15

 

III.     Wie die Saat aufgeht – Wege missionarischer Verkündigung          15

     1.  Zeugnis des Lebens          16

     2.  Zeugnis des Wortes          17

          Bereitschaft zum Zeugnis        18

          Auskunftsfähigkeit        19

          Sprachfähigkeit       19

          Orte der Verkündigung          20

          Katechese und Religionsunterricht         21

          Medien, eine unverzichtbare Hilfe          21

     3.  Zustimmung des Herzens        23

          Es geht um das Leben der Menschen         23

          Gewinnung der Herzen ist Gottes Werk           24

     4.  Eintritt in eine Gemeinschaft von Gläubigen           24

          Biotope des Glaubens       25

          Sakramente und Sendung       26

          Lebensräume für Menschen auf der Suche nach Sinn           26

     5.  Beteiligung am Apostolat – selbst in die Sendung eintreten        29

          Die Welt in Gott gestalten und verändern         29

          Dienst an Hilfsbedürftigen       30

          Eine Brücke vom Evangelium zur Kultur          31

          Sendung der Orden          32

          Auch für andere den Glaubensweg gehen        32

 

Rückblick und Ausblick         33

Brief eines Bischofs aus den neuen Bundesländern über den Missionsauftrag der Kirche für Deutschland          35

 

Abkürzungen          43

Zum Geleit

Ein Grundwort kirchlichen Lebens kehrt zurück: Mission. Lange Zeit verdrängt, vielleicht sogar verdächtigt, oftmals verschwiegen, gewinnt es neu an Bedeutung. In vielfachen Wortverknüpfungen zeigt es sich im pastoralen und theologischen Gespräch, so z.B.: Mission und Evangelisierung, missionarische Pastoral und missionarische Verkündigung, das missionarische Zeugnis der Kirche.

Dem hier vorliegenden Text ist das Leitwort ”Zeit zur Aussaat. Missionarisch Kirche sein’’ beigegeben worden. 25 Jahre nach dem Schreiben von Papst Paul VI. ”Evangelii Nuntiandi”, das in seiner Aktualität kaum etwas eingebüßt hat, entdecken die Christen in unserem Land neu, wie grundlegend dieser nachkonziliare Text für das Leben der Kirche ist. Zum Zeugnis des Lebens muss das Wort des Lebens hinzukommen. Bereits das Zweite Vatikanische Konzil hat im Dekret über das Apostolat der Laien auf diesen Zusammenhang hingewiesen. Es macht darauf aufmerksam, dass ”nicht nur im Zeugnis des Lebens”, sondern gleichermaßen auch im Zeugnis des Wortes das Apostolat seine Kraft entfaltet (vgl. Artikel 6).

Große Texte brauchen ihre Zeit. Wenn nicht alles täuscht, drängen die vom Konzil formulierten Gedanken immer noch und immer wieder anfragend und richtunggebend in die pastoraltheologischen Überlegungen unseres Landes ein. Der Impuls, den das nachkonziliare Schreiben ”Evangelii Nuntiandi” gegeben hat, wird aufgenommen und praktiziert.

Drei Beobachtungen drängen sich auf:

1.  Missionarisch Kirche sein heißt immer auch, Bereitschaft zum missionarischen Zeugnis einzubringen. Dies gilt für jeden, der getauft und gefirmt ist, und es gilt an allen Orten, an denen Frauen und Männer als Christen leben. Wie das gemeinsame Priestertum der Getauften alle zum Aufbau der kirchlichen Gemeinschaft befähigt (Communio), so sind auch alle in die Sendung (Missio) und damit zum missionarischen Zeugnis gerufen. Dazu gibt der hier vorliegende Text viele Hinweise und Anregungen und will helfen, die Auskunftsfähigkeit über das, was unsere Hoffnung trägt, zu stärken (vgl. 1 Petr 3,15).

2.  Zum missionarischen Kirchesein gehört ganz sicher der Mut zum eigenen, unverwechselbaren Profil. Christliches Leben gewinnt darin eine befreiende Kraft, die es befähigt zur Solidarität. Ohne ein Minimum an Bereitschaft, widerständig und anders zu sein gegen übliche Plausibilitäten, kann es schwerlich christlichen Glauben geben. Ein unverwechselbares Profil des Christseins führt auch immer zu den Fragen, die das Zeugnis des Wortes provozieren.

3.  Missionarisch Kirche sein bedeutet nicht, eine zusätzliche kirchliche Aktivität zu entfalten. Communio und Missio, Gemeinschaft und Sendung, sind immer die zwei Seiten ein und derselben Medaille. Alle kirchlichen Aktivitäten sind vor dem Hintergrund der missionarischen Dimension der Kirche zu verstehen und daraufhin zu stärken. Dies gilt für die Gemeinden wie für die Verbände, es gilt für die geistlichen Bewegungen und Gemeinschaften. Diesen Prozess will der vorliegende Text unterstützen.

Neu ist sicher, dass dem Wort der Bischöfe der Brief ”Brief eines Bischofs aus den neuen Bundesländern über den Missionsauftrag der Kirche für Deutschland” beigefügt ist. Der Bischof von Erfurt, Joachim Wanke, ist Vorsitzender der Pastoralkommission der Deutschen Bischofskonferenz und ermutigt aus einer ganz besonderen Erfahrung Christen hierzulande, ihre Berufung zum missionarischen Kirchesein und zum missionarischen Zeugnis anzunehmen. Was in den neuen Bundesländern heute Realität ist, Christsein als Minderheit, wird morgen auch die kirchliche Realität in den anderen Regionen unseres Landes beeinflussen. Eine nüchterne Analyse und den Mut, voraussehbare Entwicklungen anzuschauen, dazu ermutigt der Text ”Zeit zur Aussaat. Missionarisch Kirche sein”. Er möchte einen Beitrag leisten zur Überwindung resignativer Strömungen und erlebter Mutlosigkeit vor der Größe der Herausforderungen. Ich danke der Pastoralkommission und besonders ihrem Vorsitzenden, Bischof Joachim Wanke, für die Vorlage dieser Ausarbeitung, die die Deutsche Bischofskonferenz sich gerne zu eigen gemacht hat. Sie füllt eine wichtige Lücke. So hoffe ich, dass sie überall auf ein gutes Echo stößt.

Bonn/Mainz, 26. November 2000, Christkönigsfest

Bischof Karl Lehmann

Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz

 

 

I. Die Welt, in der wir leben

Wir leben in einer spannungsgeladenen Zeit, die voller Widersprüche ist. Technik, Medizin und Wirtschaft lassen uns etwas von den Möglichkeiten wahrnehmen, die sich heute den Menschen auftun. Die realistische Sicht auf unsere Erde zeigt aber auch die Zerrissenheit und die Kriege der Völker, ihr Elend und ihren Hunger. Auch die Länder Europas stehen vor der Herausforderung, stabile Friedensordnungen und wirtschaftliches Wohlergehen für die Zukunft zu sichern. In Deutschland spüren wir Christen nicht zuletzt nach der wiedererlangten Einheit unseres Landes eine weitere Herausforderung durch die vielen Menschen, die für ihren Lebensentwurf den Glauben an Gott nicht als notwendig erachten. Vielleicht ist ihnen noch nie Gottes Wort verkündet worden oder jedenfalls nicht so, dass sie es zu hören vermochten. Die Christen im östlichen Teil unseres Landes sind in einer deutlichen Minderheit und in den letzten Jahrzehnten massiv bedrängt worden. Für manche ist es wie das Aufwachen aus einem bösen, schweren Traum. Da heißt es zunächst einmal, sich umzuschauen und die Welt und die Gesellschaft, in der man lebt, neu wahrzunehmen.

Aber auch in den Regionen unseres Landes, in denen sich der Glaube frei entfalten konnte, tun sich immer mehr Menschen schwer, die Spuren Gottes in der Welt zu lesen. Ihnen scheint die Deutung des Lebens ohne Gott realistischer und lebensnaher. Das Verlangen nach Trost im Alltag, wenn Sinnkrisen das Leben erfassen, stillen sie zunehmend außerhalb eines Gottesglaubens, wie ihn das in unserer Kultur beheimatete Christentum anbietet. Dazu passen Beobachtungen, dass Themen, die mit Glaube und Kirche zu tun haben, immer weniger öffentliches Interesse finden. Solche Fragen, besonders die Gottesfrage, müssen vielfach erst neu zum Thema gemacht werden.

Gleichzeitig ist zwar ein Bedürfnis nach Religion vorhanden, doch es verdunkelt sich das Bild Gottes. Wir treffen immer häufiger auf Menschen, die nicht nur in einem ausdrücklichen oder praktischen, sondern auch in einem ”religionsförmigen Atheismus” leben. Der Mensch bejaht zwar Religion, aber als eine Fähigkeit, die der Mensch von sich aus, gleichsam selbstmächtig entwickelt. Diese Weise religiösen Bewusstseins vermag den Menschen zu faszinieren und ihn trotz allen technischen und wissenschaftlichen Fortschritts zu ”verzaubern”. Er befriedigt seine Sinnsuche damit, geheimnisvollen Energien, Kräften und Mächten in der Welt, im Kosmos oder im Innersten des Menschen nachzuspüren.

Die Christen haben Anteil an diesen Prozessen. Sie stehen in diesen Wandlungen, werden von ihnen erfasst und herausgefordert, Menschen auf der Suche nach ”sinnvollen” Antworten in dieser Welt, Gottes barmherziges Handeln in Jesus Christus glaubwürdig zu verkünden. Wie aber kann der Weg markiert werden, den Christen in unserer Zeit gehen können, und wie können sie andere zur ”Weg-Gemeinschaft” im christlichen Gottesglauben einladen? Eine grundlegende Voraussetzung besteht darin, dass Christen selbst neu ”lernen”, Jesus Christus als den Weg, die Wahrheit und das Leben (vgl. Joh 14,6) anzunehmen. Glaubenserneuerung und Glaubensvertiefung sind notwendig, um andere auf dem Glaubensweg begleiten zu können.

Wegmarkierungen

Das Bedürfnis nach Religion ist vielgestaltig und mancherlei Wandlungen unterworfen. Es gehört zum Menschen und ist in sein Innerstes eingestiftet. Wir können beobachten, dass viele Menschen sich durchaus religiös orientieren wollen und in den vielfältigen Angeboten einer sich rasch wandelnden Gesellschaft ihr Religions-bedürfnis sättigen. Freilich, immer weniger halten sich die Einzelnen an vorgegebene Muster. Sie entwerfen ihr Leben selbst. Die sogenannten ”Patchwork-Biografien” haben ihr Gegenstück in den selbst ”gebastelten” Religionen, die aus ganz

unterschiedlichen Elementen wie bei einem Flickenteppich zusammengefügt werden. Der religiöse Glaube, in welcher Weise auch immer, wird als eine ausschließlich private Angelegenheit betrachtet. Umso mehr liegt es an den Christen, die Spuren von Gottes Gegenwart in ihrem Leben und in der Welt aufzuspüren und die Mitmenschen darauf hinzuweisen.

In den christlichen Kirchen wächst die Überzeugung, dass es derzeit eine neue Herausforderung zu missionarischer Verkündigung gibt. Wenn auch diesbezüglich manchmal Selbstzweifel und Resignation Einzelne und Gemeinden erfassen, so zeigt sich doch auch immer stärker, dass die missionarische Verkündigung des Reiches Gottes den Christen hilft, ihre eigene Situation mit ihren Licht- und Schattenseiten anzunehmen und in den Sendungsauftrag Jesu einzubetten. Veränderungen in unserem Leben gehören zum Wesen des Mensch-Seins. Sie sind Teil unserer Geschichte und fordern Christen heraus, ihre eigenen, vielleicht manchmal schon erstarrten Formen des Glaubens neu zu befragen und nach zeitgemäßen Antworten zu suchen.

Das ist eine Erfahrung, die auch die ersten Christen gemacht haben. Sie sahen sich einer Welt gegenüber, der die Botschaft des Evangeliums ebenfalls schwer verständlich war. Dennoch gelang es ihnen, die heidnische Welt mit dem Sauerteig der Frohen Botschaft zu durchsäuern. In ihrer

Begeisterung für die Botschaft Christi fanden sie Wege zu den Herzen suchender Menschen. Und diese suchenden Menschen gibt es auch heute. Ungeachtet der vielen angenehmen Seiten des Lebens macht sich deutlich auch eine gewisse Ratlosigkeit breit. Es scheint, dass eine neue Nachdenklichkeit in der Gesellschaft einkehrt. Angesichts der Bedrohtheit des Lebens und Überlebens stehen wir neuen Ängsten gegenüber. Menschen fragen besorgt, wie kann und wie wird es mit der Welt und den Menschen weiter gehen? Das ist ein Ansatzpunkt, auf eine größere Dimension des menschlichen Lebens hinzuweisen. Doch noch wichtiger scheint die folgende Beobachtung:

Das missionarische Zeugnis der Kirche insgesamt und des einzelnen Christen wird durch eine Entwicklung begünstigt, die auf den ersten Blick für missionarische Pastoral belastend erscheint. Inmitten einer pluralen, vieles nivellierenden und ”gleich-gültig” machenden Gesellschaft findet das profilierte Zeugnis einer Minderheit durchaus neue Aufmerksamkeit. Je mehr ”alle Katzen grau sind”, desto interessanter wird das ”Unterscheidende”! Ein profilierter Lebensentwurf, eine dem Zeitgeist widerständige Haltung, ein aus tiefer und glaubwürdiger Überzeugung gesetztes Zeichen – all das findet gerade im Zeitalter der Massenkommunikation vielleicht gerade deshalb Beachtung. Zudem scheint es ein Urgesetz menschlicher Kommunikation zu sein, dass Personen, zumal authentisch wirkende Personen (weniger Institutionen, die eher dem Verdacht ausgesetzt sind ”vereinnahmen” zu wollen!) immer attraktiv sind. Das bedeutet, dass katholische Kirche sich noch stärker als bisher ”personalisieren” muss, aber nicht nur in ihren Amtsträgern und ”Spitzenvertretern”, sondern in der Breite ihrer Berührungsmöglichkeiten mit der heutigen Gesellschaft. Der Gedanke des Apostolats der Laien, wie er vom Konzil entworfen wurde, dass jeder Christ am eigenen Ort in der Gesellschaft, in Beruf und Familie erkennbar Zeugin und Zeuge des Glaubens sein kann und sein soll, gewinnt hier brennende Aktualität. Denn die Kirche lebt in ihren Zeugen. Dabei ist es tröstlich zu wissen: ”Gott war schon vor dem Missionar da!” Er gibt sich auch heute in vielfacher Weise zu erkennen. Die unterschiedlichen Räume, in denen Menschen leben, sind voller Spuren, die auf Gott hinweisen. Sie zu entdecken und mit der Botschaft des Evangeliums zu verbinden, ist Aufgabe einer zeitgemäßen christlichen Verkündigung (vgl. dazu Teil III, 2).

Die Botschaft vom Leben

Im Neuen Testament findet sich ein Gleichnis aus der bäuerlichen Welt, in der wir so nicht mehr leben. Es ist das Bild vom Sämann (vgl. Mk 4,3-9). Dieses Bild, das aus einer für viele fremden Welt kommt, hat nichts von seiner Faszination und Eindringlichkeit eingebüßt. Es ist das Bild vom Wachsen und Reifen des Gottesreiches. Das Gleichnis Jesu erzählt von einem Sämann, der großzügig und vertrauensvoll seinen Samen auf den Acker wirft, wohl wissend, dass nicht alles auf fruchtbaren Boden fällt. Manche Körner verlieren sich auf dem Weg und werden zertreten. Andere geraten auf felsigen Grund und können keine Wurzeln treiben, wieder andere ersticken unter Disteln und Dornen. Doch ungeachtet

solcher Ausfälle wagt der Sämann immer neu die Aussaat. Es ist ein eindringliches Bild. Die Hand des Sämanns greift in den Beutel, geübt und kraftvoll, scheinbar ohne große Anstrengung wirft er die Körner über den Acker, wo dann das Wunder des Wachsens und Reifens beginnt. Es ist dieses Wissen um das Wachsen und Reifen der Frucht, das der Kirche die Zuversicht vermittelt, im Vertrauen auf Gottes Handeln das Samenkorn der Botschaft vom Reich Gottes unter die Menschen auszusäen.

Mit dem Bild der Aussaat und des Wachsens beschreibt das Evangelium das verborgene, aber unaufhaltsame Wachsen des Gottesreiches. Damit ist zugleich der Weg der Kirche in der Geschichte beschrieben. Im Glauben an Gottes Verheißung und im Vertrauen auf Jesu Beistand sieht sie das Reich Gottes wachsen, auch in ihrer weltweiten Glaubensgemeinschaft, in der sich die Reich-Gottes-Anwärter sammeln. Der auferstandene Herr hat seinen Jüngern verheißen, dass er mit ihnen verbunden bleiben wird und sie zur Fülle des Lebens führen will (vgl. Joh 10,10). Aus dieser Sicht sind Gott und sein Reich das Glück und das Heil für den Menschen. Diesen Kerninhalt christlicher Verkündigung darf und soll die Kirche den Menschen lebensnah vermitteln. Dabei ist die der Verkündigung des Evangeliums verheißene ”Fülle” in zwei Richtungen hin auszulegen: Der Glaube an Gott gibt zum einen Orientierung und Kraft zu einem sinnerfüllten Leben hier auf Erden. Er zeigt dem Menschen sein Lebensziel in der bleibenden Gemeinschaft mit Gott über den irdischen Tod hinaus.

Dieser Gott hat sich in Jesus Christus auf eine Weise mitgeteilt, die überraschend, aber zutiefst menschenfreundlich ist. Ein konkretes Menschenleben, das Leben, Leiden und Sterben Jesu von Nazaret, wird zum ”Modell”, ja zur Wirkursache eines erneuerten Menschseins. Gott führt den Menschen, der dieses Lebensmodell Jesu zu seinem eigenen macht, aus aller Selbsttäuschung und Verblendung, vor allem aber aus der Schuldverhaftung heraus und eröffnet ihm eine neue Lebensperspektive. Er schenkt ihm eine Existenzerneuerung, die nicht in den eigenen menschlichen Möglichkeiten ihren Grund hat, sondern in der Verbundenheit der Glaubenden mit Jesus Christus oder, wie der Apostel Paulus sagen kann, in der ”Angleichung” an ihn (vgl. Röm 6,5). Dazu ”anzustiften” und anzuleiten ist Aufgabe der Kirche. Sie erfüllt damit den Auftrag Jesu Christi: ”Geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern!” (Mt 28,19).

Welche Haltung, welche ”Spiritualität” braucht es, um in der heutigen Zeit diesem Auftrag Jesu zu entsprechen? Im 2. Teil dieses Schreibens soll das Gleichnis vom Sämann zur Beantwortung dieser Frage herangezogen werden. Im 3. Teil geht es um die einzelnen Schritte im Prozess der Evangelisierung, die gleichsam die Grundelemente einer missionarischen Arbeit der Kirche bilden. In diesem Abschnitt wird das Apostolische Schreiben ”Evangelii nuntiandi” von Papst Paul VI. unsere Überlegungen leiten (bes. EN 21-24).

II. Die Hand, die aussät – missionarische Spiritualität

Das biblische Bild vom Sämann steht neben anderen nicht weniger eindrücklichen Bildern: so dem Gleichnis vom Schatz, der im Acker verborgen liegt und den es mit dem Einsatz des eigenen Vermögens zu erwerben gilt (vgl. Mt 13,44). Ebenso finden wir das Bild von der kostbaren Perle, für die es sich lohnt, alles einzusetzen (vgl. Mt 13,45f). Im Lukas-Evangelium wird uns von einer Frau erzählt, die ihre Münze wiederfinden will und dazu bereit ist, ihr ganzes Haus ”auf den Kopf zu stellen” (vgl. Lk 15,8-10). All diesen Bildern ist eines gemeinsam: Es geht um eine Haltung, die bereit ist, alles einzusetzen, ohne ängstlich oder halbherzig zu sein. Im Bild vom Sämann wird das besonders deutlich. Ohne Bedenken wird das Korn ausgesät: Im Vertrauen auf eine gesunde Erde, die wohlwollende Natur und den Segen von oben, der die Saat wie von selbst wachsen lässt (vgl. Mk 4,26-29).

Solche Erfahrungen prägen die Haltung der Christen. Deshalb kann, wer sich von Gott angesprochen weiß, dies nicht für sich behalten. Jede und jeder Einzelne fühlt sich dann verpflichtet, die Freude am Glauben mit anderen zu teilen. Es entspricht dieser Erfahrung, dass der Glaube keine private Angelegenheit allein ist. Vielmehr wird die Gemeinschaft im Glauben wie im Leben zum Erkennungszeichen der Christen, von dem uns schon die Apostelgeschichte berichtet: ”Und alle, die gläubig geworden waren, bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles gemeinsam” (Apg 2,44). Das Miteinander in der Kirche und der Gemeinden untereinander ist also weit mehr als ein Miteinander nach der Art eines Sozialverbandes. Es ist schwesterliche und brüderliche Gemeinschaft, ”Communio”, die getragen und geprägt ist vom Heiligen Geist.

Christen glauben an den dreifaltigen Gott, der in seinem Wesen Gemeinschaft ist. Sie wissen sich berufen, diesen ”Gott des Gesprächs” in die Welt hineinzutragen. In unvorstellbarer Weise hat Gott sich den Menschen gegenüber großzügig erwiesen. Er ”schenkt” der Welt seinen Sohn, ohne nach Garantien für das Gelingen seines Heilplanes zu fragen. Gottes Handeln in Jesus Christus entspricht ganz dem biblischen Bild von der Aussaat: alles auszusäen, ungeachtet aller Widerstände der Menschen. Im Lebensbeispiel Jesu Christi verstanden Menschen, dass Gott es mit ihnen gut meint und sie zu einem Leben aus dem Evangelium beruft. Christen, die untereinander die Gemeinschaft mit Gott leben, vermögen deshalb deutlich zu machen, wie der Glaube das Leben verändern kann. Die Kirche darf der Raum sein, in dem das geheimnisvolle Wachsen der Saat, des Wortes Gottes, für die Menschen sichtbar wird.

Selbstverständlich wissen die Christen, dass sie unvollkommen und sündhaft sind und dass manches ausgesäte Korn durch schuldhaftes Handeln auf harten Boden oder unter Dornen fällt. Papst Johannes Paul II. hat in seinem Schuldbekenntnis zum Heiligen Jahr 2000 viele dieser Realitäten zur Sprache gebracht. Wiewohl diese schmerzlichen Erfahrungen manchmal Mutlosigkeit auslösen, bekennen wir doch die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche. Indem Christen das Glaubensbekenntnis sprechen, bekennen sie die Kirche als Gemeinschaft einer Glaubensüberlieferung, die Christen aller Zeiten und aller Völker trägt, die Generationen, Kontinente und Kulturen zu verbinden vermag. Nach der Aussage des II. Vatikanischen Konzils soll die Kirche ”Zeichen und Werkzeug für die innigste Gemeinschaft der Menschen mit Gott und untereinander” sein (LG 1). Mag auch die Scham über das eigene Versagen Christen belasten, so lautet der missionarische Auftrag Jesu, großzügig das Wort Gottes gegen alle äußeren und inneren Widerstände in der Welt ”auszusäen”.

Demütiges Selbstbewusstsein

Was aber bedeutet diese Berufung zur ”Aussaat” heute? Wie ist der Glaube weiterzusagen, um Menschen für die Nachfolge Jesu zu gewinnen? Wie und wo findet das Evangelium in einer Gesellschaft, die manchmal durch die Überfülle von Angeboten und Bedürfnissen, Gütern und Wünschen geprägt ist, den guten Boden, um zu wachsen, zu reifen und Frucht zu bringen (vgl. Mk 4,1-20)? Bleiben denn in dieser ständig sich verändernden Welt noch Raum und Zeit für ”das eine Notwendige” (vgl. Lk 10,42), für den ”Schatz im Acker” und die ”kostbare Perle”?

Papst Paul VI. betont in ”Evangelii nuntiandi” die Notwendigkeit einer neuen Evangelisierung des ursprünglich christlich geprägten Abendlandes. Durch diese neue Evangelisierung will die Kirche nicht das Rad der Geschichte zurückdrehen oder Mission als Indoktrination und Vereinnahmung betreiben. Sie will Menschen, die bereits Christen sind, auf eine neue Art ansprechen und so ein persönliches, überzeugendes Glaubensleben fördern. Es geht aber auch um Menschen, die zum ersten Mal dem Evangelium begegnen. Die Aufforderung Papst Pauls VI. spricht von einer neuen Evangelisierung in den Ländern mit christlicher Geschichte. Dort finden sich eigene Anknüpfungspunkte für einen solchen missionarischen Auftrag. Diesen stehen manchmal weniger gute Erfahrungen mit der Kirche entgegen. Die Verkündigung wird die Menschen nur dann erreichen, wenn sie in den Zeugen des Glaubens ein deutliches Bemühen wahrnehmen können, dem Wort des Evangeliums im eigenen Leben zu entsprechen. Wenn die Christen sich auch immer wieder von Sünde und Schuld belastet wissen und mancher Widerspruch zum Evangelium in ihrem Leben deutlich wird, so wird ihr Wort, wenn es denn mit demütigem Selbstbewusstsein gesprochen ist, dem Samen aus der Erzählung des Evangeliums gleichen, der auf gutem Boden kraftvoll wächst.

Angesichts vielfältiger Möglichkeiten und Angebote, dem eigenen Leben Sinn zu geben, werden Christen gefragt: ”Was bringt mir der Glaube?” Vermögen die Religion und der Glaube das Leben zu deuten und zu gestalten? Unsere Antworten, die wir zu geben versuchen, werden geprüft werden an der Glaubwürdigkeit, mit der unser Leben die ”Aussaat” des Wortes begleitet. Die Verkündigung des Glaubens ist immer mehr als Predigt und Katechese, mehr als Wissens- und Kenntnisvermittlung. Sie geschieht in den unterschiedlichen Räumen des Lebens und sucht den Menschen dort auf, wo er zu Hause ist. Gott will das Heil aller Menschen und gibt seiner Kirche den missionarischen Auftrag, die Menschen aufzusuchen und ihnen mitzuteilen, dass sie von Gott geliebt und in sein Reich berufen sind. In der Haltung der Großzügigkeit und im Ringen um Glaubwürdigkeit gehört die Glaubensverkündigung zu den anspruchsvollsten Aufgaben von Kirche und Gemeinde. Das ist eine Aufgabe, die weit über notwendige organisatorische Überlegungen hinausreicht. So gesehen kann man Kirche letztlich nicht organisieren. Sie wächst im Heiligen Geist – oder sie stirbt. Somit sollte alles kirchliche Handeln geistlich bestimmt sein und ihrem missionarischen Auftrag entsprechen.

Gelassenheit

Die Gelassenheit des Sämanns im biblischen Gleichnis, sein Vertrauen in die Kraft des ausgestreuten Samenkorns und schließlich seine Bereitschaft, sich nicht durch Bedenken oder mangelnde Erfolgsaussichten vom Werk der Aussaat abbringen zu lassen, weisen auf eine weitere grundlegende Haltung missionarischer Spiritualität hin. Vielfach versteht man heute ”Spiritualität” in einer ganz weiten Bedeutung, als eine religiöse Grundhaltung im Gegensatz zu einer säkularen. Manche engen den Begriff auf spezielle religiöse Übungen ein, so z.B. auf Meditation, Gebet und besondere geistliche Handlungen. In unserem Text soll ”Spiritualität” in einem dritten Sinn gebraucht werden, nämlich als die Summe allen Bemühens um eine lebendige Beziehung zu Gott, aus der eine Grundhaltung im Alltagsleben erwächst.

Die Ruhe und Gelassenheit in aller Widersprüchlichkeit des Lebens wird zu einer Grundhaltung, die die Christen dazu befähigt, in kritische Distanz zu allem zu treten, was man gemeinhin glaubt und lebt, was aber eine breitere und tiefere Sicht des Lebens zu behindern droht. Die Gelassenheit prägt auch die Souveränität des Sämanns, der aussät ohne Erfolg oder Misserfolg, Ernte oder Missernte vorauszuwissen. Das Wachsen und Gedeihen besorgt Gott selbst. Wer sich von diesem Geist der Gelassenheit beseelen lässt, wird deshalb auch nicht durch Misserfolge entmutigt werden.

So verstanden hat ”Spiritualität” mit dem Leben aus dem Bewusstsein heraus zu tun, dass Gottes Geist den Boden für die Verkündigung bereitet und den Reifungsprozess des Wortes bewirkt. Deshalb braucht eine ”Spiritualität” der missionarischen Verkündigung auch Zeiten der Ruhe, die nicht ausgefüllt sind mit irgendwelchen Aktivitäten. Auf diese Weise vermag der Mensch hellhörig zu werden für das, was Gott hat ausrichten lassen. Diese Art der ”Spiritualität” ist auf den Dialog hin angelegt. Sie lässt sich von der Botschaft Jesu ansprechen und erwägt betend seine Heilstaten. Indem der Mensch den Alltag immer wieder unterbricht, gewinnt er Abstand gegenüber dem, was ihn zu vereinnahmen droht.

Doch darf dabei die kritische Distanz nicht zu einer Realitätsferne entarten. Eine Frömmigkeit, die die Tatsachen nicht mehr wahrnimmt, befördert die Sendung Jesu Christi nicht. Der christliche Glaube will die Grundhaltung des Lebens befruchten, wobei er selber durch das konkrete Leben immer wieder auf seine Tragfähigkeit hin getestet wird. Fällt beides auseinander, gerät der Glaube in die Gefahr, zur Ideologie zu werden, und das Leben selbst wird glaubenslos.

Gebet

Wir werden fragen müssen, wie die Saat aufgeht und wie die Wege missionarischer Verkündigung zu gehen sind. Die Haltungen, in denen dieser Weg beschritten werden muss, brauchen eine Quelle, aus der sie sich speisen können. Diese Quelle ist das Gebet. Wenn Menschen sich an Gott wenden, dann geschieht das immer nach der gleichen Grundform: Sie hören, was ihnen von Gott gesagt wird, und drücken dann ihre eigenen Empfindungen in Lob und Dank, Klage und Bitte aus. Besondere Bedeutung hat für Christen das gemeinsame Gebet entsprechend dem Wort Jesu: ”Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen” (Mt 18,20). Dieses gemeinsame Hintreten vor Gott ist Gottesdienst, der in der Eucharistiefeier seine Mitte und seinen Höhepunkt hat. Aus der Kraft dieser Feier, wo all das, was Christus erlösend geschenkt hat, gegenwärtig und wirksam wird, bildet sich die Gemeinschaft der Glaubenden. Dann kann es geschehen, dass Menschen zum Zeichen und Werkzeug des Heils werden (vgl. LG 1). Innerlichkeit und Öffnung zum Nächsten, Sammlung und Sendung schließen einander nicht aus, sondern ein.

III. Wie die Saat aufgeht – Wege missionarischer Verkündigung

In ”Evangelii nuntiandi” werden die verschiedenen Stufen beschrieben, in denen ein erwachsener Mensch als Christ heranreift. Das ist für die Kirche in Deutschland ungewohnt, weil in unserem Land nach wie vor die Kindertaufe vorherrschend ist. Es zeigt sich aber auch immer deutlicher, dass erwachsene Christen, von der Botschaft des Glaubens berührt, Wege zum Christwerden suchen. In diesem Zusammenhang werden wir im ”Allgemeinen Direktorium für die Katechese” darauf aufmerksam gemacht, dass ”das Modell jeder Katechese ... der Taufkatechumenat” ist, der Weg also , auf dem Erwachsene zum Glauben und zur Taufe finden (AKD 59).

In ”Evangelii nuntiandi” werden Schritte für eine Evangelisierung angezeigt. Es sind dies das Zeugnis des Lebens und des Wortes, die Zustimmung des Herzens, der Eintritt in die Gemeinschaft der Glaubenden und die Feier der Sakramente sowie das Apostolat des Glaubens.

Wir werden uns in den folgenden Überlegungen an dieser Schrittfolge orientieren. Dabei geht es nicht nur um eine bloße Abfolge von Schritten, sondern ebenso um die Elemente, die immer mitgegeben sind, wenn das Evangelium verkündet wird und Menschen zum Glauben finden. Das Zeugnis des Wortes, das zur Zustimmung des Herzens und damit zur Glaubenszustimmung führt, vermag seine Kraft nur zu entfalten, wenn es vom Zeugnis des Lebens mitgetragen wird. Der Glaube, der zum Eintritt in die Gemeinschaft der Glaubenden und zum Empfang der Sakramente führt, findet seine Gestalt im Zeugnis des Wortes, in einer missionarischen Verkündigung, die dem Apostolat des Glaubens entspricht.

Die ”Stufen auf dem Glaubensweg” durchdringen sich also und stehen in enger Beziehung zueinander. Wir können das besonders am Bekehrungsweg der Heiligen erkennen.

1. Zeugnis des Lebens

In den Begegnungen und Beziehungen der Menschen untereinander ist das gelebte Zeugnis immer eindrucksvoll. Wenn Menschen aus dem Glauben leben und dadurch erkennen lassen, wie ernst der Glaube im Leben genommen wird, dann weckt dieses ”Zeugnis ohne Worte” den Wunsch, mehr von diesem Glauben erfahren zu dürfen. Dabei werden zentrale Fragen gestellt: ”Warum verhalten sich Christen so? Warum leben sie auf diese Weise? Was – oder wer – ist es, von dem sie beseelt sind?” Es ist eine ”stille, aber sehr kraftvolle und wirksame Verkündigung der Frohbotschaft” zu der ”alle Christen aufgerufen” sind (EN 21). Denn der erste Schritt zum Christwerden gründet in einer Erfahrung, Menschen kennen gelernt zu haben, die als überzeugte Christen leben.

Die Kirche sucht, in dem was sie tut und wie sie sich darstellt, ihr Leben aus dem Glauben zu bezeugen. Das drückt sich besonders durch das Zeugnis der Nächstenliebe aus, wie wir es in persönlicher und amtlicher Caritas wahrnehmen dürfen, in der Sorge für Arme, Kranke, Alte, Alleinstehende und Fremde, durch Hausbesuche von Laien und Priestern. Dabei wird das Zeugnis des Lebens durch Haltungen verdeutlicht, aus denen Christen leben. Ehrfurcht und Staunen, Selbstbegrenzung und Maß, Mitleid und Fürsorge, Gerechtigkeit und Solidarität sollen hier beispielhaft benannt sein. An der Weise also, wie Christen miteinander umgehen, sich Menschen öffnen, vermögen andere sie als Christen zu erkennen und dem Inhalt der christlichen Botschaft Glauben zu schenken.

Das Christentum hat die Umgangsformen in unserem gesellschaftlichen Umfeld nicht unerheblich mitgeprägt. Selbst dort, wo der Glaube nicht mehr bewusst gelebt wird, vermag man noch die christlichen Lebensprägungen auszumachen. Es ist dies eine indirekte Verkündigung:

– durch die Art, wie Christen Menschen wahrnehmen und Kontakte pflegen,

– durch entgegenkommende Umgangsformen,

– durch kulturelles und sozialcaritatives Engagement,

– durch die Bereitschaft, das öffentlichen Leben mitzugestalten,

– durch christliche Gastfreundschaft.

Besonders die Haltung und Offenheit der Gastfreundschaft gehören zu den starken Zeichen des Lebens. Ein Kirchenlehrer im 3. Jahrhundert nach Christus wurde gefragt, wie jemand Christ werden könne, und er erwiderte: ”Ich nehme ihn ein Jahr als Gast in mein Haus auf.” Die freundliche Aufnahme in unseren Gemeinden, Bildungshäusern und in vielen anderen kirchlichen Einrichtungen kann Besuchern und Besucherinnen Mut machen, nach dem Grund der Hoffnung zu fragen, die die Christen beseelt (vgl. 1 Petr 3,15). Verkündigung geschieht also wie von selbst, wenn Menschen nach dem Evangelium leben und handeln.

2. Zeugnis des Wortes

Wenn andere von unserem ”Zeugnis des Lebens” angerührt sind, dann dürfen wir ihnen das ”Zeugnis des Wortes” nicht vorenthalten. Dabei ist zu bedenken, dass es gerade im religiösen Bereich so etwas wie eine natürliche Zurückhaltung im Sprechen, eine Art sprachlicher Feinfühligkeit gibt und geben muss, die es zu respektieren gilt. Der Gottesglaube gehört zu den intimsten Dingen des menschlichen Lebens. Deshalb müssen wir Formen und Räume finden und gestalten, in denen einerseits diese Intimität des Religiösen nicht verletzt, aber andererseits doch auch das ”Wort des Lebens” dem ”Zeugnis des Lebens” erklärend und deutend hinzugefügt werden kann. Die Aufgabe einer neuen Evangelisierung, in der die Menschen eingeladen werden, ihr Leben nach dem Evangelium zu ge-

stalten, bedarf auch der Rechenschaft über den eigenen Glauben. ”Es gibt keine wirksame Verkündigung, keine wirkliche Evangelisierung, wenn nicht auch der Name und die Lehre, das Leben und die Verheißung, das Reich und das Geheimnis von Jesus von Nazaret, des Sohnes Gottes, ausdrücklich verkündet wird” (EN 22). Vor seinen Anklägern bekennt deshalb der Apostel Petrus, dass den Menschen kein anderer Name unter dem Himmel gegeben wurde, durch den sie gerettet werden können, außer dem Namen Jesu Christi (vgl. Apg 4,12).

Bereitschaft zum Zeugnis

Vielen Christen fällt es schwer, mit dem eigenen Wort zeugnishaft für den Glauben einzustehen. Es gibt eine verbreitete Scheu, religiöse Themen offen anzusprechen oder sich als religiös zu bekennen. Es scheint fast ein Tabu zu sein, das zu verletzen man sich außer Stande sieht. In der Vergangenheit waren Worte wie ”Mission’ und ‘Evangelisierung” häufig negativ besetzt. Mit ihnen verband man Erfahrungen der Intoleranz und des aufdringlichen Bekehrungseifers. In der theologischen Diskussion wurde das Wort von der neuen Evangelisierung auch als ”Re-Christianisierung” oder ”Re-Katholisierung” missverstanden, so als ginge es darum, zu einer vergangenen Gestalt des Glaubens zurückzukehren. Darüber hinaus fühlen sich manche auch damit überfordert, den eigenen Glauben anderen gegenüber ins Wort zu bringen, weil sie es sich nicht zutrauen, ”das Zeugnis des Wortes” angemessen weiterzugeben. Wir bedürfen also einer wirklichen Ermutigung zum missionarischen Zeugnis und werden diese nur in Gemeinschaft mit der ganzen Kirche finden. Wenn die Zeichen der Zeit nicht trügen, dann dürfen wir hoffen, dass in den christlichen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften eine starke Bereitschaft wächst, sich mit dem ”Zeugnis des Wortes” in das Ringen und Suchen der Menschen einzubringen.

Auskunftsfähigkeit

Im Neuen Testament werden wir aufgefordert, stets bereit zu sein, einem jeden Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die uns erfüllt (vgl. 1 Petr 3,15). Wir werden ermutigt, Auskunft zu geben und werden damit auch angefragt, ob wir auskunftsfähig sind. Was unser eigenes Leben aus dem Glauben trägt und erfüllt, was wir aus dem Glauben heraus an Stärke und Zuversicht erfahren, darüber dürfen wir nicht schweigen. Wie könnten wir das, was uns leben lässt, mit anderen nicht teilen? Die Fragen, die sich allem ehrlichen Suchen nach Wahrheit immer wieder aufdrängen, sind sehr alte Fragen, die in jeder Zeit nach neuen Antworten rufen: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Was gibt im Leben Grund, Halt und Richtung? Eine neue Evangelisierung in unserem Land wird auskunftsfähig auf diese Fragen hin sein müssen, damit das ”Zeugnis des Wortes” zu einer glaubwürdigen Antwort werden kann.

Sprachfähigkeit

Auskunftsbereitschaft setzt Sprachfähigkeit voraus. In besonderer Weise gilt das für die Verkündigung in und durch die Kirche. Es wird nur das den Menschen erreichen, was überzeugend gesagt wird. Dabei ist zu beachten, dass heute nicht nur die theologische Fachsprache, sondern auch einfache, einst allgemein geläufige Ausdrücke und Bilder selbst von vielen Katholiken nur noch schwer verstanden werden. Deshalb muss das Bemühen dahin gehen, die Verkündigung in Bildern und Vergleichen zu leisten, die aus der Erfahrungswelt der Zuhörerinnen und Zuhörer stammen. Dass dabei besonders darauf zu achten ist, nicht in den Bereich des Trivialen oder Gekünstelten abzugleiten, versteht sich von selbst. Die Verkündigung braucht – ähnlich der Sprache in Literatur und Dichtung – einen erfinderischen, klaren und aussagestarken Sprachstil. Insbesondere bei der Predigt als gestaltender Rede müssen Sprachform und sprachliches Können dem großen Inhalt der Botschaft angemessen sein.

Die immer wieder von Christen beklagte eigene Unfähigkeit, ihrem Glauben eine ”Sprachgestalt” zu geben, mag mit ein Grund dafür sein, dass der missionarische Auftrag der Kirche behindert wird. Daran kann eine vergangene Praxis ihren Anteil haben, die auf eine ”kirchenamtlich” korrekte Sprache in religiösen Dingen hin angelegt war und daher weithin dem Amtsträger allein zukam. Angesichts einer Neigung zum religiösen Subjektivismus und zur Schwärmerei mag die verbreitete Sprachnot einerseits durchaus verständlich sein. Andererseits muss wohl angesichts der ”Sprachlosigkeit” vieler Christen – auf Worte, Zeichen und Tathandlungen bezogen – in der Breite unserer Gemeinden eine neue religiöse Sprach- und Zeichenkompetenz erworben werden.

In allen Schwierigkeiten, den Glauben zu bezeugen und weiterzusagen, machen wir dennoch die Erfahrung, dass dort, wo sachlich begründet, verantwortet und redlich gesprochen wird, das Evangelium Interesse weckt. Es geht nicht darum, Menschen zu einer Zustimmung zu verführen. Menschen lassen sich aber ansprechen, wenn ihnen die Botschaft des Evangeliums in einer einfachen, lebensnahen Sprache vermittelt wird. Dazu braucht es Mut, weil diese einfache Sprache uns zwingt, das sachlich Verantwortbare und das persönlich Gelebte in Beziehung zu setzen.

Orte der Verkündigung

Der wichtigste Ort der Verkündigung ist die Eucharistiefeier am Sonntag. Auch dann, wenn manchmal die belastende Erfahrung einer immer leerer werdenden Kirche gemacht werden muss, darf nicht übersehen werden, wie viele Christen Sonntag für Sonntag den Gottesdienst besuchen, nicht zuletzt deshalb, weil sie von der Predigt Impulse für den Alltag erwarten. Für die Seelsorger ist es ein Geschenk und eine Herausforderung zugleich, das Wort Gottes verkünden zu dürfen. Die Sonntagspredigt wird sich in der Regel an den Lesungen und an den im Kirchenjahr gefeierten Festen orientieren. Die Zeit aber, die der Predigt zukommt, ist im Gottesdienst begrenzt. Es bedarf deshalb ergänzender Angebote der Glaubensunterweisung und Glaubensvertiefung. Dafür gibt es ermutigende Erfahrungen, etwa die häufig von jungen Menschen gestalteten Früh- und Spätschichten, Andachten und Wallfahrten. Nicht zuletzt ist die Feier des Stundengebets bedeutsam, denn die Liturgie selbst ist ein Ort von Verkündigung und Glaubensvertiefung.

Wichtig sind auch die vielfältigen Angebote in Gesprächs- und Arbeitskreisen, Bibelkreisen (”Bibel teilen”), Glaubenskursen und -seminaren, die u.a. von Gemeinden, Verbänden, geistlichen Gemeinschaften und von den Bildungswerken veranstaltet werden. Hier besteht die Möglichkeit zum Dialog, denn Menschen wollen zu Wort kommen, ihre Fragen und Bedenken anbringen und so den Glauben vertiefen.

Die Familie verstand sich in der frühen Kirche als Hauskirche (vgl. LG 11), in der über den Glauben gesprochen und gemeinsam gebetet wurde. Es ist heute nicht einfach, als christlich geprägte Familie zu leben. Doch die Erfahrungen mit dem Familiengebet als einer ”Hausliturgie”, die an bestimmten Tagen und zu einer festgesetzten Stunde in einer ganzen Diözese gefeiert wird, verweisen auf die Familie als einen besonderen Ort der Glaubensverkündigung.

Bedeutsam für viele Menschen sind die Begegnungen mit der Kirche und ihrer Verkündigung bei besonderen Anlässen, bei der Taufe, Trauung oder bei Beerdigungen. Die Liturgie und die Predigt finden in diesen sehr sensiblen Lebensmomenten bei den Menschen einen hohen Grad an Offenheit.

Katechese und Religionsunterricht

Die Gemeindekatechese ist ein großes geistliches Geschenk für unsere Pfarreien. Die Katechese ist im Leben der Kirche neben dem Gottesdienst die wichtigste Form der Verkündigung. Sie will ”ein lebendiges, ausdrückliches und sich in Taten auswirkendes Bekenntnis des Glaubens … fördern” (AKD 66). Sie wird vor allem dann wirksam sein, wenn ihr die Erfahrung einer gelebten Glaubensgemeinschaft vorausgeht. Deshalb wird die Sakramentenkatechese allein kaum ausreichen, bleibend zu

einem Leben nach dem Evangelium zu ermutigen. Wir müssen neu nach dem Stellenwert und der Bedeutung einer umfassenden Erwachsenenkatechese fragen.

In Deutschland hat der schulische Religionsunterricht eine große Bedeutung. Anders als in einer katechetischen Situation kann im Religionsunterricht die vorausgehende ”Zustimmung des Herzens” als tragendes Element nicht selbstverständlich vorausgesetzt werden. Darin liegt eine besondere Chance, auch Kinder und Jugendliche ansprechen zu können, die sonst mit Glaube und Kirche kaum Kontakt haben. Immer mehr Jugendliche und Erwachsene sind getauft, aber noch nicht voll in die Kirche eingeführt und sind Adressaten für die ”Erstverkündigung”. Diese Erstverkündigung bedarf einer nachfolgenden ”Basiskatechese”. Dafür geeignete Formen, Anlässe und auch Methoden zu suchen und auszugestalten, wird immer dringlicher.

Medien, eine unverzichtbare Hilfe

Zunehmende Bedeutung für Glaubensinformation und Verkündigung erhalten die Medien, nicht zuletzt deshalb, weil sie auch Menschen erreichen, die der Kirche fremd sind. Nach ”Evangelii nuntiandi” kann die Kirche ”in unserer Zeit, die von den Massenmedien oder sozialen Kommunikationsmitteln geprägt ist, bei der ersten Bekanntmachung mit dem Glauben … und bei der weiteren Vertiefung des Glaubens auf diese Mittel nicht verzichten.” Ja, sie ”würde vor ihrem Herrn schuldig, wenn sie nicht diese machtvollen Mittel nützte, die der menschliche Verstand immer noch weiter vervollkommnet” (EN 45).

Medien haben für viele Menschen heute eine umfassende Orientierungsfunktion. Regelmäßige Sendezeiten im Fernsehen und Hörfunk gliedern oftmals den Tagesablauf wie einst Gebetszeiten. Manche Sendungen verbergen kaum ihren pseudoreligiösen Charakter, so dass man heute von einer ”Medienreligion” spricht.

Eine Berichterstattung, die sich am christlichen Glauben orientiert, sowie erzählende Formen und Unterhaltungsbeiträge in Hörfunk und Fernsehen, die vor dem Hintergrund einer gläubigen Einstellung geschaffen wurden, bewirken oft mehr als ein ausdrücklicher Verkündigungsbeitrag. Untersuchungen über die sogenannten ”Schwarzen Serien” – Fernsehreihen, die über den Alltag eines Pfarrers oder einer Gemeindeschwester berichten – bestätigen dies eindrücklich. Medien können somit auch als Räume indirekter Verkündigung verstanden werden. Zugleich sind die religiösen Sendungen der Kirche, (Morgen-)Ansprachen, Gottesdienstübertragungen u. a. ein unverzichtbarer Bestandteil heutiger Glaubensverkündigung. Viele Menschen, Gläubige und andere warten täglich auf sie. Für Alte und Kranke sind sie oft der einzig mögliche Berührungspunkt mit Glaube und Kirche. Es ist erfreulich, dass auch Redaktionen der Hörfunk- und Fernsehanstalten auf die Dimension der ausdrücklichen Glaubensverkündigung als selbstverständlichen Programmteil nicht verzichten wollen.

Selbst säkulare Zeitschriften, Zeitungen und elektronische Medien bieten religiöse Information und setzen sich mit Fragen von Religion und Kirche auseinander. Doch ungeachtet vielfacher Konkurrenz durch die neuen Medien bleibt das Buch für die religiöse Bildung und geistliche Anregung unverzichtbar.

Eine besondere Herausforderung stellt das Internet dar. Wir wissen, dass vornehmlich junge Menschen darin eine Möglichkeit sehen, sich kommunikativ weltweit zu vernetzen. In der Wahrnehmung der Bedeutung dieses Mediums stehen wir sicher noch am Anfang. Aber Erfahrungen, z.B. der Katholischen Glaubensinformation, zeigen, dass die christliche Botschaft über dieses Medium weit über den Kirchenraum hinaus bekannt gemacht werden kann.

3. Zustimmung des Herzens

Im Zentrum aller pastoralen Bemühungen steht die Sorge um Glaubenserneuerung und Glaubensvertiefung als eine Hilfe, dem Gott des Lebens zu begegnen. Dazu gehört eine persönlich verantwortete, in eigener

Erfahrung verwurzelte Glaubensentscheidung. Das gilt nicht nur für die Getauften. Die Verkündigung des Evangeliums will alle Menschen erreichen, jene, denen das Evangelium noch nicht bekannt ist, und jene, die aus verschiedenen Gründen zögern und die Zustimmung zum Glauben noch nicht geben. Die Botschaft des Evangeliums will gehört, aufgenommen und angeeignet werden, sie sucht die Zustimmung der Herzen der Menschen zur Wahrheit des Glaubens. Das meint sicher ”die Zustimmung zu den Wahrheiten, die der Herr aus Barmherzigkeit geoffenbart hat”, aber es meint mehr noch die Zustimmung zum ”Programm eines verwandelten Lebens” (EN 23). Das Evangelium öffnet für einen neuen Blick auf die Welt, den Zustand der Gesellschaft, die Lage der Dinge, das Leben und das Zusammenleben der Menschen. Die Glaubenszustimmung ist Zustimmung zur Wahrheit und Wirklichkeit des von Gott geschenkten neuen Lebens.

Es geht um das Leben der Menschen

In der Verkündigung des Evangeliums geht es immer um das Leben des Menschen und um die Wahrheit seines Lebens, von der Geburt bis zum Tod und über den Tod hinaus. In unserer Zeit nehmen wir eine abnehmende Kirchlichkeit wahr und werden gleichzeitig Zeugen eines paradox anmutenden Phänomens wachsender Religiosität. Die Suche nach Religion, nach Sinn und Lebensdeutung, ist unübersehbar. Vielfach wird von einer Wiederkehr der Religion oder neuer Religiosität gesprochen. Gerade diese Beobachtung lädt dazu ein, mutig und unbefangen gegen völlig unbegründete Berührungsängste das Religiöse wieder in der säkularen Welt zu entdecken und das Evangelium weiterzusagen.

Das Denken und Empfinden der Menschen unserer Tage wird manchmal unter den Stichworten ”Verlust von Einheit und Identität” und ”Suche nach Halt und Mitte” beschrieben. Darin zeigen sich Markierungen, die einer missionarisch orientierten Kirche den Weg weisen. Es ist wohl an der Zeit, das Wort des Evangeliums allen Menschen guten Willens zu sagen. Dabei geht es nicht um eine neutrale Darstellung des Glaubens, sondern um die engagierte Einladung, Jesus Christus als der Mitte unseres Glaubens die Zustimmung des Herzens zu geben.

Die Einladung zum Glauben klingt vor allem dann kraftvoll und überzeugend, wenn die Zustimmung der Herzen derer zu spüren ist, die vom Glauben sprechen. Das Zeugnis des Lebens und des Wortes sowie die Zustimmung des Herzens, von denen hier die Rede ist, sind zunächst etwas, was im Leben der Getauften und in der Gemeinde geschehen muss. Die Verwandlung der Herzen ist eine Voraussetzung, das Evangelium glaubwürdig zu bezeugen.

Nicht selten sind es die ”Schlüsselereignisse” eines Lebens, die für neue Erfahrungen empfänglich machen. Das können Begegnungen mit Personen sein, die aus dem Strom des Lebens herausragen. Wendepunkte in unserem Leben können Gespräche sein, Höhen und Tiefen, Gipfelpunkte unseres Lebens und Erfahrungen von Existenznot. Die Verkündigung des Evangeliums wird die Zustimmung der Herzen bei den Menschen dann erreichen, wenn unsere Botschaft diese Wendepunkte und Schlüsselereignisse zu deuten vermag.

Gewinnung der Herzen ist Gottes Werk

Nicht menschliches Tun bewirkt den Durchbruch der Gnade. Allein Gottes freies Handeln kann das Menschenherz gewinnen. Aber es ist sicher auch richtig, dass das Handeln der Kirche und damit aller Getauften den Raum bereiten kann, dass Gottes Einladung angenommen wird. Dabei brauchen Christen sich nicht zu ängstigen im Blick auf die eigene Schwäche, Unvollkommenheit und ihr Verzagtsein. Wichtig ist, dass sie zum Zeugnis des Wortes und der Tat die Zustimmung ihres eigenen Herzens geben. Wie im Gleichnis vom Sämann beschrieben, wird eine Haltung der Großzügigkeit dazu beitragen, die Frohe Botschaft unverkrampft und freimütig weiterzusagen.

4. Eintritt in eine Gemeinschaft von Gläubigen

Die Glaubenszustimmung oder ”Zustimmung des Herzens” führt in eine Gemeinschaft, die dem Glauben entsprechende Gestalt zu geben vermag: die Gemeinschaft der Kirche. ”Eine solche Zustimmung, die nicht abstrakt und körperlos bleiben kann, offenbart sich konkret durch einen sichtbaren Eintritt in eine Gemeinschaft von Gläubigen”. Sie selbst ist ein ”Zeichen der Umwandlung” und ein ”Zeichen des neuen Lebens”, das ”sichtbare Sakrament des Heiles” (EN 23). Die Kirche bekennt Jesus als den ”Urheber und Vollender des Glaubens” (Hebr 12,2).

Biotope des Glaubens

Kirche wird konkret erfahren in der Gemeinschaft der Gläubigen. Das verpflichtet uns als Kirche zur Glaubwürdigkeit in unserem Verhalten und in unserer Lehre. Und es zwingt zu großer Aufmerksamkeit in heutigen Lebenssituationen, die manchmal verwirrend ”bunt” und vielgestaltig sind. Es gibt deshalb einen missionarischen Sinn, neue ”Glaubensmilieus” zu entdecken und Biotopen gleich zu gestalten.

Diese ”Biotope gelebter Christlichkeit” können Räume der Einübung, der Erprobung und Bewährung des christlichen Glaubensweges werden. Dies ist nicht neu, sondern ein Vorgang der Glaubensweitergabe von den Tagen der Urkirche an. Daher kann man auf beispielhafte Modelle in der Geschichte der Seelsorge zurückgreifen, in der immer wieder, der heutigen Zeit vergleichbare Situationen zu bewältigen waren. Aber es gilt auch kreativ zu werden, um an heutige Formen von Gruppenbildungen anzuknüpfen, besonders solche, die auf Solidarität, Selbsthilfe, Partizipation, Austausch und Vernetzung hin angelegt sind.

Christliche Gemeinden, Gemeinschaften und die neuen geistlichen Bewegungen bieten den Menschen einen Lebensraum an. Sie helfen dem Menschen, der nach Sinn sucht, in einem Netz von Beziehungen den Glauben zu erfahren und zu leben. Dabei geht es nicht um ghettoartige Fluchtburgen in einer pluralistischen Welt. Vielmehr werden die geistlichen Gemeinschaften und Bewegungen gerade im Kontakt zu anderen Initiativen in der Kirche der missionarischen Verkündigung dienen. Die Vielfalt der Gemeinschaften und Bewegungen hilft suchenden Menschen, auf eine ihnen jeweils entsprechende Weise die Antwort des Glaubens zu finden. Für Menschen, die nach einem intensiven und erfüllenden Glaubensleben streben, ist das besondere Profil einer solchen Gruppe wichtig.

Sakramente und Sendung

Die ”Zustimmung zur Kirche” verbindet sich mit dem ”Empfang der Sakramente”, die ”diese Zustimmung durch die Gnade, die sie vermitteln, bezeugen und bekräftigen” (EN 23).

Eine lebendige und persönliche Zustimmung schärft das Verständnis für das, was die Sakramente in der Kirche zum Ausdruck bringen wollen, nämlich Zeichen des Heils zu sein. Getaufte Christen veranschaulichen in diesem Sinn, was allen Menschen im Glauben verheißen ist. Gefirmte Christen tragen dieses Zeugnis so in die Welt, dass suchende Menschen auf die Früchte des Christusglaubens in der Kirche aufmerksam werden. Christen, die aus der Eucharistie leben, finden in diesem Sakrament immer wieder neu die Kraft, ihrer Berufung treu zu bleiben. Die Sakramente bergen in sich eine missionarische Kraft. Deshalb würde eine Kirche, die sich nur selbst genügte, ihre Türen nicht öffnen, sondern verschließen. Christliche Gemeinden und Gemeinschaften sind gerufen, den Glauben auf den ”Marktplätzen dieser Welt” zu verkünden und das Wort auszusäen.

Für die Erweckung eines ”missionarischen Bewusstseins” und auch für eine vertiefte Taufidentität in den Pfarrgemeinden ist der Katechumenat von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Der Katechumenat ist ein Glaubensweg für Erwachsene, an dessen Ende das Glaubensbekenntnis steht und die Aufnahme in die Kirche erfolgt. Auf diesem Weg zum Christwerden begleitet die Gemeinde den suchenden und fragenden Menschen. Hier sind es besonders die Laien, getaufte und gefirmte Christen, die zu Begleiterinnen und Begleitern werden. In einer Reihe von deutschen Diözesen werden mit dieser Pastoral bereits ermutigende Erfahrungen gemacht, die zeigen, dass eine qualifizierte Begleitung Erwachsener auf dem Weg zum Glauben positive Rückwirkungen auf das Gemeindeleben hat. Für die Kirche in Deutschland insgesamt ist die Zunahme von Taufbitten Erwachsener und Jugendlicher ein ermutigendes Zeichen für das Wirken des Geistes in unserer Zeit und für die bleibende Fruchtbarkeit des Glaubens.

Lebensräume für Menschen auf der Suche nach Sinn

Neben denen, die in der vollen sakramentalen Gemeinschaft stehen, gibt es aber auch viele, die mehr oder weniger am Rande des Christentums leben. Der blutflüssigen Frau im Evangelium gleich berühren sie ”nur” den Saum des Mantels Jesu (Mt 9,20 ff). Auch in engagierten gesellschaftlichen Gruppen kann Gottes Geist wirksam werden. Wo sich die Mitglieder solcher Initiativen dessen bewusst werden, wachsen sie auch in die Christusgemeinschaft hinein. Eine missionarische Kirche wird nach Kontaktmöglichkeiten suchen, diese Menschen auf ihrem Weg zu begleiten.

Besonders im Bereich der sogenannten Citypastoral und in kirchlichen Bildungshäusern gibt es ein Umfeld, in dem zeitlich kurze, aber unter Umständen sehr berührende religiöse Erfahrungen möglich sind, die oft gerade Fernstehende ansprechen.

In der Liturgie verfügt die Kirche über einen großen Schatz an Riten, Symbolen und Feiern, welche – angemessen gestaltet – auch Fernstehende ansprechen. In stilvoll gestalteter Feier und Festlichkeit kann fast unmittelbar die Welt des Transzendenten und des Heiligen erlebt werden. Gerade Kirchen im City-Bereich unserer Städte bieten sich an, durch qualifizierte musikalische Gestaltung, Predigten, Meditationen u.ä., durch das Angebot persönlicher Aussprache und Beichte (vgl. Umkehr und Versöhnung 4.5.1), aber auch als Räume der Stille und des Gebets ”Zaungäste” anzuziehen.

Jesus selbst hat seinen Glauben und seine Verkündigung nicht anders gelebt. Er wollte alle Menschen für ein Leben in der Freiheit des Glaubens gewinnen. Viele haben ermutigende Begegnungen mit ihm gehabt und daraus eine neue Zuversicht und neue Orientierung gewonnen. Einige – die Frauen und Männer im Jüngerkreis und die Apostel – haben sich von ihm so sammeln lassen, dass ihre Gemeinschaft mit dem Herrn zum Abbild für das wurde, was Kirche als Sakrament für die Welt ausmacht. In dieser Gemeinschaft hat Jesus ausgesprochen und getan, was allen Menschen für alle Zeiten im Glauben verheißen ist. Aus der Sammlung beim Herrn haben die Apostel Kraft und Auftrag empfangen, ”zu allen Völkern zu gehen…” (Mt 28,19f). Aus dieser Dynamik sammelte sich nach Ostern die weltweite Kirche. Hierin besteht das Abenteuer des Glaubens auch heute, in einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs und der kirchlichen Neuorientierung. Es bedarf des Vertrauens und der Offenheit, um als Kirche wieder missionarischer zu werden.

Die Tatsache einer zwar noch kleinen, aber stetig wachsenden Zahl von Erwachsenentaufen in Deutschland macht darauf aufmerksam, dass bei einer schon länger anhaltenden Entfremdung von Kirche und christlicher Lebenspraxis auch mit einem neuen Fragen nach Christentum und Kirche zu rechnen ist. Je größer die Entfremdung, um so unbefangener und unbelasteter kann ein neuer Zugang zu dem möglich sein, was tragender kultureller Grund für die Gesellschaft auch morgen bleiben wird. Es scheint, als ob dies in den neuen Bundesländern deutlicher zu spüren ist als in den noch ”christentümlich” geprägten Regionen Deutschlands.

Die Pfarrgemeinden (bzw. Pfarrverbände oder generell Zusammenschlüsse und Kooperationen von Pfarrgemeinden) sind als Raum einer Gemeinschaft von Gemeinschaften unverzichtbar. Was hier geschieht, hat stets auch eine missionarische Dimension. Denn alle Dienste und Aktivitäten dienen gleichermaßen der Sammlung (Communio) und der Sendung (Missio). Dies gilt für den Gottesdienst ebenso wie für alle anderen pastoralen Angebote.

Dabei ist nicht zu übersehen, dass gegenwärtig viele Pfarrgemeinden auf Grund von Umstrukturierungen eine Zeit der Krise erleben. Zu der Frage, was von bisherigen Aufgaben noch leistbar sein wird, kommt die nicht minder drängende Frage, was zu tun ist, um Menschen mit der christlichen Botschaft überhaupt in Berührung zu bringen. Bei allen Strukturfragen ist also die missionarische Dimension mitzubedenken.

Über den Bereich der Pfarrgemeinde hinaus wird es eine Vielzahl an Möglichkeiten geben müssen, von denen einige hier nur aufgezählt sein sollen:

– kategoriale Seelsorgebereiche,

– Verbände und ihre Einrichtungen,

– neue geistliche Gemeinschaften und Bewegungen,

– christliche Dritte-Welt-Gruppen,

– kirchliche Bildungs- und Begegnungsstätten,

– spezialisierte Angebote in Klöstern, Beichtkirchen, Innenstadtpfarreien und Wallfahrtsorten,

– Orte des Kontaktes in der City- und Passantenpastoral,

– Angebote an der Schnittfläche von Kirche und Kunst,

– Zwischenräume und Vorräume der Begegnungen und des Gesprächs,

– gesellschaftlich-caritative Einsätze,

– Besuchsdienste (bei Neuzugezogenen, an Geburtstagen, in Krankenhäusern).

Im Blick auf diese Möglichkeiten, dürfen wir feststellen, dass es bereits viele gute Erfahrungen gibt, die Mut zu missionarischer Seelsorge machen.

5. Beteiligung am Apostolat – selbst in die Sendung eintreten

”Wovon das Herz voll ist, davon spricht der Mund.” Dieses Wort aus dem Evangelium (Mt 12,34) gilt gerade für den religiösen Bereich. Wer erfüllt ist vom Reichtum der frohen Botschaft, fühlt sich gedrängt, ihn mit anderen zu teilen. ”Wir können unmöglich schweigen über das, was wir gesehen und gehört haben”, beteuern die Apostel vor dem Hohen Rat (Apg 4,20). Die Möglichkeiten, vom Glauben zu sprechen, sind so bunt und vielfältig wie die Situationen unseres Lebens, in die wir gestellt sind. Auf das Zeugnis des Lebens und des Wortes wurde bereits hingewiesen. ”Evangelii nuntiandi” nennt noch ausdrücklich die Verpflichtung der Christen ”zu neuem Apostolat”. Hier wiederholt sich gewissermaßen der Zirkel von Lebenszeugnis und Zeugnis des Wortes: Aus dem Eintritt in die Gemeinschaft der Kirche und dem Empfang der Sakramente resultiert erneut der Auftrag zum Apostolat. Aus der Sammlung wird erneut Sendung.

Die Welt in Gott gestalten und verändern

In vielfältiger Weise, in den sozialen wie in den kulturellen Bereichen des Lebens, also in Beruf und Freizeit, wird der Christ selbst zum ”Apostel”, zum Gesandten Christi (vgl. 2 Kor 5,20); jeder persönlich in seinem eigenen Lebensbereich, aber auch gemeinsam mit anderen. Christen sind ja mitverantwortlich für die Atmosphäre, die in der heutigen Gesellschaft herrscht, damit menschengerechte Verhältnisse entstehen können und die Art, wie wir miteinander umgehen, menschenfreundlicher wird.

Unersetzlich sind die vielen Frauen und Männer, die sich für einen Dienst in der Pfarrgemeinde zur Verfügung stellen. Ohne ihre Hilfe im Pfarrgemeinderat, in den Ausschüssen, in der Mitgestaltung der Gottesdienste, als ”Tischeltern” bei der Vorbereitung auf Erstkommunion und Gruppenbegleiterinnen und -begleiter bei der Firmung und ohne die vielfältigen Einsätze vom Kirchenchor bis zum Altardienst wäre ein Pfarrleben nicht denkbar. Somit sind alle ein lebendiges Zeugnis des Glaubens und künden von der Botschaft Jesu, der gekommen ist, den Menschen zu dienen.

Einen besonderen Reichtum kirchlichen Lebens in Deutschland stellen die Verbände dar, die ihren Ort am Schnittpunkt von Kirche und Gesellschaft haben. Dies gibt ihnen insbesondere die Möglichkeit, den christlichen Weltauftrag spezialisiert wahrzunehmen. Indem die Verbände Überzeugungen des christlichen Glaubens und seine Wertvorstellungen in die verschiedenen Räume von Staat, Kultur und Gesellschaft durch Wort und Tat einbringen, sind sie und mit ihnen die Kirche missionarisch geprägt. Selbst, wenn die Mitgliederzahlen eines Verbandes abnehmen, dürfen wir hoffen, dass auch profilierte Minderheiten in der Gesellschaft wahrgenommen werden und Einfluss nehmen können. Wer sich der Bedeutung des christlichen Beitrags für die Gesellschaft bewusst wird, verliert Ängstlichkeit und Kleinmut. Christliche Werte der Solidarität und Geschwisterlichkeit sind gerade in einer Welt des Konkurrenzkampfes, der Vereinsamung und Vermassung von besonderer Bedeutung, soll die Gesellschaft als humaner Lebensraum erhalten bleiben. Dass Solidarität und soziale Gerechtigkeit heute globale Fragen sind, wird durch das

Engagement von Verbänden und Dritte-Welt-Gruppen vielfach bewusst gemacht.

Dienst an Hilfsbedürftigen

In jeder Epoche haben Frauen und Männer in christlicher Verantwortung die Gesellschaft verändert. Christlich geprägte soziale Bewegungen bemühen sich um den unterdrückten und ausgenutzten Menschen und setzen sich für mehr soziale Gerechtigkeit ein. Zahlreiche Ordensgemeinschaften versuchen, die auch heute vorhandene vielfältige Not zu lindern.

Eine große Gabe und Aufgabe der Kirche ist die Caritas. Hier wird ihr in der Gesellschaft Kompetenz zugestanden, weit über den kirchlichen Bereich hinaus. Die Caritas bringt eine Fülle von Diensten in die Gesellschaft ein und hat ein Netz von Hilfeleistungen für Notsituationen geknüpft, die von der öffentlichen Hand nicht mehr aufgefangen werden. Darin liegt die Chance, deutlich zu machen, dass Gottes Liebe zu den Menschen diese Welt gestalten und verändern will und kann.

Kirchliche Caritas erfüllt ihre Aufgabe auf zweierlei Weise. Die organisierten und professionell ausgestatteten Einrichtungen christlicher Hilfsbereitschaft sind ebenso unverzichtbar wie die caritativen Aktivitäten der Pfarrgemeinden, Gemeinschaften und Verbände, Nachbarschaften, Familien und einzelner Christen. Es braucht offene Augen, Spontaneität und direkte Zuwendung, um die Nöte der Menschen zu entdecken und aufzufangen. Es ist eine wichtige Aufgabe aller, sich der Menschen in Not in besonderer Weise anzunehmen. Letztlich gilt die allen Menschen erwiesene Hilfe und Liebe Jesus Christus selbst (vgl. Mt 25,31-46).

Eine Brücke vom Evangelium zur Kultur

Neben der Caritas gilt es daran mitzuwirken, die Lebensräume der Menschen zu gestalten, also die Kultur zu prägen. Der Begriff ”Kultur” wird hier in einem weiteren ”anthropologischen” Sinn verstanden als Inbegriff von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitte und allen übrigen Fähigkeiten und Gewohnheiten, welche der Mensch als Glied der Gesellschaft sich angeeignet hat.

In diesem umfassenden Sinn von Kultur bezeichnet Paul VI. den ”Bruch zwischen Evangelium und Kultur” als ”das Drama unserer Zeitepoche”: ”Man muss … alle Anstrengungen machen, um die Kultur, genauer die Kulturen, auf mutige Weise zu evangelisieren. Sie müssen durch die Begegnung mit der Frohbotschaft von innen her erneuert werden” (EN 19). Die Frohbotschaft betrifft also das Lebensgefühl, das Selbstverständnis der Menschen einer Zeit und alle Formen der Lebensgestaltung. Kultur ist der Raum, den das Evangelium prägen soll, in den es sich ”inkulturiert”.

Das Evangelium fordert die Kultur einer Zeit heraus, bestätigt sie in dem, was wertvoll ist, korrigiert sie dort, wo sie inhuman zu werden droht. Im Letzten geht es darum, dass Menschen erfahren, wie die Frohbotschaft ihren Lebensentwürfen Sinn und Hoffnung vermittelt. Die Botschaft, dass Gott uns Raum gibt und dass er gekommen ist, um bei uns Raum zu finden, ist letztlich Sinn und Hoffnung jeder menschlichen Kulturleistung.

Eine exemplarische Bedeutung in der Gestaltung des kulturellen Lebens kommt den katholischen Schulen zu, in denen junge Menschen herangebildet werden, die durch ihre christliche Überzeugung, wo immer sie tätig sein werden, die Gesellschaft nachhaltig mitprägen können. Aber auch in den staatlichen Ausbildungsstätten vermögen überzeugte katholische Lehrer und Lehrerinnen wie ein Sauerteig zu wirken.

Manchmal wird das christliche Brauchtum in Familie und Gemeinde übersehen oder man schätzt es gering. Und doch wird dort erlebnismäßig vertieft, was unser Glaube ist. Die Kirche will die Botschaft des Evangeliums und die Geheimnisse des Glaubens im Laufe des Jahreskreises immer neu erlebbar machen. Sie führt Menschen aller Bildungsstufen und Gesellschaftsschichten, Erwachsene wie Kinder, durch große und kleine Feste in das Geheimnis der Erlösung ein. Besonders die Lesungen aus der Heiligen Schrift geben im Verlauf des Kirchenjahres bzw. mehrerer Lesejahre einen umfassenden Einblick in die Heilsgeschichte Gottes mit seinem Volk. Die lebendige Mitfeier des Kirchenjahres ist eine bewährte Einführung ins Christentum und eine hilfreiche Begleitung im Glauben.

Dieser Gang durch das Kirchenjahr lässt auch das Leben im Alltag miteinschwingen. Die Gläubigen werden angeregt, in Familie und Nachbarschaft das, was sie im Gottesdienst erfahren haben, weiter zu feiern und zu vertiefen. Dabei wird das profane Leben beeinflusst. Auf diese Weise kann sich dann aus der Verbindung von Glaube und Leben eine christliche Alltagskultur entwickeln, die Menschen prägt und die sogar noch gepflegt wird, wenn die Bindung an Glaube und Kirche lockerer wird. Hier böten sich geeignete Anknüpfungspunkte, auf die Wurzeln dieser Riten und

Gebräuche zu verweisen und zu einer neuen Begegnung mit der Kirche einzuladen. Umfassende Verkündigung kann dazu beitragen, dass sich neues, der Zeit und den gesellschaftlichen Gegebenheiten entsprechendes Brauchtum, zu entwickeln vermag. Denn eine lebendige religiöse Kultur und Volksfrömmigkeit ist eine Stütze im Glaubensleben einer Gemeinschaf (vgl. EN 48).

Sendung der Orden

In den Zeiten großer pastoraler Herausforderungen nehmen Frauen und Männer den Ruf Gottes in besonderer Weise auf, das Evangelium zu leben und zu lehren. Auf diese Weise entstehen apostolisch und kontemplativ geprägte Ordensgemeinschaften, und sie verstehen sich als eine Antwort auf den Ruf Gottes zu missionarischem Dienst. Sie stellen sich der Herausforderung, ihr Charisma unter den jeweiligen Bedingungen von Kirche und Gesellschaft auszuprägen. In der missionarischen Sendung der Kirche kann sich an ihrem Leben die Werteordnung des Evangeliums ablesen lassen. Sie stehen nicht am Rand der Kirche, sondern sind sichtbare Zeichen gelebten Evangeliums. Ein Prozess ständiger Erneuerung aus den Quellen ihrer Spiritualität unter den Bedingungen unserer Zeit ist ihnen aufgetragen.

Auch für andere den Glaubensweg gehen

Wer glaubt, wer betet, wer den Weg des Glaubens geht und wer anderen dazu verhilft, diesen Weg mitzugehen, tut das nicht allein. Wir können ein solches Leben nur leben in der Verbundenheit mit Jesus Christus und seiner Kirche. Es ist für den glaubenden Menschen lebensnotwendig, Eucharistie zu feiern, Gott zu loben, ihm zu danken und ihn zu bitten, auch wenn wir dabei feststellen müssen, als Christen einer Minderheit anzugehören. Diese Erfahrung machen nicht wenige auch in ihrem engeren Lebenskreis der Familie und im Freundeskreis. Diejenigen, die sich zu einem Leben in der Kirche entschieden haben, leben ihr Christsein nicht nur für sich selbst, sondern immer auch für andere. Ihre Weggemeinschaft in der Kirche wird zur Stellvertretung für die, die ihnen anvertraut sind und die diesen Weg nicht mitgehen wollen oder können. Dies gilt für die Einzelnen, für die Pfarrgemeinden und für alle Gemeinschaften von Christen. Stellvertretung im Lob Gottes und im Gebet für die Menschen ist eine erste und grundlegende Form missionarischer Sendung. Wie Christus auf seinem Weg vom Vater in die Welt und aus der Welt zum Vater grundsätzlich alle einbezogen hat, so sind auch die Christen aufgerufen, ihren christlichen Weg mit allen und für alle Menschen zu gehen. Für die christlichen Eltern, die miterleben müssen, wie ihre Kinder sich vom Glauben entfernen, mag es ein Trost sein zu wissen, dass durch das unermüdliche Gebet und unaufdringliche Zeugnis des Lebens die Einladung zum Glauben lebendig bleibt.

Rückblick und Ausblick

”Ein Sämann ging aufs Feld um zu säen”. Ein längerer Weg wurde abgeschritten, um die in diesem biblischen Bild angedeutete Dimension einer missionarischen Verkündigung in den Blick zu bekommen. Vieles konnte nur angedeutet werden, anderes ist unausgesprochen geblieben. Dennoch hat das biblische Gleichnis geholfen, die drei wesentlichen Aspekte des Vorgangs ”Mission” zu bedenken: Das Ackerfeld, auf dem der Same ausgestreut werden muss; die innere Einstellung des Sämanns, der in Gelassenheit und mit Zuversicht das Samenkorn diesem Acker anvertraut; und schließlich den Vorgang des Wachsens und Reifens der Saat, der den Gedanken des Weges und Sich-Entwickelns mit einbezieht, ohne den missionarische Verkündigung weder früher noch heute vorstellbar ist.

Vermutlich verliert in unserer Generation eine Gestalt des Christwerdens ihre Dominanz: die vornehmlich pädagogisch vermittelte Gestalt der Weitergabe des christlichen Glaubens, die seit dem Beginn der Reformationszeit bzw. der Gegenreformation bestimmend gewesen ist, ähnlich wie seit frühmittelalterlichen Zeiten die ”soziale” Gestalt der Glaubensvermittlung vorherrschend gewesen war. Wir treten jetzt in eine Zeit ein, in der christlicher Glaube missionarisch-evangelisierend in der Generationenabfolge weitergegeben werden muss. Damit nähern wir uns – freilich in einem völlig anderen gesellschaftlichen Umfeld – in bemerkenswerter Weise wieder der Situation des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten seines Bestehens an. Dort trafen die Menschen, die sich einer christlichen Gemeinde anschlossen, in der Regel die Entscheidung für Taufe und Nachfolge Christi eigenständig. Selbst wenn schon sehr früh auch Kleinstkinder (im Rahmen der antiken Großfamilie) getauft wurden, so war der Anschluss an die christliche Kirche für den Einzelnen eben doch nicht selbstverständlich. Angesichts der ”Fremdheit” des Christlichen in einer religionsgesättigten Welt der Spätantike – übrigens eine interessante Parallele zum heutigen ”Religionsboom” in einer nachchristlichen Gesellschaft – waren die Interessierten immer wieder neu herausgefordert, sich bewusst für den ”Mehrwert” des Christlichen zu entscheiden. Dahin wird sich wohl auch die Pastoral in Zukunft entwickeln.

Das Thema ”missionarische Pastoral” liegt in der Luft. Allenthalben – nicht nur in der katholischen Kirche, sondern auch im ökumenischen Umfeld – spürt man das drängender werdende Fragen nach der missionarischen Kraft des Evangeliums. Auch aus anderen Ortskirchen, in Europa und weltweit, kommen wichtige Anstöße zur Erneuerung einer missionarischen Pastoral. Dieses drängende Thema darf nicht nur Einzelnen oder wenigen Gruppen in den Kirchen überlassen bleiben. Das vorliegende Schreiben versteht sich als ein Beitrag zu diesem immer aktueller werdenden Gespräch.

 

Brief eines Bischofs aus den neuen Bundesländern über den Missionsauftrag der Kirche für Deutschland

Liebe katholische Mitchristen!

Unserer katholischen Kirche in Deutschland fehlt etwas. Es ist nicht das Geld. Es sind auch nicht die Gläubigen.

Unserer katholischen Kirche in Deutschland fehlt die Überzeugung, neue Christen gewinnen zu können.

Das ist ihr derzeit schwerster Mangel. In unseren Gemeinden, bis in deren Kernbereiche hinein, besteht die Ansicht, dass Mission etwas für Afrika oder Asien sei, nicht aber für Hamburg, München, Leipzig oder Berlin.

Im Normalfall vertrauen wir als Mittel der ”Christenvermehrung” auf die Taufe der Kleinstkinder. Dagegen ist im Grunde auch nichts zu sagen. Es ist freilich heutzutage nicht das Selbstverständlichste von der Welt – weder in Thüringen noch in Bayern –, dass alle als Kleinstkinder Getauften auch wirklich ”nachhaltig” Christen werden. Manche katholische Eltern spüren das selbst sehr schmerzlich, wenn sie sehen, wie sich ihre Kinder trotz allen Bemühens von der Kirche entfernen. Wir trösten uns dann schnell mit dem Spruch: ”Die Verhältnisse heute sind eben so!” Und von manchen wird noch nachgeschoben: ”Die Kirche ist ja z.T. selbst daran schuld!”, wobei gemeint ist, dass sie sich eben nicht genug heutigen Lebenseinstellungen und Gewohnheiten anpasse.

Es ist eine Tatsache, dass religiöse Vorgaben, überhaupt gesellschaftliche Gepflogenheiten heute nicht mehr so fraglos übernommen werden wie in vergangenen Generationen. Darüber zu klagen ist wenig sinnvoll. Es ist einfach so, und wir beobachten solches Verhalten auch an uns selbst.

Dies bringt, so meine ich, eine entscheidende Chance mit sich: Der christliche Glaube wird wieder neu zu einer echten persönlichen Entscheidung. Das Traditionschristentum wandelt sich mehr und mehr zu einem Wahlchristentum. Damit rücken wir wieder an die Ursprungszeit des Christentums heran, in der der Taufe die persönliche Bekehrung voranging – ohne dass die ständige Umkehr nach der Taufe unnötig wurde!

Nun wissen wir: Bekehrungen sind nicht zu ”machen”. Sie stellen sich nicht auf Befehl ein. Nur Gott allein kann Menschen zu Umkehr und Lebenserneuerung bewegen. Doch ist – und dieser Gedanke bewegt mich zu diesem Brief – diese Aussage kein Alibi dafür, die Hände in den Schoß zu legen und auf das göttliche Wunder einer automatischen ”Christenvermehrung” zu warten.

Wir alle stehen in der Sendung Jesu. Er verstand sich als der ”Bote Gottes”, als ”Evangelist” für sein Volk und die Menschen seiner Zeit. Er hat die Jünger, und somit auch uns eindringlich aufgefordert, selbst seine Boten für die Zeitgenossen zu werden. ”Macht alle Menschen zu meinen Jüngern!”, ruft der auferstandene Herr auch der Kirche unserer Tage zu. Und das ist durchaus programmatisch gemeint.

Wie antworten wir auf diese Aufforderung? Sagen wir wie die Jünger nach erfolglosem Fischfang: ”Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen”? Ein Pfarrer sagte mir einmal halb ernst, halb scherzhaft: ”Ich habe hier an meinem Ort mit ,fortlaufendem Erfolg’ gearbeitet!” Und er meinte damit, dass sich die Katholikenzahl in den letzten 20 Jahren seines Wirkens um die Hälfte verringert hat. Die Jünger belassen es bekanntlich nicht bei ihrem resignativen Stoßseufzer. Petrus, als ihr Sprecher, rafft sich in dieser biblischen Szene auf und fügt hinzu: ”Doch wenn Du es sagst, werde ich (noch einmal) die Netze auswerfen!” Das klang zwar auch nicht sonderlich begeistert, aber es war immerhin ein Anfang!

Ich habe die Vision einer Kirche in Deutschland, die sich darauf einstellt, wieder neue Christen willkommen zu heißen. Diese Vision wird hier und da schon Realität. Im Jahr 1998 wurden in allen deutschen Diözesen 248000 Kleinstkinder getauft, aber auch 3500 Jugendliche bzw. Erwachsene. Je mehr sich Menschen, zum Teil schon in der zweiten und dritten Generation von der Kirche entfernt haben, desto mehr wird es Einzelne geben, die sich aufgrund persönlicher Entscheidung Gott und der Kirche zuwenden wollen. Es wird in Zukunft Frauen und Männer geben, die – obwohl getauft, aber später nicht voll in die Kirche eingegliedert – das Verlangen haben, als Erwachsene diese ”Einführung in das Christ-Sein” nachzuholen. Es gibt nicht nur Menschen, die die Kirche (in der sie oft gar nicht richtig verwurzelt waren) verlassen. Es gibt zunehmend auch Zeitgenossen, die nach dem ”Eingang” fragen, der in die Kirche hineinführt. Es ist entscheidend, wen sie in diesem Eingangsbereich treffen. Es wird wichtiger werden als bisher, wie sie dort empfangen werden.

Liebe Mitchristen!

Was muss geschehen, damit die katholische Kirche in unserem nun geeinten Deutschland wieder Mut fasst, ihren ureigensten Auftrag anzugehen. Die Kirche ist nicht um ihrer selbst willen da. Sie soll Gottes Wirklichkeit bezeugen und möglichst alle Menschen mit Jesus Christus, mit seinem Evangelium in Berührung bringen.

Eine verdrossene und von Selbstzweifeln geplagte Kirche kann das freilich nicht; auch nicht eine Kirche, die sich vornehmlich mit sich selbst beschäftigt. Was ist zu tun?

Aus Verdrossenheit und Selbstzweifeln kommt man am schnellsten heraus, wenn man sich einer lohnenden Aufgabe zuwendet, noch besser: wenn man sich einem Mitmenschen zuwendet. Auf unsere Kirche, besonders in den neuen Bundesländern, aber eben nicht nur dort, wartet eine solche lohnende Aufgabe. Es warten Menschen auf unser Lebenszeugnis. Sie warten darauf zu erfahren, was Jesus Christus für uns im Alltag unseres Lebens bedeutet. Sie warten nicht nur darauf, sie sind schon dabei, dies unauffällig, aber kritisch-interessiert zu beobachten.

”Zuwendung zu den Menschen” – natürlich geschieht das immer schon in unseren Diözesen, Tag für Tag, durch tausende Frauen und Männer – ausdrücklich im Auftrag der Kirche oder einfach als Mensch unter Mitmenschen. Auf diese Präsenz unserer Kirche mitten in der Gesellschaft – im Geist und in der Gesinnung Jesu – bin ich stolz. Das ist der eigentliche Reichtum der Kirche.

Meine Frage lautet: Wäre dieses ”Kapital” nicht zu nutzen? Ist in dieser Zuwendung zu den Menschen nicht angelegt, was wir ”Mission” und ”Evangelisierung” nennen? Ich gebe zu: Diese Begriffe haben für manche Zeitgenossen, auch für manche Katholiken einen Unterton, der nach Belehrung, ja nach Indoktrination riecht. Wir sollten daher bei ihrem

Gebrauch vorsichtig sein. ”Mission” heißt für mich schlicht: Das weitersagen, was für mich selbst geistlicher Lebensreichtum geworden ist. Und ”Evangelisieren” meint: Dies auf die Quelle zurückführen, die diesen Reichtum immer neu speist: auf das Evangelium, letztlich auf Jesus Christus selbst und meine Lebensgemeinschaft mit ihm. Nicht die Begriffe sind wichtig. Es geht um die gemeinte Sache.

Um es einmal in einem Bild zu sagen:

Wer zu einem Fest einladen will, wird sich um drei Dinge zu sorgen haben:

1. dass seine Einladung glaubwürdig ist;

2. dass sie wirklich ”ankommt” und

3. dass sie Vorfreude weckt.

Ich wage diesen Vergleich im Umfeld des Themas ”missionarische Kirche” heranzuziehen, weil Jesus selbst in seinen Gleichnissen häufig das Bild vom ”Gastmahl” benutzt hat. Damit hat er Gottes Absichten mit uns Menschen verständlich zu machen gesucht.

Von diesem Bild ”Einladung zu einem Fest” ausgehend, skizziere ich drei Herausforderungen für eine ”missionarische und evangelisierende Kirche” in Deutschland:

I. Neu entdecken, dass der Glaubensweg in der Nachfolge Jesu freisetzt und das Leben reich macht.

Am Beginn jeder Evangelisierung der Welt steht unsere ”Selbstevangelisierung”. Wir sind als Christenmenschen auf einem Weg. Wir stehen nicht am Anfang. Wir haben schon vom Evangelium ”geschmeckt”. Wir haben schon gute Erfahrungen mit Gott und dem Christsein gemacht. Und genau diese, durchaus anfanghaften und scheinbar so unbedeutenden eigenen Erfahrungen sind die Grundlage für unsere Befähigung, das Evangelium für andere interessant werden zu lassen.

Für mich kann ich bezeugen: Die geistige Armut des alten ideologischen Systems im Osten Deutschlands hat mich meinen katholischen Glauben als Bereicherung erfahren lassen: sein Menschenbild, seine Welt- und Lebensdeutung, seine sittlichen Grundsätze und kulturellen Ausprägungen. Ich habe mich als katholischer Christ in den DDR-Jahren ”freigesetzt” gefühlt, nicht: ”kirchlich gebunden”. Nach zehn Jahren Erfahrung mit der ”Nachwende-Gesellschaft” und ihren (zugegeben!) andersartigen ”Torheiten” habe ich bis heute noch keinen Grund gefunden, diese Einschätzung zu revidieren. Sind ähnliche Erfahrungen nicht auf andere Weise auch ”im Westen” gemacht worden?

Meine Erfahrung ist: Nichtkirchliche Zeitgenossen reagieren dort sehr aufmerksam, wo Christen in Gesprächen, in Alltagsbegegnungen mit eigenen Lebenserfahrungen ”herausrücken”. Persönliches interessiert immer! ”Wie hast Du das gepackt?” ”Wie ist es Dir damit ergangen?” Christen, die andere an ihrem Leben teilhaben lassen, gerade auch, wenn es nicht glatt und problemlos verläuft, sind für ihre Umwelt interessant. Unser eigener, ganz persönlicher Gottesglaube, auch mit seinen Zweifeln und Fragen, muss ”sprechend” werden – in Worten und Taten. Wer die Höhen und Tiefen seines eigenen Lebens mit österlichen Augen ansehen und deuten kann, kann auch anderen helfen, die eigene Biographie in neuem Licht zu sehen.

Wo dieses ”Zeugnis des Lebens” gegeben wird, da öffnen sich Türen und Herzen. Da bekommen andere Mut, ebenfalls christliches Verhalten zu ”erproben”. Da erhalten alte Worte auf einmal wieder neuen Glanz, Worte etwa wie: Ehrfurcht und Staunen, Mitleid und Fürsorge, Selbstbegrenzung und Maß, um nur einige christliche Grundhaltungen zu nennen, die derzeit wieder hochaktuell sind. Wir sind reicher als wir meinen. Christen wissen um Hoffnungsgüter, von denen die Zukunft leben wird.

Das führt mich zu einer zweiten Herausforderung für uns Katholiken in Deutschland:

II. Häufiger, selbstverständlicher und mit ”demütigem Selbstbewusstsein” von Gott zu anderen sprechen

Ist das ein zu verwegener Gedanke? Mir ist bewusst: Die Menschen sind heute gegenüber Werbung, zumal wenn diese sich zu aufdringlich gibt, kritisch. Das gilt auch gegenüber religiöser Werbung. Die Menschen wollen nicht das Gefühl haben, als ”Mitglieder”, womöglich für eine Großorganisation, angeworben, gleichsam ”vereinnahmt” zu werden.

Vielen Zeitgenossen erscheint unsere Kirche als eine Art ”Großkonzern”, als eine Art ”global player”, dem es durchaus mit Respekt, aber eben auch mit der nötigen Vorsicht zu begegnen gilt. Anders ist es, wenn Menschen von der Kirche ”Gesichter” sehen. Und das sollte möglichst nicht nur der Papst sein. Mein Standardbeispiel für dieses Verlangen ist der Ausruf

eines Kranken, den der Gemeindepfarrer nach längerer Zeit nun doch besuchen kam, und der den Seelsorger mit dem freudigen Satz begrüßte: ”Das ist aber schön, Herr Pfarrer, dass die Kirche (!) einmal nach mir schaut!” Wir sind für mehr Leute ”Kirche” als wir ahnen!

Gibt es für uns alle nicht tausend Möglichkeiten, so nach den Menschen zu schauen – mit den Augen Jesu, mit der Bereitschaft, wie er in Wort und Tat zu sagen: ”Bruder, Schwester, komm – steh auf!” ”Lass Dir sagen: Du bist nicht allein! Du bist angenommen! Du bist gewollt! Du bist geliebt!” In solchen Worten ist für mich das ganze Evangelium auf den Punkt gebracht. Denn es sind Worte, die eben nicht wir sprechen, sondern die durch uns Christus, der Herr, zu den Menschen spricht.

Es gibt in unseren gesellschaftlichen Breiten die verständliche Scheu, vorschnell religiöse Vokabeln zu gebrauchen. Doch darf diese Scheu nicht dazu führen, dass wir geistlich ”stumm” werden. Folgende Erfahrung sollte uns Mut machen: Wirklich Authentisches hat auch heute seine Faszination! Wer einen anderen wirklich gern hat, wer ihm von Herzen gut sein will, der wird die rechte Art und Weise finden, ihn auch mit Gott und seiner Liebe in Berührung zu bringen. Und zwar ”ausdrücklich”, denn unser Gott hat ein ”Gesicht” und einen Namen, den man anrufen kann.

Wer einmal Pfarrgemeinden in der sogenannten ”Dritten Welt” oder auch in Osteuropa besucht hat, der hat dort u.U. eine Unbefangenheit und Selbstverständlichkeit des Christseins kennen gelernt, die hierzulande kaum noch anzutreffen sind. Mit Freude, ja mit Stolz ”zeigen” dort die Menschen ihr Christsein. Sie, die oftmals materiell sehr arm sind, können uns mit ihrer ungekünstelten Freude und Einfachheit wirklich ”reich” machen. Nach solchen Begegnungen spüre ich deutlicher als jetzt am Schreibtisch, was uns Katholiken in Deutschland fehlt.

Und eine dritte Herausforderung sollte einer ”missionarischen Kirche” vor Augen stehen, oder besser gesagt: Wir brauchen als Kirche eine Vision:

III. Die Vision des ”Festes”, zu dem Gott uns alle einladen will. Wir brauchen die Vision Jesu vom Gottesreich, das schon hier und jetzt, mitten unter uns da ist.

Etwa in der Art und Weise, wie wir jetzt Gottesdienst feiern, wie wir uns begegnen, wie wir miteinander und mit unseren Problemen umgehen, wie wir anderen, nichtkirchlichen Zeitgenossen begegnen. In all diesen scheinbar alltäglichen Dingen kann sich ”Reich Gottes” ankündigen, auch wenn wir durchaus realistisch unsere menschliche Unzulänglichkeit und erbsündliche Gebrochenheit mit in Rechnung stellen.

Noch kürzer gesagt: Wer mit Kirche zum ersten Mal in Berührung kommt, sollte damit rechnen dürfen, willkommen zu sein. Das ”Bodenpersonal Gottes” darf nicht kleinlich sein, wenn Gott selbst großzügig ist. Kirche ist zwar nicht für alles, aber doch ”für alle” da. Die Kerngemeinde muss beispielsweise lernen, auch mit den kirchlich nicht ganz ”Stubenreinen” gut umzugehen. Hier tun wir uns bekanntlich sehr schwer. Auch unabhängig von der Frage nach der Zulassung zu den Sakramenten müssen die Menschen spüren: Wir sind in der Gemeinde willkommen. Zeichen des ”Willkommen-Seins” sind ja nicht nur die Sakramente. Der ganze Bereich der außersakramentalen Zeichen, die ja auch ”Gottesberührungen” sind, wird zunehmend an Bedeutung gewinnen. Gerade auf diesem Feld hat unsere katholische Kirche eine reiche Erfahrung. Diese gilt es zu nutzen und weiterzuentwickeln.

Wir brauchen in unseren Ortskirchen ”Biotope des Glaubens”, existentiell glaubwürdige ”Lernfelder”, in denen christliche Lebenshaltungen eingeübt werden können. Das werden vornehmlich unsere Pfarrgemeinden mit ihren Lebenszellen sein, etwa kleinere Gruppen, in denen z.B. erwachsene Taufbewerber begleitet werden. Aber wir müssen im Blick auf die ”bunten” Lebenssituationen der Menschen uns vermutlich noch andere christliche ”Milieu-Formen” in dieser postmodernen Gesellschaft einfallen lassen.

Ich denke an die vielen Ungläubigen und ”Halbgläubigen”, die in Zukunft vermehrt mit der Kirche Berührung suchen werden, etwa beim festlichen Weihnachtsgottesdienst, bei der Einschulung ihrer Kinder, bei der Beerdigung eines Angehörigen, in eigener Krankheit oder manch anderen Situationen. Es gibt Erwartungen an die Kirche, die wir nicht leichthin abtun sollten. Wir sind nicht nur für die ”Hundertprozentigen” da. Wir sind es ja bekanntlich selbst nicht!

Es muss sich in unserem ortskirchlichen Umfeld herumsprechen: ”Da bei der Kirche gibt es Leute, da kannst du einmal hingehen!” ”Dort wirst du gut behandelt! Da hat man für dich und deine Anliegen ein Ohr!” Die Pfarrgemeinde, das Pfarrhaus, die Verbandsgruppe, andere kleine Lebensgruppen von Gläubigen müssen als ”Orte” gelebter Christlichkeit, als ”Orte” des Erbarmens, möglicher menschlicher ”Annahme”, der mitmenschlichen Nähe bekannt sein. Derzeit ist die Kirche leider mehr im Verdacht, die Menschen zu verschrecken und ihnen das Leben zu vermiesen, als sie für Gott und füreinander freizusetzen. Diesem Grundverdacht muss energisch entgegengewirkt werden. Dass aus einer derartigen ”Kirche-Berührung” dann auch eigene Lebensumkehr folgen muss, steht auf einem anderen Blatt. Umkehr erwächst freilich aus Annahme, nicht umgekehrt. Und jede ”Annahme”, auch jene, die Anforderungen stellt und einen Neuanfang in den Blick nimmt, ist heute für die Menschen wie ein Fest inmitten einer oft harten und unmenschlichen Welt.

Liebe Mitchristen!

Sie werden sagen: Der Bischof hat gut reden. Kennt er wirklich die Probleme? Weiß er, wie heute von Kirche und Papst, von Gott und Christentum geredet wird? Hat er die ”Stacheldrahtverhaue” und ”Minenfelder” im Blick, die heutzutage eine Erwachsenentaufe nahezu zu einem Wunder machen?

Ich antworte: Ja und Nein. Manches an Anfechtungen habe ich auf meinem eigenen Glaubensweg in den DDR-Zeiten erlebt. Manches erfahre ich in meiner eigenen Verwandtschaft, in der junge Leute zur Kirche auf Distanz gehen. Anderes wissen Sie, liebe Mitchristen, vermutlich noch besser!

Ich lade Sie ein, in Ihrem Gemeinde- und Lebensumfeld über diesen Brief zu sprechen und mir ggf. ein schriftliches ”Echo” zu geben.* Sind die Zielvorgaben, die ich hier vorgetragen habe, für die katholische Kirche in Deutschland realistisch? Wo sehen Sie konkrete Möglichkeiten, ihnen näher zu kommen? Gibt es Hoffnung, neu oder noch überzeugender unsere Kirche zu einer Kirche des ”Willkommens” für die Menschen zu machen?

Dass eine Ortskirche nicht wächst, mag auszuhalten sein, dass sie aber nicht wachsen will, ist schlechthin unakzeptabel. Teilen Sie dieses Urteil? Wenn ja, dann muss uns Katholiken in Deutschland zum Thema ”missionarische Kirche” mehr einfallen als bisher.

In der Zuversicht, dass dies möglich ist, grüßt Sie

     Bischof Joachim Wanke aus Erfurt.

 

Abkürzungen:

AKD  Allgemeines Direktorium für die Katechese vom 15. August 1997 (= Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 130).

EN     Apostolisches Schreiben ”Evangelii nuntiandi” vom

8. Dezember 1975, jetzt in: Texte zu Katechese und Religionsunterricht (= Arbeitshilfen 66).

LG     Kirchenkonstitution des 2. Vatikanischen Konzils ”Lumen gentium”.

Umkehr und Umkehr und Versöhnung im Leben der Kirche. Orientierungen  zur Bußpastoral vom 1. Oktober 1997 (= Die deutschen Bischöfe 58).

* Bischof Joachim Wanke, Postfach 100662, 99006 Erfurt, oder: zspastoral@dbk.de