ERINNERN UND VERSÖHNEN
Die Kirche und die Verfehlungen in ihrer Vergangenheit
INTERNATIONALE THEOLOGISCHE KOMMISSION
Vorwort des Herausgebers
Einleitung
Erstes Kapitel
DAS THEMA: SCHULDBEKENNTNISSE IN VERGANGENHEIT UND GEGENWART
1.1 Die Sichtweise vor dem II. Vatikanum
1.2 Die Aussagen des Konzils
1.3 Die Vergebungsbitten Johannes Pauls II.
1.4 Die zur Beantwortung anstehenden Fragen
Zweites Kapitel
BIBLISCHE ZUGÄNGE ZUR FRAGE: HEILIGES GOTTESVOLK UND SCHULD
2.1 Altes Testament
2.2 Neues Testament
2.3 Das biblische "Jubeljahr
2.4 Zusammenfassung
Drittes Kapitel
SYSTEMATISCHE DARSTELLUNG
3.1 Die Kirche: Zeichen und Werkzeug des universalen Heilswillens Gottes
3.2 Die Kirche ist heilig ...
3.3 ... und als Gemeinschaft aus Menschen stets der Buße und der Reinigung
bedürftig
3.4 Die Kirche Gottes ist unser aller Mutter im Glauben
Viertes Kapitel
HISTORISCHE UND THEOLOGISCHE BEURTEILUNG GESCHICHTLICHER VORGÄNGE
4.1 Die Schwierigkeit, Geschichte zu interpretieren
4.2 Geschichtsforschung und theologische Auswertung
Fünftes Kapitel
MORALISCHE BEWERTUNG
5.1 Ethische Kriterien und das Problem ihrer Anwendung
5.2 Am Beispiel: Spaltung der Christenheit
5.3 Am Beispiel: Anwendung von Gewalt im Dienst an der Wahrheit
5.4 Am Beispiel: Verhältnis von Christen und Juden
5.5 Wer trägt die Verantwortung für die Mißstände in der Gegenwart?
Sechstes Kapitel
PASTORALE UND MISSIONARISCHE PERSPEKTIVEN
6.1 Pastorale Zielsetzung
6.2 Ekklesiale Implikationen
6.3 Konsequenzen für den Dialog und für die Mission
Siebtes Kapitel
ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK
VORWORT DES HERAUSGEBERS
Der Aschermittwoch des Heiligen Jahres 2000 der Menschwerdung des Sohnes Gottes
wird die Welt in Erstaunen versetzen. In Rom, dem Ort des Martyriums der Apostel
Petrus und Paulus, will Papst Johannes Paul II. als universaler Hirte der Kirche
Gott öffentlich um Vergebung bitten für die Schuld ihrer Söhne und Töchter.
Ist diese Vergebungsbitte Ausdruck ungebrochener Glaubensstärke der katholischen
Kirche, oder meldet sich ein Zweifel an ihrer Sendung? Kapituliert sie vor
kirchenfeindlicher Polemik, oder handelt es sich gar um einen Propagandatrick,
um ihre Kritiker zu beschwichtigen?
Diesen Akt der Vergebungsbitte kann man in seinem Sinn und Ziel nur verstehen,
wenn man sich einlässt auf das Selbstverständnis der Kirche. Sie versteht sich
nicht als eine von Menschen organisierte Gesellschaft, die mit einem von
Menschen ausgedachten religiösen und ethischen Programm vor die Welt tritt.
Vielmehr ist mit der Kirchenkonstitution des II. Vatikanischen Konzils
(21.11.1964) zu sagen: "Das Geheimnis der heiligen Kirche wird in ihrer Gründung
offenbar" (Lumen gentium, 4). Die Kirche verdankt sich in ihrem Ursprung und in
ihrem Auftrag dem Heilswillen des dreifaltigen Gottes gegenüber der ganzen
Menschheit.
Seinen universalen Heilswillen hat Gott, der Vater Jesu Christi, in der
Menschwerdung seines Sohnes und in der Ausgießung seines Geistes geschichtlich
konkret in Raum und Zeit durch Jesus Christus verwirklicht, so dass er allein
der von Gott geoffenbarte Mittler zwischen Gott und den Menschen ist (vgl. 1 Tim
2,4f.): "Und in keinem anderen ist das Heil zu finden. Denn es ist uns Menschen
kein anderer Name unter dem Himmel gegeben, durch den wir gerettet werden sollen"
(Apg 4,12).
Durch die Gemeinschaft der an ihn Glaubenden führt der von den Toten
auferstandene Herr seine Sendung bis ans Ende der Geschichte fort. Er bleibt für
immer bei seinen Jüngern, und durch sie ruft er die Menschen zum Glauben und
erhellt damit das Rätsel menschlicher Existenz. Im Licht Christi kann jeder
Mensch seine höchste Berufung erkennen: die Gemeinschaft mit dem Gott der
dreieinigen Liebe und mit allen Menschen, die ihn gesucht und gefunden haben."Jesus
Christus, das fleischgewordene Wort, ist das wahre Licht, das jeden Menschen
erleuchtet" (Joh 1,9.14.18). Er lässt seine Herrlichkeit auf dem Antlitz der
Kirche widerscheinen, damit seine Kirche durch die Verkündigung der Botschaft
vom ewigen Leben immer neu werde, was sie in ihrer Gründung im Geheimnis Christi
ist.
"Die Kirche ist ja in Christus gleichsam Sakrament, d.h. Zeichen und Werkzeug
für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit"
(Lumen gentium, 1).
Die Kirche ist heilig, weil sie das Heilsinstrument des heiligen Gottes ist, der
im Gang der Geschichte durch die Kirche seinen Heilswillen auf alle Menschen
bezieht und in ihr jeden einzelnen persönlich anspricht. Deshalb ist sie
unzerstörbar im Bekenntnis der Heilstaten Gottes, in ihrem Glauben, ihrer Lehre
und in den sakramentalen Lebensvollzügen, die Christus ihr eingestiftet hat.
Weder innerer Zerfall noch Feindschaft von außen, die alle menschlichen
Gemeinschaftsgebilde in ihrem Bestand bedrohen, werden sie jemals überwinden (Mt
16,18). Aber die Kirche des dreieinigen Gottes besteht auch aus Menschen, die
auf dem Weg ihres Glaubens immer versagen und der Versuchung zur Sünde verfallen
können. Zur Kirche als der in der Welt sichtbaren Gemeinschaft der Glaubenden in
ihrer sichtbaren Gestalt gehören darum immer auch Sünder.
"Die Kirche ist zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig, sie geht
immerfort den Weg der Buße und Erneuerung. Die Kirche <schreitet zwischen den
Verfolgungen der Welt und den Tröstungen Gottes auf ihrem Pilgerweg dahin> (Augustinns,
Civ. Dei, XVIII, 51,2) und verkündet das Kreuz und den Tod des Herrn, bis er
wiederkommt (vgl.1 Kor 11,26). Von der Kraft des auferstandenen Herrn aber wird
sie gestärkt, um ihre Trübsale und Mühen, innere gleichermaßen wie äußere, durch
Geduld und Liebe zu besiegen und sein Mysterium, wenn auch schattenhaft, so doch
getreu in der Welt zu enthüllen, bis es am Ende im vollen Lichte offenbar werden
wird" (Lumen gentium, 8).
Somit gehört zum Weg der Kirche auch das Bekenntnis zur Erneuerung und die Bitte
um Vergebung (ecclesia semper reformanda). Die Kirche gewinnt damit an
Glaubwürdigkeit vor Gott und den Menschen. Sie dient der Einheit der Menschen
unterschiedlicher Kulturen, Religionsrichtungen und Weltanschauungen, wenn sie
um Vergebung bittet für das Übel, das in der Vergangenheit von Gliedern der
Kirche und gerade auch von ihren Repräsentanten den Menschen anderer
Gemeinschaften zugefügt worden ist. Zwar gibt es keine Kollektivschuld, deren
Zurechnung eine Verletzung der ethischen Verantwortung jeder Person für ihre
eigenen Taten wäre. Aber Verantwortung, Schuldübernahme und Bitte um Verzeihung
dienen einer "Reinigung des Gedächtnisses", das Menschen und Menschengruppen
auch über die Generationen miteinander verbindet oder trennt und gegeneinander
aufbringt. Die Formulierung "Reinigung des Gedächtnisses", wörtliche Wiedergabe
des italienischen Ausdrucks "purificazione della memoria", bedeutet eine
selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen, von der Sünde entstellten
Vergangenheit der Gemeinschaft, der man angehört. Dadurch soll die Möglichkeit
der Versöhnung eröffnet werden. Nicht gemeint ist damit ein Sich-Reinwaschen,
das auf ein Verdrängen oder bloßes Vergessen von Schuld hinausläuft und einen
endgültigen Schlußstrich unter die Vergangenheit setzen will. Ziel ist eine "versöhnte
Erinnerung" an die Wunden, die man sich in der Vergangenheit zugefügt hat (vgl.
unten 5.1).
Das theologische Verständnis von Sein und Sendung der Kirche hat auch
unmittelbare Auswirkung auf das Verständnis und die Interpretation ihrer
Geschichte. Die theologisch-wissenschaftliche Disziplin "Kirchengeschichte" hat
zwei Extreme zu vermeiden, die bei allem Gegensatz im gleichen falschen Bild von
Kirche zutiefst miteinander verbunden sind. Zu vermeiden ist eine Apologetik,
die alle Schattenseiten und alles Versagen herunterspielt oder leugnet. Töricht
und unfruchtbar wäre auf der anderen Seite aber auch eine fundamentalistische
Kritik, der es um den Aufweis geht, dass die Kirche nicht von Gott kommen kann
und dass sie im innersten Wesen korrumpiert sei, wenn man sie an ihren Idealen
misst.
Von dieser Seite her wird der katholischen Kirche eine aus immer den gleichen
Punkten bestehende Kurzlitanei vorgehalten: Kreuzzüge - Inquisition Hexenwahn -
Wissenschaftsfeindlichkeit - Intoleranz. Neuerdings sind weitere Elemente
hinzugetreten. Man macht das Christentum verantwortlich für den ausbeuterischen
Umgang des Menschen mit der Schöpfung. Man bezichtigt die katholische Kirche der
Sexualfeindlichkeit und der Behinderung der Emanzipation der Frau. Dieser Kanon
der Kritik an allem, was mit der katholischen Kirche zusammenhängt, bleibt dem
engen eurozentrischen Horizont der westlichen Welt zwischen dem 17. und 20.
Jahrhundert verhaftet. Er ist markiert von globalen Vorwürfen und
Schuldzuweisungen aus der konfessionalistischen Polemik des 17. Jahrhunderts und
der folgenden Epoche der Religionskritik, im Rationalismus der Aufklärung, der
antikirchlichen Propaganda des Liberalismus sowie der totalitären Ideologien des
Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus. Dies beschränkt sich auf das
Verhältnis der Kirche zur Gesellschaft und ihren Institutionen. Genau genommen
reduziert sich der "Kanon der Kritik" auf die Epoche der abendländischen
Christenheit, das sogenannte "Mittelalter", als Kirche und weltliche
Gesellschaft fast ununterscheidbar miteinander verflochten waren. Neuere
Kritikpunkte sind nur die Nachwirkungen des Bildes, das sich seit dem 18.
Jahrhundert im westlichen Europa bei meist klischeehafter und
vorurteilsbefrachteter Interpretation des "Mittelalters" verfestigt hat.
Geschichte soll nicht möglichst objektiv erforscht werden in ihren kulturellen,
sozialen und mentalen Bedingungen und in den Motivationen ihrer handelnden
Personen. Kirchengeschichte wird instrumentalisiert, um die Kirche als
Gegenmacht zu den Idealen von Freiheit, Autonomie, Wissenschaft und Fortschritt
zu desavouieren. Von dieser Seite ist kaum zu erwarten, dass das mea culpa der
Kirche mit einem mea culpa der Anhänger dieser Geistesrichtungen für all das
beantwortet wird, was im Namen dieser Ideale den Christen und den Menschen
anderen Glaubens an Leid zugefügt worden ist. Sie werden sich in ihrer
Anklagehaltung bestätigt fühlen und um so lauter der katholischen Kirche
entgegenrufen: "Tua sola culpa ist seit zweitausend Jahren Christentum die Welt
nicht besser geworden". Zu erwarten ist sicher auch, dass gegenwärtige
innerkirchliche Spannungen in diese Vergebungsbitte hineinprojiziert werden. Es
wäre nur eine weitere Form der Instrumentalisierung der Kirchengeschichte, wenn
Christen - Glieder am Leib Christi, der die Kirche ist - den Papst zur Vergebung
nötigen wollten für das, was sie für ein Versagen der Kirche angesichts der
Herausforderungen der Gegenwart halten, wenn z.B. manche den Zölibat der
Priester in der lateinischen Kirche fälschlicherweise für einen Mißstand halten,
der mit dem Menschenrecht auf Ehe in Konflikt stehe, oder wenn sie die Lehre von
der dem Mann vorbehaltenen Weihe mit den Themen der Vergebungsbitte vermengen,
weil sie meinen, dass, ähnlich wie im Fall Galilei, die Tradition der Kirche von
falschen naturwissenschaftlichen Annahmen ausgehe.
Die Vitalität der Kirche Jesu Christi erweist sich darin, dass sie die
Gerechtigkeit des Schuldbekenntnisses für das Versagen in der Vergangenheit
nicht zur Bedingung eines neuen Miteinanders machen muss. Sie hat die Kraft, den
ersten Schritt zu tun. Die Kirche traut sich dies zu, weil sie um die Gabe der
Heiligkeit weiß, aus der sie lebt und die sie ihrer Sendung zum Heilsdienst an
den Menschen gewiss macht. Darum kann sie sich auch zu der Tatsache bekennen,
dass es im Laufe ihrer Geschichte - gemessen am Evangelium, das sie zu allen
Zeiten, auch durch den Mund ihrer sündigen Glieder, verkündet hat, und an den
geistigen Erfordernissen der jeweiligen Geschichtsepoche - persönliche Sünden,
erschreckendes Versagen, unangemessenes und unverantwortliches Handeln ihrer
Glieder und ihrer Repräsentanten gegeben hat. In diesem Sinn kann man auch von
Sünden nicht nur der einzelnen Glieder der Kirche, sondern auch von den Sünden
der Kirche sprechen, besonders wenn sie von denen begangen wurden, die
ermächtigt waren, in ihrem Namen zu handeln. Es geht um das Handeln der Kirche
in ihrer Auswirkung auf die zivile Gesellschaft und ihre Institutionen (Staat,
Kultur, Wissenschaft, Kunst, Rechtsordnung u.a.). Nicht gemeint ist in diesem
Zusammenhang die Infallibilität in der Auslegung der Offenbarung und die
Wirksamkeit der sakramentalen Heilsvermittlung, die der Kirche anvertraut sind
und die vom Geist Gottes vor Korruption und Zersetzung bewahrt werden (Lumen
gentium, 25)
Papst Johannes Paul II. wagt als Repräsentant der universalen Kirche diesen
Schritt im Dienst an der geschichtlichen Wahrheit, wenn er um Vergebung bittet
für Sünden und Fehlleistungen der Kirche und ihrer Glieder in der Vergangenheit.
Die Kirche lässt sich führen von Christus, der nicht gekommen ist, um sich
bedienen zu lassen, sondern um zu dienen, der seinen Jüngern mit dem Dienst der
Fußwaschung ein Beispiel der Demut geschenkt hat
Die kritische Überprüfung der Vergangenheit und die Bitte um Vergebung für die
Wunden, die im kollektiven Gedächtnis der religiösen und kulturellen
Gemeinschaften zurückgeblieben sind und destruktiv nachwirken, hat als Ziel die
Versöhnung unter den Menschen, die heute diesen Gemeinschaften angehören.
Die Internationale Theologische Kommission hat den Auftrag erhalten, mit einer
wissenschaftlichen Studie diesen Akt der Vergebungsbitte vorzubereiten und in
seinem tieferen Sinn zu erläutern.
Unter der Leitung von Prof. Dr. Bruno Forte (Neapel) hat eine Subkommission den
Text "Memoria e riconciliazione. La Chiesa e le colpe del passato" erarbeitet.
Als Mitglieder gehörten ihr an die Professoren Roland Minnerath (Strassburg),
Christopher Begg (Washington D.C.), Francis Moloney S.D.B. (Washington), Anton
Strukelj (Ljubljana, Slowenien), Thomas Norris (Maynooth, Irland), Jean-Louis
Bruguès O.P. (Fribourg) und Rafael Salazar Cardenas M.Sp.S. (Guadalajara, Mexico).
Er wurde in zwei Vollversammlungen der Internationalen Theologischen Kommission
ausführlich diskutiert, nach Einarbeitung mehrerer Modi in forma specifica
gebilligt und ihrem Präsidenten, Kardinal Joseph Ratzinger, Präfekt der
Glaubenskongregation, vorgelegt, der ihn für die Veröffentlichung genehmigt hat.
Im Auftrag des Vorsitzenden der Internationalen Theologischen Kommission, des
Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre, Joseph Kardinal Ratzinger,
wird der Text veröffentlicht und hier den Lesern deutscher Sprache vorgestellt.
Zu beachten ist das eigene literarische Genus einer solchen Publikation. Man
kann von ihr nicht die Geschlossenheit und den einheitlichen Duktus einer
wissenschaftlichen Monographie eines Einzelautors erwarten. Die Stufen der
Erarbeitung und der Endredaktion sind ebenso zu erkennen wie sich im Text die
vielfältigen Perspektiven der Kulturen, der geographischen Räume und der
historischen Perspektiven widerspiegeln. Deutlich zeichnet sich der Fächer
theologischer Stile ab, in dem sich die Pluralität der Weltkirche präsentiert.
Bei dem Text der Kommission handelt es sich nicht um das offizielle
Schuldbekenntnis der Kirche, das vom Papst am Aschermittwoch persönlich
vorgetragen und das von ihm als Vertreter der universalen Kirche verantwortet
wird. Es ist aber auch keine kirchengeschichtliche Spezialuntersuchung zum Thema
"Kirche und Schuld in der Vergangenheit". Man wird wohl der literarischen
Eigenart dieses Textes am besten gerecht, wenn er als eine Interpretationshilfe
betrachtet wird, die von Fachleuten für Exegese, Kirchengeschichte und
Ekklesiologie erarbeitet wurde, die - von den Bischofskonferenzen als
Repräsentanten der Theologie ihrer Länder vorgeschlagen - sich durch Kompetenz
und Treue zum Lehramt der Kirche auszeichnen. Im Licht der hier
zusammengestellten theologischen Kategorien und hermeneutischen Prinzipien
können sich Sinn und Tragweite dieser in der bisherigen Kirchengeschichte
einmaligen Liturgie der Buße und der Vergebungsbitte erschließen und
mitvollziehen lassen, die der Heilige Vater zu Beginn der Österlichen Bußzeit
des Heiligen Jahres 2000 mit der ganzen Kirche und in ihrem Namen feiern möchte.
Liturgie ist immer Lob und Verherrlichung Gottes (confessio laudis), der uns die
Sünden vergibt, die zu bekennen er uns die Kraft geschenkt hat (confessio
peccati).
Von Jesus Christus, dem Sohn Gottes belehrt, sprechen seit 2000 Jahren Christen
Gott als ihren Vater an und bitten ihn: "Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir
denen vergeben, die an uns schuldig geworden sind" (Lk 11,4).
Wer ist mehr zu diesem Schuldbekenntnis im Namen der katholischen Kirche
ermächtigt als der Bischof von Rom, der Nachfolger Petri, dem Christus im
Abendmahlssaal Verleugnung und Umkehr vorausgesagt hatte? Es ist derselbe
Apostel, dem der Herr auch die Verheißung gegeben hat:
"Ich aber habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht erlischt. Und wenn du
dich einst bekehrt haben wirst, dann stärke deine Brüder" (Lk 22,32).
München, den 22. Februar 2000, am Fest Cathedra Petri
Gerhard Ludwig Müller
EINLEITUNG
In seiner Ankündigungsbulle des Heiligen Jahres 2000 Incarnationis mysterium
(29. November 1998) hebt der Heilige Vater unter den Zeichen, "die in
angemessener Weise dazu dienen können, die außerordentliche Gnade des Jubiläums
intensiver zu erleben", die "Reinigung des Gedächtnisses" hervor.
Eine solche "Reinigung des Gedächtnisses" vollzieht sich als ein Prozess, der
auf die Befreiung des individuellen und gemeinschaftlichen Gewissens von allen
Formen des Ressentiments und der Gewalt zielt, die historische Schuld und
Verfehlung hinterlassen haben. Als Mittel dazu dient eine vertiefte historische
und theologische Beurteilung der betreffenden Ereignisse. Wenn dieses Urteil
sich als richtig erweist, ermöglicht es eine entsprechende Schuldanerkenntnis
und eröffnet einen wirklich gangbaren Weg zur Versöhnung.
Dieser Prozess kann sich in spürbarer Weise auch auf die Gegenwart auswirken,
besonders da sich die Sünden aus der Vergangenheit in ihren Konsequenzen bis zum
heutigen Tag belastend auswirken und auch in der Gegenwart eine Versuchung
darstellen.
Darum fordert die "Reinigung des Gedächtnisses" "von allen einen mutigen Akt der
Demut, nämlich die Verfehlungen zuzugeben, die von denen begangen wurden, die
den Namen Christen trugen und tragen". (1)
Darauf gründet sich die Überzeugung, dass "wegen des Bandes, das uns im
mystischen Leib miteinander vereint, wir alle die Last der Irrtümer und der
Schuld derer mittragen, die uns vorausgegangen sind, auch wenn wir dafür keine
persönliche Verantwortung haben und nicht den Richterspruch Gottes, der allein
die Herzen der Menschen kennt, vorwegnehmen können".
Eindringlich fordert der Papst die Christen auf, "vor Gott und den Menschen, die
durch ihr Verhalten verletzt wurden, zu den von ihnen begangenen Fehlern zu
stehen" und er schließt: "Das sollen sie tun, ohne dafür irgend etwas
einzufordern, stark allein durch <die Liebe Gottes, die in unsere Herzen
ausgegossen ist> (Röm 5,5)"(2).
Die verschiedenen Vergebungsbitten des Bischofs von Rom, die er in diesem Geist
der Ehrlichkeit und Großmut geäußert hat, haben verschiedenartige Reaktionen
hervorgerufen. Das unbedingte Vertrauen, das der Papst in die Macht der Wahrheit
setzt, hat eine wohlwollende Aufnahme und Anerkennung gefunden sowohl bei
Menschen innerhalb wie auch bei Menschen außerhalb der Kirche. Viele haben den
Zuwachs an Glaubwürdigkeit der kirchlichen Verkündigung unterstrichen, der auf
diesen Umgang mit der eigenen Geschichte folgt. Es hat aber auch nicht an
Vorbehalten gefehlt. Manche fürchten, dass in bestimmten historischen und
kulturellen Kontexten das Eingeständnis der von Gliedern der Kirche begangenen
Schuld als Kapitulation vor den eingefleischten Vorurteilen antikirchlich
gesinnter Kreise aufgefasst werden könnte.
Angesichts von Zustimmung und Vorbehalt, auf das die Schuldanerkennung stößt,
zeigt sich die Dringlichkeit einer umfassenden Reflexion der Gründe und
Bedingungen sowie der genaueren Form von Bitten um eine Vergebung der
Verfehlungen aus der Vergangenheit.
Mit dieser Aufgabe ist die Internationale Theologische Kommission betraut worden.
In ihr sind Vertreter verschiedener Kulturen und Mentalitäten in der Mitte des
einen katholischen Glaubens versammelt. In dem von dieser Kommission
ausgearbeiteten Text wird eine theologische Reflexion der Bedingungen für die
Möglichkeit der Akte einer "Reinigung des Gedächtnisses" angeboten.
Auf folgende Fragen soll eine Antwort versucht werden: Mit welchem Ziel werden
diese zeichenhaften Akte vollzogen? Wer sind ihre adäquaten Träger? Wie sind
ihre Gegenstände zu bestimmen, wenn historisches und theologisches Urteil präzis
aufeinander bezogen sein sollen? Wer sind die Adressaten dieser öffentlichen
Vergebungsbitten und Gesten der Versöhnung? Welche moralischen und ethischen
Implikationen sind zu beachten? Welche möglichen Auswirkungen ergeben sich
daraus für das Leben der Kirche und der Gesellschaft?
Das Ziel, das sich die Kommission mit diesem Text setzt, besteht nicht darin,
einzelne historische Vorkommnisse zu prüfen und zu bewerten, sondern die
Voraussetzungen zu klären, die die Grundlage bilden für die Reue über die
Verfehlungen aus der Vergangenheit.
Nachdem das besondere Genus der hier vorgelegten Reflexion präzisiert worden ist,
muss noch geklärt werden, was im folgenden unter "Kirche" verstanden wird, von
der die Vergebungsbitte ausgesprochen wird. "Kirche" soll hier weder allein die
historische Institution noch allein die geistlich-unsichtbare Gemeinschaft der
Gläubigen bezeichnen. Unter Kirche versteht man immer die Gemeinschaft der
Getauften in den beiden voneinander untrennbaren Dimensionen ihres Wesens: Sie
ist sowohl sichtbar als handelndes Subjekt in der Geschichte unter der Leitung
ihrer Hirten als auch zugleich in der Tiefe ihres Mysteriums geeint durch den
Heiligen Geist, der in ihr wirkt und ihr Leben einhaucht. Es ist jene Kirche,
von der das II. Vatikanische Konzil erklärt, dass sie "in einer nicht
unbedeutenden Analogie dem Mysterium des fleischgewordenen Wortes ähnlich ist.
Wie nämlich die angenommene Natur dem göttlichen Wort als lebendiges, ihm
unlöslich geeintes Heilsorgan dient, so dient auf eine ganz ähnliche Weise das
gesellschaftliche Gefüge der Kirche dem Geist Christi, der es belebt, zum
Wachstum seines Leibes (vgl. Eph 4,16)".(3)
Die Kirche, die in einer wirklichen und tiefen Gemeinschaft ihre Söhne und
Töchter der Vergangenheit ebenso wie die der Gegenwart umfasst, ist die einzige
Mutter in der Gnade, die die Lasten auch der Schuld aus der Vergangenheit auf
ihre Schultern zu nehmen vermag, um das "Gedächtnis zu reinigen" und die Herzen
zur Erneuerung und einem Leben nach dem Willen des Herrn zu bewegen.
Die Kirche ist imstande dies zu tun, insofern Jesus Christus, dessen mystischer
Leib sie ist und durch den er im Gang der Geschichte sakramental gegenwärtig
bleibt, ein für allemal die Sünden der Welt auf sich genommen hat.
Im Aufbau richtet sich der Text nach den aufgeworfenen Fragen:
Im 1. Kapitel wird ein kurzer historischer Rückblick auf die Entwicklung des
Themas gegeben. Im 2. Kapitel sollen die biblischen Grundlagen herausgearbeitet
werden, um dann im 3. Kapitel die theologischen Bedingungen der Bitten um
Vergebung zu vertiefen. Im 4. Kapitel geht es um eine Abklärung des
Verhältnisses von historischer und theologischer Beurteilung
kirchengeschichtlicher Vorgänge, um sich angesichts der unterschiedlichen Zeiten,
Orte und Umstände ein korrektes und begründetes Urteil über spezifische
Geschichtsereignisse bilden zu können. Das 5. Kapitel behandelt die moralischen
Implikationen, während im 6. Kapitel die Konsequenzen für das pastorale und
missionarische Handeln der Kirche bedacht werden, die sich aus der
Vergebungsbitte für die katholische Kirche im Verständnis ihrer Sendung ergeben.
Im Bewusstsein jedoch, dass die Forderung, die eigene Schuld anzuerkennen, für
alle Völker und Religionen sinnvoll ist, darf man von den hier vorgelegten
Überlegungen eine Hilfe erwarten im Fortschritt aller auf dem Weg der Wahrheit,
des brüderlichen Dialogs und der Versöhnung.
Am Ende dieser Hinführung zum Thema ist es sicher angebracht, das letzte Ziel
jedes möglichen Aktes der "Reinigung des Gedächtnisses" anzusprechen. Diese
Aufgabe der Gläubigen hat auch die Arbeit der Kommission innerlich bestimmt. Es
handelt sich um die Verherrlichung Gottes. Denn ein Leben im Gehorsam gegenüber
der Wahrheit Gottes und den Herausforderungen, die von ihr ausgehen, führt hin
zu einer Form des Bekennens unserer Sünden und Fehler, die vom Bekenntnis zur
ewigen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit des Herrn nicht zu trennen ist.
Das Bekenntnis der Sünde (confessio peccati), das getragen und erleuchtet ist
vom Glauben an die Wahrheit, die frei macht und erlöst (confessio fidei), wird
zu einem Bekenntnis des Lobes (confessio laudis), das sich an Gott richtet. Er
allein weiß um den Zusammenhang der Sünden in Vergangenheit und Gegenwart. Nur
in Jesus Christus, dem einzigen Retter der Welt, können wir uns von Gott und mit
Gott versöhnen lassen. Er allein kann uns auch fähig machen, selbst denen
Vergebung zu gewähren, die an uns schuldig geworden sind. Dieses Angebot der
Vergebung hat eine besondere Signalwirkung, wenn man sich die vielen
Verfolgungen vor Augen hält, die die Christen im Laufe der Geschichte erlitten
haben.
In dieser Perspektive kommen den vom Heiligen Vater schon vollzogenen und in
Aussicht genommenen Akten bezüglich der Schuld und der Verfehlungen der
Vergangenheit eine exemplarische, ja prophetische Bedeutung zu. Dies betrifft
ebenso die Religionen wie die Regierungen und die Völker auch über den Bereich
der katholischen Kirche hinaus. Die Kirche kann in ihrer Absicht bereichert
werden, wirksamer das Große Jubiläum der Menschwerdung Gottes als ein Ereignis
der Gnade und der Versöhnung für alle zu feiern.
Erstes Kapitel
DAS THEMA: SCHULDBEKENNTNISSE
IN VERGANGENHEIT UND GEGENWART
1.1 Die Sichtweise vor dem II. Vatikanum
Das Jubiläum ist in der Kirche immer als eine Zeit der Freude über die in
Christus empfangene Erlösung und als eine besondere Gelegenheit der Buße und der
Versöhnung für die gegenwärtigen Sünden im Leben des Volkes Gottes betrachtet
worden. Schon seit der ersten Feier des Heiligen Jahres unter Papst Bonifaz VIII.
im Jahre 1300 war die Bußwallfahrt zu den Gräbern der heiligen Apostel Petrus
und Paulus mit der Gewährung eines außerordentlichen (vollkommenen oder
teilweisen) Ablasses verbunden gewesen, der, zusammen mit der Vergebung im
Bußsakrament, der Ausheilung und Überwindung der zeitlichen Sündenstrafen dienen
sollte, die als negative Auswirkungen der Sünden auf das Verhältnis des Menschen
zu Gott und zu den Mitmenschen zu verstehen sind(4). In diesem Kontext wird
sowohl hinsichtlich der sakramentalen Vergebung wie im Hinblick auf den Nachlass
der Sündenstrafen der personale Charakter der Buße sichtbar. Im Laufe des "Jahres
der Vergebung und der Gnade"(5) öffnet die Kirche in außergewöhnlicher Weise den
"Schatz der Gnaden", den Christus für das pastorale Wirken hinterlassen hat(6).
Allerdings gab es bisher bei keinem Jubeljahr eine Gewissenserforschung über
mögliche Verfehlungen der Kirche in der Vergangenheit. Ebensowenig wurde eine
Vergebungsbitte an Gott gerichtet für ihr Verhalten in der näheren oder ferneren
Geschichte.
Man findet in der gesamten Geschichte der Kirche keinen Präzedenzfall einer vom
Lehramt selbst formulierten Vergebungsbitte für die Verfehlungen der
Vergangenheit. Die Konzilien und die päpstlichen Dekretalien sanktionierten zwar
die Missbräuche, derer sich Kleriker und Laien schuldig gemacht hatten, und
nicht wenige Hirten der Kirche bemühten sich darum, sie abzustellen. Ganz selten
ergab sich die Gelegenheit, dass kirchliche Autoritäten - Päpste, Bischöfe oder
Konzilien - öffentlich Schuld und Verfehlungen anerkannt haben, für die sie die
Verantwortung trugen. Ein berühmtes Beispiel dafür hat der Reformpapst Hadrian
VI. gegeben, der in einer Botschaf t an den Reichstag von Nürnberg am 25.
November 1522 aufrichtig bekannte: "Missbräuche in geistlichen Dingen,
Übertretungen der Gebote, ja, dass alles sich zum Ärgeren verkehrt hat. So ist
es nicht zu verwundern, dass die Krankheit sich vom Haupt auf die Glieder, von
den Päpsten auf die Prälaten verpflanzt hat. <Wir alle>, Prälaten und Geistliche,
<sind vom Wege des Rechtes abgewichen, und es gab schon lange keinen einzigen,
der Gutes tat> (Ps 14,3). Deshalb müssen wir alle Gott die Ehre geben und uns
vor ihm demütigen; ein jeder von uns soll betrachten, weshalb er gefallen, und
sich lieber selber richten, als dass er von Gott am Tage seines Zornes gerichtet
werde."(7)
Hadrian VI. beklagte die zeitgenössischen Sünden und Fehler, genaugenommen die
seines unmittelbaren Vorgängers Leos X. und seiner Kurie, ohne jedoch damit eine
Vergebungsbitte zu verbinden.
Erst Papst Paul VI. wird eine Vergebungsbitte an Gott und auch an eine Gruppe
von Zeitgenossen richten. Bei der Eröffnungsansprache zur z. Konzilssession bat
der Papst "Gott und die getrennten Brüder des Orients" um Verzeihung, und er
erklärte sich von seiner Seite aus dazu bereit, die Anfeindungen zu vergeben,
denen die katholische Kirche ausgesetzt war.
In der Sicht Pauls VI. betrafen die von beiden Seiten vorauszusetzende Bitte um
Vergebung und das gegenseitige Angebot der Vergebung allein die Sünde der
Spaltung unter Christen.
1.2 Die Aussagen des Konzils
Das II. Vatikanum nimmt die gleiche Perspektive ein wie Paul VI. Die
Konzilsväter sagen im Hinblick auf die Verfehlungen gegen die Einheit: "In Demut
bitten wir also Gott und die getrennten Brüder um Verzeihung, wie auch wir
unseren Schuldigem vergeben."(8)
Neben den Sünden gegen die Einheit der Kirche greift das Konzil weitere negative
Erscheinungen der Geschichte auf, bei denen Christen eine bestimmte
Verantwortung zukommt. "Deshalb sind gewisse Geisteshaltungen, die einst auch
unter Christen wegen eines unzulänglichen Verständnisses für die legitime
Autonomie der Wissenschaft vorkamen, zu bedauern. Durch die dadurch entfachten
Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen schufen sie in der Mentalität vieler
die Überzeugung von einem Widerspruch zwischen Glauben und Wissenschaft."(9)
Ähnlich beurteilt das Konzil "die Entstehung des Atheismus", bei der auch die
Gläubigen "einen gewissen Anteil" haben können, insofern man sagen muss, "dass
sie durch Vernachlässigung der Glaubenserziehung, durch missverständliche
Darstellung der Lehre oder auch durch Mängel ihres religiösen, sittlichen und
gesellschaftlichen Lebens das wahre Antlitz Gottes und der Religion eher
verhüllen als offenbaren"(10). Außerdem "beklagt" das Konzil "die Verfolgungen
und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von
irgend jemandem gegen die Juden gerichtet haben"(11). Dennoch verbindet das
Konzil mit diesem Bedauern keine Bitte um Vergebung für die genannten
historischen Fakten.
Vom theologischen Standpunkt aus unterscheidet das Konzil zwischen der
unzerstörbaren Treue der Kirche und den Verfehlungen ihrer Glieder, Klerikern
wie Laien, gestern und heute(12), d.h. zwischen sich selbst, insofern sie die
Braut Christi ist "ohne Makel und Runzeln, heilig und unversehrt" (Eph 5,27),
und ihren Söhnen und Töchtern, die Sünder sind, denen vergeben wurde und die
berufen sind zu steter Umkehr und Erneuerung im Heiligen Geist. "Die Kirche, die
in ihrem eigenen Schoß Sünder umfasst, ist zugleich heilig und stets der
Reinigung bedürftig, sie geht immerfort den Weg der Buße und der Erneuerung."(13)
Das Konzil hat auch schon einige Unterscheidungskriterien herausgearbeitet
hinsichtlich von Schuld oder Verantwortlichkeit der jetzt Lebenden für die
Verfehlungen aus der Zeit früherer Generationen.
So wurde in zwei unterschiedlichen Zusammenhängen, die einmal das Verhältnis von
Juden und Christen, zum anderen das Verhältnis zwischen den getrennten Christen
aufgreifen, klargestellt, dass man den Zeitgenossen nicht die Sünden der
Vorfahren anlasten kann, nur weil sie Mitglieder derselben religiösen
Gemeinschaft sind:
- "Obgleich die jüdischen Obrigkeiten mit ihren Anhängern auf den Tod Christi
gedrungen haben, kann man dennoch die Ereignisse seines Leidens weder allen
damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen."(14)
- "In dieser einen und einzigen Kirche Gottes sind schon von den ersten Zeiten
an Spaltungen entstanden, die der Apostel aufs schwerste tadelt und verurteilt;
in den späteren Jahrhunderten aber sind ausgedehntere Verfeindungen entstanden,
und es kam zur Trennung recht großer Gemeinschaften von der vollen Gemeinschaft
der katholischen Kirche, oft nicht ohne Schuld der Menschen auf beiden Seiten.
Den Menschen jedoch, die jetzt in solchen Gemeinschaften geboren sind und in
ihnen den Glauben an Christus erlangen, darf die Schuld der Trennung nicht zur
Last gelegt werden - die katholische Kirche betrachtet sie als Brüder und
Schwestern, in Verehrung und Liebe."(15)
Für das erste Heilige Jahr, das nach dem Konzil 1975 gefeiert wurde, hatte Paul
VI. das Thema "Erneuerung und Versöhnung"(16) vorgegeben, und er präzisierte es
dann in der Exhortatio Apostolica Paterna cum benevolentia. Versöhnung muss sich
vor allem und zuerst unter den Gläubigen der katholischen Kirche vollziehen".(17)
Wie seit seinen Anfängen bleibt das Heilige Jahr eine Gelegenheit zur Umkehr und
Wiederversöhnung der Sünder mit Gott mittels des Heilsdienstes der Kirche, den
sie in ihren Sakramenten ausübt.
1.3 Die Vergebungsbitten Johannes Pauls II.
Papst Johannes Paul II. hat das Bedauern über die "schmerzenden Erinnerungen",
die die Geschichte der innerchristlichen Spaltungen begleiten, nicht einfach nur
wiederholt. Er ist über die Erklärungen seines Vorgängers Pauls VI. wie auch des
II. Vatikanischen Konzils hinausgegangen(18) und hat die Vergebungsbitte auf
eine Vielzahl von historischen Vorgängen ausgedehnt, in die die Kirche oder
einzelne Gruppen von Christen - freilich in jeweils spezifischer rechtlich-politischer
Kompetenz - involviert waren(19).
In dem Apostolischen Schreiben Tertio Millennio Adveniente (20) kündigte der
Papst an, dass das Jubiläum des Jahres 2000 die Gelegenheit biete zu einer "Reinigung
des Gedächtnisses" der Kirche "von allen Denk und Handlungsweisen, die im
Verlauf des vergangenen Millenniums geradezu Formen eines Gegenzeugnisses und
Skandals darstellten"(21).
Die Kirche ist eingeladen, "sich stärker der Schuld ihrer Söhne und Töchter
bewusst zu werden". "Die Heilige Pforte des Jubeljahres 2000 wird in
symbolischer Hinsicht größer sein müssen als die vorhergehenden." Darum kann sie
"die Schwelle des neuen Jahrtausends nicht überschreiten, ohne ihre Kinder dazu
anzuhalten, sich durch Reue von Irrungen, Treulosigkeiten, Inkonsequenzen und
Verspätungen zu reinigen"(22). Auch an die Verantwortlichkeit der Christen für
die Übel unserer Zeit wird erinnert(23), wenngleich der Akzent vornehmlich auf
der Solidarität der Kirche von heute mit den Fehlhaltungen von gestern liegt,
wovon schon die Rede war, wobei etwa an die Spaltung der Christenheit zu denken
ist(24) oder an "die Methoden der Intoleranz oder sogar der Gewalt"(25), die für
die Verkündigung des Evangeliums herangezogen wurden.
Fördern möchte der Papst auch eine theologische Vertiefung dieser bewussten
Annahme des historischen Versagens und der möglichen Bitte um Vergebung
gegenüber den Zeitgenossenz(26). Im Apostolischen Schreiben Reconciliatio et
Paenitentia bekräftigt er den Glauben, dass im Sakrament der Buße "der Sünder
sich mit seiner Schuld allein vor Gott gestellt sieht, seiner Reue und seinem
Heilsvertrauen. Keiner kann an dessen Stelle oder in seinem Namen um Vergebung
bitten." Die Sünde ist daher immer der Person eigen, wenn sie auch die ganze
Kirche verletzt und beeinträchtigt, die, vergegenwärtigt durch den Priester als
Diener des Bußsakraments, die sakramentale Vermittlerin der Versöhnungsgnade mit
Gott ist(27).
Auch die Situationen, die innerhalb einer menschlichen Gemeinschaft durch
Verletzung der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Friedens die "soziale Sünde"
bedingen, "sind immer Frucht, Verknotungen und Zusammenballung von persönlichen
Sünden". So sehr sich oft auch die moralische Verantwortung in anonymen Ursachen
fast aufzulösen scheint, so sehr muss man dagegen betonen, dass von sozialer
Sünde nur in einem analogen Sinn die Rede sein kann(28).
Daraus ergibt sich die Einsicht, dass Schuld im eigentlichen Sinne des Wortes
den Personen nicht angerechnet werden kann, die nicht freiwillig in Tat,
Unterlassung oder Fahrlässigkeit dem schuldhaften Tun zugestimmt haben.
1.4 Die zur Beantwortung anstehenden Fragen
Die Kirche ist eine lebendige Gemeinschaft, die in der Folge der Generationen
durch die Geschichte geht. Ihr Gedächtnis ist nicht nur durch die auf die
Apostel zurückreichende Tradition geprägt. In ihrem Gedächtnis sind auch die
verschiedensten historischen Erfahrungen im positiven und negativen Sinn
gespeichert, die sie erlebt und durchlebt hat. Die Geschichte der Kirche
bestimmt zu einem großen Teil ebenso ihr Bewusstsein in der Gegenwart. Die
Lehrtradition, die Überlieferungen ihres liturgischen, kanonischen und
aszetischen Lebens bieten der gegenwärtigen Gemeinschaft der Glaubenden reiche
Nahrung. Sie sind gleichsam wie ein unerschöpflicher Katalog von
nachahmenswerten Modellen, die für die Gestaltung christlichen Lebens
bereitstehen. Aber während ihrer ganzen irdischen Pilgerschaft wird der gute
Weizen unentwirrbar mit dem Unkraut zusammenstehen (vgl. Mt 13,24-30. 36-43),
d.h. die Heiligkeit steht neben Untreue und Sünde(29)
Und so kann die Erinnerung an die Ärgernisse der Vergangenheit das Zeugnis der
Kirche von heute behindern, wie umgekehrt das Eingeständnis des Versagens der
Söhne und Töchter der Kirche von gestern die Erneuerung und Versöhnung in der
Gegenwart begünstigen kann.
Die Schwierigkeit, die sich abzeichnet, besteht in einer genauen Beschreibung
der Sünden der Vergangenheit im Hinblick vor allem auf die Kriterien einer
historischen Urteilsbildung. Man muss genau unterscheiden zwischen der
Verantwortung oder der Schuld, die Christen als gläubigen Gliedern der Kirche
zukommt, und den Verfehlungen, die mit der christlich geprägten
Gesellschaftsform einiger Jahrhunderte (der sogenannten cristianità)
zusammenhängen, als die Strukturen der weltlichen und geistlichen Macht
ineinander verwoben waren.
Ohne eine wirklich geschichtliche Hermeneutik, die zwischen dem Handeln der
Kirche als Glaubensgemeinschaft und einer christianisierten Gesellschaft klar zu
unterscheiden weiß, kommt hier niemand weiter.
Die von Johannes Paul II. unternommenen Schritte auf konkrete Vergebungsbitten
hin sind in den verschiedensten Bereichen, im kirchlichen wie auch im
nichtkirchlichen Milieu, als Zeichen der Vitalität und Authentizität der Kirche
verstanden worden, die sie in ihrer Glaubwürdigkeit nur bestärken können.
Damit kann die Kirche auch falsche und nicht akzeptable Vorstellungen über sich
relativieren, die in einflussreichen Kreisen gehegt werden, wo man ignorant oder
wider besseres Wissen die Kirche mit Obskurantismus und Intoleranz identifiziert.
Die Vergebungsbitten des Papstes haben indessen im positiven Sinn einen
Wetteifer im kirchlichen Bereich und darüber hinaus ausgelöst. Denn auch höchste
Repräsentanten von Staaten und privaten wie öffentlichen Gesellschaften sowie
die Führer religiöser Gemeinschaften bitten gegenwärtig um Vergebung für
bestimmte geschichtliche Vorkommnisse in Perioden, die von Ungerechtigkeiten
gekennzeichnet waren.
Diese Handlungen sind das Gegenteil von bloßer Rhetorik, und zwar in einem
solchen Ausmaß, dass viele zögern, die Vergebungsbitte zu billigen und
mitzuvollziehen aus Angst vor den - nicht nur im gerichtlichen Sinn verstandenen-
"Kosten", die eine Anerkennung der Mitverantwortung für die negativen Ereignisse
der Geschichte mit sich bringen könnte. Gerade auch unter diesem Gesichtspunkt
erweist sich die Bildung eines historischen Urteilsvermögens als vordringlich.
Nicht zu übersehen ist auch, dass sich manche Gläubige von dem kirchlichen
Schuldbekenntnis vor den Kopf gestoßen fühlen, insofern ihre Loyalität gegenüber
der Kirche erschüttert werden könnte. Einige fragen, wie es möglich sein soll,
der jungen Generation eine Liebe zur Kirche einzupflanzen, wenn man dieser
Vergehen und Sünden anlastet. Andere beobachten mit Sorge, dass das
Schuldbekenntnis der Kirche sehr einseitig bleiben könnte und eingefleischte
Kirchenhasser es als Bestätigung ihrer Vorurteile und als Waffe antichristlicher
Propaganda missbrauchen.
Andere schrecken davor zurück, die heutigen Generationen der Gläubigen
willkürlich für das Versagen in der Vergangenheit zu beschuldigen, vor allem für
Taten, denen sie in keiner Weise zugestimmt hätten, obgleich sie sich bereit
erklären, Verantwortung zu übernehmen, und zwar in dem Maß, in dem menschliche
Gemeinschaften sich auch heute noch von den Nachwirkungen betroffen fühlen, die
von den Ungerechtigkeiten herrühren, deren sich ihre Vorfahren schuldig gemacht
haben. Andere schließlich halten dafür, dass die Kirche ihr "Gedächtnis reinigen"
soll hinsichtlich zweifelhafter Aktionen, in die sie verwickelt war, indem sie
einfach teilnimmt an der kritischen Aufarbeitung des historischen Bewusstseins,
das sich in unserer Gesellschaft entwickelt hat. So könnte sie gemeinsam mit
allen Zeitgenossen all das ablehnen, was das moralische Gewissen zurückweist,
ohne sich als die einzige schuldige und verantwortliche Gemeinschaft für alle
Übel der Vergangenheit hinzustellen. Dies schließe gleichzeitig den im
wechselseitigen Verstehen geführten Dialog mit denen ein, die sich noch heute
von Vorgängen der Vergangenheit verletzt fühlen, die Gliedern der Kirche
anzukreiden sind. Schließlich ist zu erwarten, dass auch einige andere Gruppen
eine vergleichbare Vergebungsbitte reklamieren, analog zu anderen Gruppen oder
weil sie glauben, ebenfalls Unrecht erlitten zu haben.
Auf jeden Fall ist aber festzuhalten, dass die "Reinigung des Gedächtnisses"
nicht den Verzicht der Kirche auf ihre Sendung bedeuten kann, die geoffenbarte
Wahrheit in Glaubens- und Sittenfragen zu verkünden, die ihr von Gott anvertraut
worden ist.
Es kristallisieren sich also verschiedene wichtige Fragestellungen heraus: Kann
man das Gewissen heutiger Menschen mit einer "Schuld" belasten, die untrennbar
mit unwiederholbaren historischen Phänomenen verknüpft ist, wie z.B. die
Kreuzzüge und die Inquisition?
Macht man es sich nicht zu leicht, die Protagonisten der Vergangenheit aus der
Sichtweise der Gegenwart zu beurteilen, wie es die Schriftgelehrten und
Pharisäer taten, die sagten: "Hätten wir in den Tagen unserer Väter gelebt,
wären wir nicht wie sie am Tod der Propheten schuldig geworden" (vgl. Mt
23,29-32.30). Kann man ohne Rücksicht auf die Zeitumstände, in die jede
Gewissensentscheidung eingebettet ist, die Handlungsweise der Vorfahren von
einem (nur scheinbar) übergeschichtlich-reinen Gewissensstandpunkt aus
beurteilen?
Aber von der anderen Seite her betrachtet kann man sicher nicht leugnen, dass
das moralische Urteil immer im Spiel bleibt, schon allein auf Grund der
schlichten Tatsache, dass die Wahrheit Gottes und ihre moralischen Forderungen
immer Bestand haben. Welche Haltung hier auch immer einzunehmen sein mag, sie
muss sich an diesen Fragen orientieren und darf ihr Niveau nicht unterschreiten.
Es gilt, Antworten zu suchen, die zutiefst fundiert sind in der Offenbarung und
in ihrer lebendigen Weitergabe im Glauben der Kirche.
Die vordringlichste Aufgabe besteht in der Beantwortung der Frage, welche Form
die Vergebungsbitte für Verfehlungen aus der Vergangenheit haben kann, besonders
wenn sie sich an heutige menschliche Gemeinschaften richtet.
Entscheidend ist hier das Evangelium von der Versöhnung des Menschen mit Gott
und dem Nächsten. Diese Botschaft kann in ihrer tiefsten Bedeutung nur im
Horizont eines biblischen und theologischen Horizontes erhellt werden.
Zweites Kapitel
BIBLISCHE ZUGÄNGE ZUR FRAGE:
HEILIGES GOTTESVOLK UND SCHULD
Man kann das Schuldbekenntnis Israels im Alten Testament theologisch in
verschiedener Weise herausarbeiten. Das gilt auch für das Sündenbekenntnis, wie
es sich in den Überlieferungen des Neuen Testaments darstellt (30).
Die Aufgabe, das Schuldbekenntnis der Kirche theologisch zu reflektieren, legt
einen thematischen Zugang nahe, der sich von der Frage führen lässt: In welchem
Sinnkontext und Referenzrahmen steht nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift die
Einladung Johannes Pauls II. an die Kirche, Sünden und Fehler der Vergangenheit
zu bekennen?
2.1 Altes Testament
Sündenbekenntnisse und Vergebungsbitten finden sich in der ganzen Heiligen
Schrift, in den Geschichtserzählungen des Alten Testaments ebenso wie in den
Psalmen, den Propheten und in den Evangelien. Das gilt gleichfalls, wenn auch
eher sporadisch, für die Weisheitsliteratur und die neutestamentlichen Briefe.
Angesichts der Überfülle der Zeugnisse stellt sich die Frage, wie man die
sprechendsten Zeugnisse auswählen und inhaltlich ordnen soll.
Man kann die biblischen Zeugnisse in Bezug auf das Sündenbekenntnis mit der
Leitfrage untersuchen: Wer bekennt wem welche Sünde?
Anhand dieser Fragestellung ergeben sich zwei Hauptkategorien der
Sündenbekenntnisse, wozu natürlich diverse Unterkategorien gehören: a) Texte des
Bekenntnisses individueller Sünden, und b) Texte mit dem Bekenntnis der Sünden
des ganzen Volkes (und der Vorfahren).
Angesichts der aktuellen kirchlichen Praxis, der diese Untersuchung dient,
empfiehlt sich eine Beschränkung der Analyse auf die zweite Kategorie.
In dieser Kategorie des Sündenbekenntnisses des ganzen Volkes lassen sich
verschiedene Möglichkeiten unterscheiden: Wer spricht das Bekenntnis der Sünden
des Volkes, wer ist miteinbezogen und wer nicht, noch ganz abgesehen davon, ob
und inwieweit sich ein Bewusstsein persönlicher Verantwortlichkeit erkennen
lässt, das sich erst nach und nach ausgebildet hat (vgl. Ez 14,12-23;18,1-32;
33,10-20).
Anhand dieser Kriterien sind folgende Fälle zu unterscheiden, die aber durchaus
fließende Übergänge aufweisen:
- Eine erste Reihe von Texten zeigt das ganze Volk (das manchmal in einem
einzelnen "Ich" personifiziert ist), wie es in einem besonderen Moment seiner
Geschichte seine Sünden vor Gott bekennt oder auf sie hinweist, ohne dass
irgendein (expliziter) Bezug auf die Sünden und Fehler vorangegangener
Generationen hergestellt wird(31).
- Eine zweite Gruppe von Texten legt das Bekenntnis der Sünden des Volkes vor
Gott auf die Lippen einzelner oder mehrerer (religiöser) Autoritäten, die sich
ausdrücklich in das Volk, für das sie bitten, miteinschließen können (oder auch
nicht)(32).
- Eine dritte Textgruppe stellt das Volk oder einen seiner Repräsentanten vor,
wie diese die Sünden der Vorfahren ins Gedächtnis rufen, ohne dabei jedoch die
Sünden der gegenwärtigen Generation zu erwähnen(33).
- Sehr häufig werden die Sündenbekenntnisse, die die Schuld der Vorfahren
erwähnen, ausdrücklich auf die Irrtümer der gegenwärtigen Generation bezogen und
mit ihnen in Verbindung gebracht(34).
Aus den angeführten Zeugnissen ergibt sich: In allen Fällen, in denen die "Sünden
der Väter" erwähnt werden, richtet sich das Bekenntnis ausschließlich an Gott.
Alle Sünden, die das Volk bekennt oder die in seinem Namen bekannt werden, sind
immer Sünden, die sich unmittelbar gegen Gott gerichtet haben, eher als die
Sünden, die man gegenüber anderen Menschen beging (nur im Sündenbekenntnis von
Num 21,7 ist eine Auflehnung erwähnt, die sich gegen einen Menschen richtet,
nämlich gegen Mose)(35).
Somit erhebt sich die Frage nach dem Grund, warum die biblischen Schriftsteller
nicht die Notwendigkeit einer an die gegenwärtigen Partner gerichteten
Vergebungsbitte für die von den Vätern begangenen Sünden gesehen haben. Dies ist
um so bemerkenswerter angesichts des klaren Bewusstseins der
generationenübergreifenden Solidarität im Guten wie im Bösen (man denke nur an
die Vorstellung der "korporativen Persönlichkeit"). Die verschiedensten
Hypothesen wurden als Antwort auf diese Fragen aufgestellt.
Als allerwichtigster Umstand ist hier die biblische Theozentrik zu beachten. Sie
bestimmt die gesamte Schrift, sie stellt alle individuellen Sünden und
Verfehlungen des Volkes in den Horizont Gottes. Darüber hinaus ist zu beachten,
dass Gewalttätigkeiten Israels gegen andere Völker, für die man eine
Vergebungsbitte Israels an diese Völker und ihre Nachkommen erwarten sollte, als
Ausführung des göttlichen Heilsplans mit Israel verstanden wurden (insofern sich
diese Völker der Führung Israels durch Gott entgegengestellt hatten). Die
Interpretation der kriegerischen Konflikte Israels im Licht der
Führungsgeschichte Jahwes findet man etwa im Zusammenhang der Ausrottung der
Kanaanäer (Jos 2-11; Dtn 7,2) oder der Vernichtung der Amalekiter (1 Sam 15; Dtn
25,19). In solchen Fällen scheint die Ausführung eines von Gott erhaltenen
Auftrags von vornherein jede mögliche Vergebungsbitte auszuschließen(36).
Die üblen Erfahrungen mit der Gewalttätigkeit anderer Völker dürften die Idee
einer Bitte um Vergebung an diese Völker für das ihnen zugefügte Böse nicht
gerade gefördert haben".(37)
Aufs ganze gesehen darf aber der bedeutende Beitrag des Alten Testaments zum
Thema in der Vergebungsbitte für Unrecht aus der Vergangenheit bestehen. Es ist
das Bewusstsein der Solidarität in der Sünde wie auch in der Gnade, die es unter
den Generationen gibt, die in der Aufeinanderfolge ein Volk zu einem
geschichtlichen Subjekt machen. Es findet seinen Ausdruck im Bekenntnis der "Sünden
der Väter vor Gott". Daher konnte Johannes Paul II. die tiefgründigen Worte aus
dem Lobgesang Asarjas im Feuerofen aufgreifen und im Blick auf die Gegenwart
bekennen: "<Gepriesen bist du, Herr Gott unserer Väter... wir haben gesündigt
und durch Treubruch gefrevelt und haben in allem gefehlt. Wir haben deinen
Geboten nicht gehorcht> (Dan 3,26.29). Auf diese Weise beteten die Juden nach
dem Exil (vgl. auch Bar 2,11-13), indem sie bewusst die Last der Sünden auf sich
nahmen, die ihre Väter begangen hatten. Die Kirche ahmt ihr Beispiel nach und
bittet um Vergebung für die vergangenen Sünden auch ihrer Söhne und Töchter."(38)
2.2 Neues Testament
Entscheidend für das Verständnis von Schuld und Sünde im gesamten Neuen
Testament ist das Bewusstsein von der absoluten Heiligkeit Gottes. Der Gott Jesu
ist der Gott Israels (vgl. Joh 4,22), den Jesus anspricht als "Heiliger Vater" (Joh
17,11), der auch schlechthin "der Heilige" (Joh 2,20; vgl. Offb 6,10) genannt
wird. Das Dreimal-Heilig der Jesaja-Vision (Jes 6,3) ertönt auch in der
himmlischen Liturgie, wie der Seher Johannes bezeugt (Offb 4,8). Deswegen sind
die Christen mit apostolischer Autorität (1 Petr 1,16) aufgerufen zur Heiligkeit,
"weil geschrieben steht: Seid heilig, wie ich heilig bin" (Lev 11,44f.;19,2). In
diesen Aussagen spiegelt sich das alttestamentliche Verständnis der absoluten
Heiligkeit Gottes wider. Die spezifisch christliche Sicht ist das Bekenntnis,
dass Gottes Heiligkeit in der Person Jesu von Nazaret in die Geschichte
eingetreten ist. Damit ist aber die alttestamentliche Sicht nicht aufgegeben,
sondern erst in ihrem vollen Sinn ans Licht getreten. Die Heiligkeit Gottes
vergegenwärtigt sich in der Heiligkeit des fleischgewordenen ewigen Wortes, des
Sohnes Gottes (Mk 1,24; Lk 1,35; 4,34; Joh 6,69; Apg 3,14; 4,27.30; Offb 3,7).
An der Heiligkeit des Sohnes haben "die Seinen" Anteil (Joh 17,16-19), da sie
hineingenommen sind in die Sohnesbeziehung Christi zum Vater. Sie sind Söhne und
Töchter Gottes im Sohn Gottes (vgl. Gal 4,4-6; Röm 8,14-17). Doch kann es keinen
Anspruch auf die Anteilnahme am Sohnesverhältnis Jesu zum Vater geben, ohne dass
es sich auch in der Liebe zum Nächsten auswirkt (vgl. Mk 12,29-31; Mt 22,37f.;
Lk 10,27f.). Dieses Motiv, das in der Verkündigung Jesu so entscheidend ist,
begegnet im Johannesevangelium als "das neue Gebot": Die Jünger müssen einander
lieben, wie er sie geliebt hat (vgl. Joh 13,34f.;15,12.17), und zwar "bis zur
Vollendung" (Joh 13,1f .).
Der Christ ist darum berufen zu lieben und zu vergeben nach einem Maß, das alles
menschliche Maß von Gerechtigkeit übersteigt. Es geht um eine Wechselseitigkeit
der Liebe unter den Menschen, welche die Gemeinschaft der Liebe von Vater und
Sohn widerspiegelt (vgl. Joh 13,34f.;15,1-11;17,21-26). In dieser Perspektive
erhält das Thema der Wiederversöhnung und der Vergebung eine ganz neue
Ausprägung. Jesus verlangt von seinen Jüngern, immer zur Vergebung bereit zu
sein, wenn sich jemand an ihnen versündigt hat, so wie auch Gott selbst immer
Vergebung gewährt: "Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern
Schuldigem" (Mt 6,12.12-15), wie Jesus die Jünger im Gebet des Herrn zu sprechen
gelehrt hatte. Wer wirklich seinem Nächsten vergibt, hat verstanden, dass er
selber immer der Vergebung Gottes bedarf. Die Jünger sind eingeladen, bis zu "siebenmal
siebzigmal" denen zu vergeben, die sie beleidigten, selbst wenn diese sie nicht
um Verzeihung gebeten haben sollten (vgl. Mt 18,21f.).
Jesus insistiert auf diesem Verhalten des Geschädigten gegenüber seinen
Schuldigem. Er ist aufgerufen, den ersten Schritt zu tun. Nur der kann den
Teufelskreis der Vergeltung durchbrechen, der "von Herzen" vergibt (vgl. Mt
18,35; Mk 11,25), wohlwissend, dass er selbst Sünder ist vor Gott, der die
ehrliche Bitte um Vergebung nie zurückweist. In der Bergpredigt erwartet Jesus
von dem, der weiß, dass sein Bruder etwas gegen ihn hat, "dass er hingeht und
sich mit seinem Bruder versöhnt, ehe er seine Gabe auf dem Altar opfert" (Mt
5,23f.). Derjenige ist eines Aktes der Verehrung Gottes nicht würdig, der nicht
zuvor den Schaden wiedergutmachen will, den er dem Nächsten zugefügt hat. Was
zählt, ist Herzensänderung und die Bereitschaft zu wirklicher Versöhnung. Der
Sünder, der darum weiß, dass seine bösen Taten seine Beziehung zu Gott und
zugleich zum Mitmenschen geschädigt haben (Lk 15,21), kann von niemandem außer
von Gott Vergebung erwarten, weil Gott allein immer barmherzig und zur
Überwindung der Sünden bereit ist. Darin liegt auch der tiefere Sinn des Opfers
Christi, der uns ein für allemal von unseren Sünden erlöst hat (vgl. Hebr 9,22;
10,18). Auf diese Weise sind Menschen, als Täter und Opf er der bösen Taten, in
Gott wieder miteinander versöhnt in seiner Barmherzigkeit, in der er alle
annimmt und allen seine Vergebung gewährt.
Im Kontext dieser Aussagen, die man mühelos mit Hilfe der Paulinischen und der
Katholischen Briefe und weiterer neutestamentlicher Schriften noch anreichern
und ausbauen könnte, findet man jedoch nirgends ein Indiz dafür, dass die
Urkirche ihre Aufmerksamkeit den Sünden der Vergangenheit zugewendet hätte mit
der Absicht, für sie um Vergebung zu bitten. Das lässt sich leicht erklären. Die
ungeheure Neuheit des Christlichen hat das Bewusstsein der jungen Kirche ganz
auf die Zukunft gerichtet. Der Blick in die Vergangenheit tritt zurück. Man
trifft jedoch auf eine Einsicht, die in den Evangelien und in den apostolischen
Briefen immer neu und mit Nachdruck betont wird: die besondere Ambivalenz der
christlichen Hoffnung. Bei Paulus ist die Kirche, das neue Volk Gottes, eine
eschatologische Gemeinde, die jetzt schon als die "neue Schöpfung" (2 Kor 5,17;
Gal 6,15) existiert. Diese Erfahrung hat ihren Ermöglichungsgrund in Tod und
Auferstehung Christi (vgl. Röm 3,21-26; 5,6-11; 8,1-11; 1 Kor 15,54-57). Sie
befreit uns aber nicht von der Neigung zur Sünde, solange wir in dieser Weltzeit
leben, die noch bis zur Parusie vom Fall Adams geprägt bleibt.
Als Ergebnis des göttlichen Eingreifens in die Geschichte durch den Tod Jesu
Christi bleiben zwei mögliche Szenarien übrig: die Geschichte in der Konsequenz
der Sünde Adams und die Geschichte unter der Macht der Gnade Christi. Diese
beiden Grundorientierungen durchziehen die Geschichte und laufen nebeneinander
her. Der Glaubende jedoch wird voll und ganz auf Tod und Auferstehung Christi,
des Herrn, bauen (vgl. Röm 6,1-11; Gal 3,27f; Kol 3,10; 2 Kor 5,14f .) und so zu
der Geschichte gehören, in der die Gnade überreich wurde und alles durchprägt (vgl.
Röm 5,12-21).
Eine ähnliche theologische Relecture des Osterereignisses zeigt, dass die Kirche
seit ihren Anfängen ein deutliches Bewusstsein hatte von möglichen Fehlern und
Mängeln der Getauften. Ohne weiteres kann man sagen, dass das gesamte
paulinische Schrifttum die Gläubigen zur vollen Erkenntnis ihrer Würde führen
möchte, indem sie zugleich an die Gebrechlichkeit der menschlichen Existenz
erinnert werden. Die Conditio humana et christiana umschreibt der Apostel so: "Zur
Freiheit hat Christus uns befreit. Bleibt daher fest und lasst euch nicht von
neuem das Joch der Knechtschaft auflegen!" (Gal 5,1). Eine ähnliche Aussage
findet sich besonders auch im Markusevangelium. Zu den Hauptthemen zählen dort
die Fehler und Mängel der Jünger Jesu (vgl. Mk 4,40f.; 6,36f.51f.;
8,14-21.31-33; 9,5f.32-41; 10,32-45; 14,10f.17-21.27-31.50; 16,8). Dieses Motiv
findet sich in unterschiedlicher Schattierung in allen Evangelien. Judas ist der
Verräter Christi und Petrus hat seinen Meister verleugnet. Judas verzweifelt
angesichts seiner Tat (vgl. Apg 1,15-20), während Petrus bereut (vgl. Lk
22,61f.) und schließlich das dreifache Bekenntnis der Liebe ablegt (vgl. Joh
21,15-19). Bei Matthäus findet sich die Bemerkung, dass bei der letzten
Erscheinung des auferstandenen Herrn "einige zweifelten" (Mt 28,17), während die
Jünger vor ihm niederknieten. Im vierten Evangelium sind die Jünger diejenigen,
die mit einer unvergleichbaren Liebe beschenkt sind, obgleich ihre Antwort
verdunkelt ist von Unverständnis, Glaubensschwäche, Verleugnung und Verrat (vgl.
Joh 13,1-38).
Diese durchgängige Darstellung der Jünger, die in die Nachfolge Jesu berufen
sind und die doch unsicher und zur Sünde geneigt bleiben, dient nicht einfach
nur einer bloßen Information über historische Vorkommnisse der Anfangszeit. Die
biblischen Erzählungen richten sich an alle Jünger Christi, die in schwierige
Situationen geraten und das Evangelium als Orientierung für das Leben und als
Quelle geistlicher Belehrung ansehen. So ist das Neue Testament voll von
Ermahnungen zu einem Leben nach dem Maß des Guten, zur Erkenntnis der
eingegangenen Verpflichtungen und zur Vermeidung böser Taten (vgl. etwa Jak 1,5.
8.19-21; 2,1-7; 4,1-10; 1 Petr 1,13-25; 2 Petr 2,1-22; Jud 3-13; 1 Joh 1,5-10;
2,1-11.18-27; 4,1-6; 2 Joh 7-11; 3 Joh 9f.).
Es bleibt aber festzuhalten, dass es kein explizites Zeugnis gibt, nach dem die
ersten Christen aufgefordert werden, Sünden und Fehler aus der vergangenen
Geschichte zu bekennen, auch wenn es bezeichnend ist, dass die Wirklichkeit der
Sünde und des Bösen in Erinnerung gerufen wird auch und gerade für das innere
Leben der Kirche, deren Glieder, die Christen, zur eschatologischen Existenz
berufen sind. Man denke nur an die starken Worte des Tadels, die sich in den
Briefen an die sieben Kirchen in der Apokalypse des Johannes finden.
Belehrt von ihrem Herrn beten die Christen: "Erlass uns unsere Schuld, wie auch
wir jedem erlassen, was er uns schuldig ist" (Lk 11,4; vgl. Mt 6,12).
Es besteht kein Zweifel, dass sich die ersten Christen - überblickt man den
biblischen Befund - durchaus der Möglichkeit bewusst waren, in ihrem Handeln von
ihrer Berufung zum ewigen Leben abzuweichen, das ihnen zuteil geworden war in
der Taufe auf den Tod und die Auferstehung Jesu Christi.
2.3 Das biblische "Jubeljahr"
Darüber hinaus gibt uns die Bibel einen besonderen Rahmen für eine Versöhnung,
die auf eine Überwindung der Altlasten der Geschichte hinzielt: die Feier des "Jubeljahres",
wie es im einzelnen im Buch Leviticus geregelt ist (Lev 25).
In einer Sozialstruktur, die aus Stämmen, Clans und Großfamilien besteht,
entstehen unvermeidlicherweise Situationen der Unordnung, wenn Individuen oder
Familien sich genötigt sehen, sich aus unerträglichen Lebensumständen "auszulösen"
durch Verzicht auf ihr Eigentum an Land oder Haus oder ihren Knechten und
Kindern, die sie an diejenigen abgeben mussten, die ohnehin schon unter besseren
Bedingungen lebten. Ein solches System führte dazu, dass einige Israeliten in
unerträgliche Formen der Verschuldung, der Armut und Schuldsklaverei gerieten
ausgerechnet in dem Land, das ihnen und den Israeliten von Gott selbst zum
Nutzen und Formen aller geschenkt worden war, nachdem er sie aus der Sklaverei
und Knechtschaft Ägyptens befreit hatte. Für eine mehr oder weniger lange Zeit
konnten also ein Territorium oder ganze Familien in die Hand weniger Reicher
fallen, während sich andere Israeliten in hoffnungsloser Verschuldung und
Knechtschaft in totaler Abhängigkeit von den Reichen wiederfanden.
Die Gesetzgebung von Levitikus 25 ist der Versuch, diese Ungleichheit und
Ungerechtigkeit von Grund auf zu überwinden. Wenn auch Zweifel bestehen, ob der
Versuch jemals vollkommen in die Praxis umgesetzt werden konnte, so ist doch die
Zielsetzung von großer Wirkung. Die Feier des Jubeljahres alle 50 Jahre hatte
zum Ziel, die soziale Grundverfassung des Volkes Gottes zu bewahren und die
soziale Unabhängigkeit und Freiheit auch der kleinen Familien des Landes
wiederherzustellen.
Entscheidend für Levitikus 25 ist die regelmäßige Wiederholung des
Glaubensbekenntnisses Israels. Israel bekennt seinen Glauben an Gott, der sein
Volk im Exodus aus der Sklaverei befreit hatte: "Ich bin der Herr, euer Gott,
der euch aus Ägypten herausgeführt hat, um euch das Land Kanaan zu geben und
euer Gott zu sein" (Lev 25,38; vgl. 25,42. 45). Mit der Feier des Jubeljahres
war ein Schuldenerlass verbunden und der Versuch der Wiederherstellung einer
gerechten Ordnung. Jedes System, das irgendeinen Israeliten zum Fremden machte,
der ja einmal Sklave war, dann aber durch die machtvolle Hand Gottes befreit
wurde, widerspräche in der Tat direkt dem göttlichen Heilshandeln.
Später nehmen die Propheten die Befreiung der Opfer von Gewalt und der unter
Ungerechtigkeit Leidenden wieder auf. Es wird geradezu ihr Programm. In den
Liedern vom leidenden Gottesknecht (Jes 42, 1-9; 49,1-6; 50,4-11; 52,13-53,12)
entwickelt Deutero-Jesaja diese Bezüge zur Praxis des Jubeljahres weiter mit
seinen großen Themen vom "Lösegeld" und von der Freiheit, der Rückkehr und der
Erlösung. Jesaja 58 ist ein Angriff gegen einen bloßen Ritualismus, der nichts
zu tun haben will mit sozialer Gerechtigkeit. Es ergeht der Aufruf zur Befreiung
der Versklavten (Jes 58,6). Nachdruck wird gelegt auf die Pflichten gegenüber
der Verwandtschaft.
Es gibt keine eindrücklichere Erläuterung des inneren Sinnes des Jubeljahres,
als wenn Jesus am Beginn seines öffentlichen Wirkens, mit deutlicher Anspielung
auf Jesaja 58,b und mit Rückverweis auf Levitikus 25, die Aufgabe seines Lebens,
seine Sendung und seinen Dienst vorstellt mit den Worten:
"Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich
gesandt; damit ich den Armen das Evangelium verkünde; damit ich den Gefangenen
die Entlassung predige und den Blinden das Augenlicht, damit ich die
Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe" (Lk
4,18f.).
2.4 Zusammenfassung
Aus den bisherigen Untersuchungen kann man ersehen, dass der Aufruf Johannes
Pauls II. an die Kirche, das Jubeljahr zu begehen mit dem charakteristischen
Merkmal eines Eingeständnisses der Schuld für alle Leiden und Kränkungen, die
die Söhne und Töchter der Kirche in der Vergangenheit anderen zugefügt
haben(39), in den biblischen Zeugnissen zwar keinen unmittelbaren
Vergleichspunkt hat. Dennoch bietet die Heilige Schrift hierfür eine gute und
ausreichende Grundlage, sofern man nur an die Grundaussagen zur Heiligkeit
Gottes, zur generationenübergreifenden Solidarität im Gottesvolk denkt, und
sofern wir uns immer der Tatsache bewusst bleiben, dass wir Sünder sind.
Zudem trifft der Aufruf des Papstes exakt den Geist des biblischen Jubeljahres,
das Handlungen und Taten einfordert, wodurch die ursprüngliche Ordnung
wiederhergestellt werden soll, wie Gott sie für seine Schöpfung entworfen hatte.
Dies verlangt, dass die Proklamation des "Heute" des Jubeljahres, das mit Jesus
selbst seinen Anfang nahm (vgl. Lk 4,21 ), sich in die Jubiläumsfeier seiner
Kirche hinein fortsetzt. Diese einzigartige Erfahrung der Gnade motiviert das
ganze Gottesvolk und jeden einzelnen Getauften, das Gebot des Herrn ganz ernst
zu nehmen, nämlich immer bereit zu sein, seinen Schuldigem zu vergeben.
Drittes Kapitel
SYSTEMATISCHE DARSTELLUNG
"Zu Recht nimmt sich daher die Kirche, während sich das zweite christliche
Jahrtausend seinem Ende zuneigt, mit stärkerer Bewusstheit der Schuld ihrer
Söhne und Töchter an, eingedenk aller jener Vorkommnisse im Laufe der Geschichte,
wo diese sich vom Geist Christi und seines Evangeliums dadurch entfernt haben,
dass sie der Welt statt eines an den Werten des Glaubens inspirierten
Lebenszeugnisses den Anblick von Denk- und Handlungsweisen boten, die geradezu
Formen eines Gegenzeugnisses und Skandals darstellten.
Obwohl die Kirche durch ihre Inkorporation in Christus heilig ist, wird sie
nicht müde, Buße zu tun, sie anerkennt immer, vor Gott und vor den Menschen, die
Sünder als ihre Söhne. "(40)
Diese Worte Johannes Pauls II. zeigen, dass sich die Kirche von den Sünden ihrer
Glieder selbst betroffen weiß. Die Kirche ist heilig, insofern sie vom Vater
durch die Vermittlung des Kreuzesopfers des Sohnes in Heiligkeit konstituiert
wurde. Sie ist darum nicht ein menschliches Werk, sondern die Gabe des Heiligen
Geistes an die Menschen. Doch in einem gewissen Sinn ist diese Kirche auch
Sünderin, insofern sie real die Sünden derer, die sie wie eine Mutter in der
Taufe als ihre Kinder geboren hat, auf sich nimmt, ähnlich wie Christus, der
selbst ohne Sünden war, die Sünden der Welt, d.h. derer getragen hat, die durch
Glaube und Taufe zu Gliedern seines Leibes, der Kirche, werden sollten (vgl. Röm
8,3; 2 Kor 5,21; Gal 3,13; 1 Petr 2,24)(41).
Es begegnet uns im Tiefenbewusstsein der Kirche in ihrem Gang durch die
Geschichte die Überzeugung, dass die Kirche nicht einfach die Gemeinschaft der
Heiligen und Prädestinierten ist, sondern dass sie in ihrem Schoß sowohl
Gerechte als auch Sünder umfasst. Dies gilt für ihre Vergangenheit wie für ihre
Gegenwart. Denn aus ihrer Herkunft und Sendung ergibt sich ihre die Zeiten
übergreifende Einheit als Wesenszug ihres Mysteriums. In der Gnade und auch in
den Wunden, die ihr durch die Sünde ihrer Glieder zugefügt wurden, sind sich die
Getauften von gestern und heute nahe und verbunden. Darum kann man sagen: Die
Kirche, die in Christus und im Heiligen Geist geeint ist und darum eine einzige
und selbige Gemeinschaft in Raum und Zeit der Menschheitsgeschichte darstellt,
ist in Wahrheit "zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig"(42).
Dieses Paradox, das das Geheimnis der Kirche charakterisiert, wirft nun die
Frage auf, wie man beide Aspekte zusammensehen kann. Denn das Bekenntnis zu
Gottes Wirken, aus dem die Kirche hervorgeht, enthält sowohl den Glauben an die
Heiligkeit der Kirche und zugleich das Wissen um die immer bleibende
Notwendigkeit von Umkehr und Reinigung.
3.1 Die Kirche: Zeichen und Werkzeug des universalen Heilswillens Gottes
"Die Kirche steht inmitten der Geschichte, gleichzeitig aber überschreitet sie
auch die Dimension des geschichtlich Greifbaren. Nur <mit den Augen des Glaubens>
(Catechismus Romanus 1,10,20) vermag man in ihrer sichtbaren Wirklichkeit auch
eine geistige Realität wahrzunehmen, die Trägerin göttlichen Lebens ist."(43)
Diese innere Vermittlung des sichtbaren und geschichtlich wahrnehmbaren Aspektes
zur unsichtbaren Dimension, insofern die Kirche Gabe Gottes an die Menschen ist,
kann in Analogie gesehen werden zum gott-menschlichen Geheimnis Jesu Christi. Im
fleischgewordenen ewigen Wort Gottes ist die von der Person des Logos
angenommene menschliche Natur Christi Zeichen und Instrument des Heilswirkens
des Sohnes Gottes in der Welt. Die beiden Dimensionen des Seins und Wesens der
Kirche "bilden eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und
göttlichem Element zusammenwächst."(44) Es ist eine Communio, die teilhat am
Leben des dreieinigen Gottes. Sie bewirkt, dass sich die Getauften untereinander
vereint wissen trotz der Verschiedenheit der Zeiten und Orte ihrer
geschichtlichen Existenz.
In der Kraft dieser alle Zeiten und Geschichtsräume umspannenden Gemeinschaft
versteht sich die Kirche als ein einziges Handlungssubjekt und stellt sich als
eine einzige Wirklichkeit in der Geschichte der Menschheit dar. So ist sie
Trägerin der Gaben Gottes, aber auch der Verdienste und der Sünden ihrer Glieder
gestern und heute.
Um Missverständnisse zu vermeiden, darf bei der Erwähnung der nicht "unwesentlichen
Analogie des Mysteriums der Kirche mit dem Geheimnis des fleischgewordenen
Wortes" der Hinweis auf die tiefreichende Grenze dieser Analogie nicht
unterbleiben. "Während aber Christus heilig, schuldlos, unbefleckt war (Hehr
7,26) und die Sünde nicht kannte (2 Kor 5,21), sondern allein die Sünden des
Volkes zu sühnen gekommen ist (vgl. Hebr 2,17), umfasst die Kirche Sünder in
ihrem eigenen Schoß. Sie ist zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig,
sie geht immerfort den Weg der Buße und der Erneuerung."(45) Das Fehlen jeder
Sünde bei Christus, dem fleischgewordenen Wort, kann nicht unmittelbar auf
seinen Leib, der die Kirche ist, übertragen werden. Wenn auch jeder einzelne,
insofern er Glied ist am ekklesialen Leib Christi und an der von Gott
geschenkten Gnade teilhat, so muss er doch stets wachsam sein und bedarf einer
lebenslang währenden Buße und Erneuerung. Darin muss er sich auch verbunden
wissen mit der Schwachheit seiner Mitchristen. "Alle Glieder der Kirche, auch
ihre Diener, müssen bekennen, dass sie Sünder sind (vgl.1 Joh l,8ff.). In allen
wächst zwischen der guten Saat des Evangeliums bis zum Ende der Zeiten auch das
Unkraut der Sünde (vgl. Mt 13,24-30). Die Kirche vereint sündige Menschen, die
zwar vom Heil Christi erfasst, aber noch immer erst auf dem Weg zur Heiligkeit
sind."(46)
Schon Paul VI. hatte feierlich bekräftigt, dass "die Kirche heilig ist, obwohl
sich in ihrer Mitte auch Sünder befinden; denn sie lebt kein anderes Leben als
das der Gnade... Darum leidet die Kirche und büßt für die Sünden ihrer Söhne und
Töchter. Sie hat jedoch aus dem Blute Christi und aus der Gabe des Heiligen
Geistes auch die Vollmacht erhalten, ihre Kinder von den Wunden, welche die
Sünde geschlagen hat, zu heilen"(47). In ihrem Geheimnis ist die Kirche also ein
ständiges Aufeinandertreffen von Heiligkeit und Schwachheit, von Erlösung und
Versagen. Die Kirche bedarf darum immer neu der Erlösungsmacht der Gnade. Die
liturgische Praxis weist uns auf eine innere Gesetzmäßigkeit des Glaubens ("lex
credendi") hin. Der einzelne Gläubige und die Kirche als ganze flehen Gott an,
dass er nicht auf die Sünden der einzelnen schauen möge, sondern auf den Glauben
seiner Kirche, denn die Sünden sind eine Negation dieses Glaubens: "Ne respicias
peccata nostra, sed fidem Ecclesiae tuae".
Nimmt man die Einheit der Kirche in den Blick, die ihr Mysterium in dem einen
Raum der menschlichen Geschichtszeit vergegenwärtigt, treten die drei
wesentlichen Aspekte ihres Geheimnisses deutlich hervor: Der Aspekt der
Heiligkeit, der Aspekt der beständig notwendigen Buße und Reform sowie der
Aspekt, wie sich dies im Wirken der Kirche als unserer Mutter ausformt.
Diese drei Aspekte sollen im folgenden näher beleuchtet werden.
3.2 Die Kirche ist heilig ...
Die Kirche ist heilig, weil sie von Christus geheiligt worden ist. Indem er sich
für sie dahingegeben hat aus Liebe bis zum Tod am Kreuz, hat er sich die Kirche
als sein Eigentum erworben. Die Kirche wird in dieser Heiligkeit erhalten vom
Heiligen Geist, der ihr Leben und Wirken unaufhörlich innerlich durchdringt und
formt. So erklärt das II. Vatikanische Konzil: "Es ist Gegenstand des Glaubens,
dass die Kirche, deren Geheimnis die Heilige Synode vorlegt, unzerstörbar heilig
ist. Denn Christus, der Sohn Gottes, der mit dem Vater und dem Geist als <allein
Heiliger> gepriesen wird, hat die Kirche als seine Braut geliebt und sich für
sie hingegeben, um sie zu heiligen (vgl. Eph 5,25f.), er hat sie als seinen Leib
mit sich verbunden und mit der Gabe des Heiligen Geistes reich beschenkt zur
Ehre Gottes. Daher sind in der Kirche alle, mögen sie zur Hierarchie gehören
oder von ihr geleitet werden, zur Heiligkeit berufen."(48) In diesem Sinne ist
es zu verstehen, dass von den Anfängen der Kirche an ihre Glieder "die Heiligen"
genannt wurden (vgl. Apg 9,13; 1 Kor 6,1f.;16,1).
Man muss hier von Heiligkeit in einem zweifachen Sinne sprechen: einmal von der
Heiligkeit der Kirche und zum andern von der Heiligkeit in der Kirche. Die
Heiligkeit der Kirche ist begründet in den Sendungen des Sohnes und des Heiligen
Geistes. Sie gewährleistet die Kontinuität der Sendung des Gottesvolkes bis ans
Ende der Zeiten. Sie motiviert die Gläubigen und hilft ihnen auf dem Weg zur
persönlichen subjektiven Heiligkeit. In der Berufung, die jeder einzelne
empfängt, ist dagegen die besondere Form der Heiligkeit verwurzelt, die ihm
geschenkt wird als Gabe und die von ihm eingefordert wird als volle Erfüllung
seiner eigenen Berufung und Sendung.
Die persönliche Heiligkeit richtet sich auf Gott hin aus und auch auf die
anderen hin. Ihr kommt darum eine wesentliche soziale Bestimmung zu. Es ist eine
Heiligkeit "in der Kirche", die sich orientiert am Heil und Wohl aller.
Dieser Heiligkeit der Kirche muss die Heiligkeit in der Kirche entsprechen: "Die
Anhänger Christi sind von Gott nicht kraft ihrer Werke, sondern aufgrund seines
gnädigen Ratschlusses berufen und in Jesus dem Herrn gerechtfertigt, in der
Taufe des Glaubens wahrhaft Kinder Gottes und der göttlichen Natur teilhaftig
und so wirklich heilig geworden. Sie müssen daher die Heiligung, die sie
empfangen haben, mit Gottes Gnade im Leben bewahren und zur vollen Entfaltung
bringen."(49)
Der Getaufte ist berufen, mit seiner ganzen Existenz zu werden, was er in der
Kraft des Taufsakraments schon geworden ist. Dies kann nie geschehen ohne freie
Zustimmung des Menschen und ohne die Gnadenhilfe Gottes.
Wenn dies im Leben des Glaubenden Wirklichkeit wird, dann tritt in der
Geschichte die neue Menschheit ins Licht, wie Gott sie will. Niemand erreicht
die Vollkommenheit außer dem, der den Heilsplan Gottes sich zu eigen macht und
mit Hilfe der Gnade in seinem ganzen Sein eins wird mit dem Lebensentwurf, den
Gott für ihn bereitet hat. In diesem Sinne sind die Heiligen wie ein Licht, das
vom Herrn ausgeht und das Christi Licht inmitten der Kirche zum Leuchten bringt.
Sie sind prophetische Zeichen für die ganze Welt.
3.3 ... und als Gemeinschaft aus Menschen stets der Buße und der Reinigung
bedürftig
Ohne diese Heiligkeit einzuschränken, muss man doch zugeben, dass auch die
Erneuerung ständig notwendig ist, weil die Sünde immer da ist. Eine fortwährende
Umkehr im Gottesvolk ist unerlässlich. "Die Kirche ist schon auf Erden durch
eine wahre, wenn auch unvollkommene Heiligkeit ausgezeichnet."(50)
Der hl. Augustinns bemerkt gegenüber den Pelagianern: "Die Kirche in ihrer
Gesamtheit bittet: Vergib uns unsere Schuld! Die Kirche leidet noch unter dem
Makel, den Furchen und Falten. Aber mittels des Bekenntnisses werden die Furchen
und Falten geglättet, durch das Bekenntnis wird auch der Makel abgewaschen. Die
Kirche verharrt im Gebet, um durch das Bekenntnis ihre Reinigung zu empfangen.
Solange Menschen auf der Erde leben, wird es so bleiben."(51)
Der hl. Thomas von Aquin führt diesen Gedanken weiter. Die Vollendung der
Heiligkeit gehört der eschatologischen Zeit an. Indessen darf sich die pilgernde
Kirche nicht vorgaukeln, ohne Sünde zu sein: "Die herrliche Kirche, die keinen
Makel und keine Runzeln hat, ist das letzte Ziel, das wir durch das Leiden
Christi erreichen sollen. Dieses Ziel liegt aber erst im Leben der Heimat, nicht
im Leben der Pilgerschaft, von der Johannes sagt: <Wir betrügen uns selbst, wenn
wir sagten, wir sind ohne Sünde> (1 Joh 1,8)."(52) In Wirklichkeit ist es so,
wie sich vom Gebet des Herrn her gut zeigen lässt: "In der Bitte, dass sein Name
geheiligt werde, haben wir darum gebetet, selbst immer mehr geheiligt zu werden.
Obwohl wir das Taufkleid tragen, hören wir nicht auf zu sündigen, uns von Gott
abzuwenden. Jetzt, in dieser neuen Bitte, kehren wir wie der verlorene Sohn zu
ihm zurück (vgl. Lk 15,11-32) und bekennen uns vor ihm als Sünder, wie der
Zöllner es getan hat (vgl. Lk 18,13). Unsere Bitte beginnt mit einer <Beichte>,
in der wir zugleich unser Elend und Gottes Barmherzigkeit bekennen."(53)
Darum bekennt die ganze Kirche mit dem Bekenntnis der Sünden ihrer Glieder immer
auch ihren Glauben an Gott und seine unendliche Güte und Vergebungsbereitschaft.
Dank des Bandes, durch das der Heilige Geist die Kirche zusammenhält, ist die
Zeit und Raum umspannende Gemeinschaft unter den Getauften so geprägt, dass
darin jeder einzelne immer eine für das eigene Tun verantwortliche Person bleibt
und er doch in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis zu den Mitchristen
steht, so dass in einem lebendigen Austausch der geistlichen Güter der Leib
Christi und darin auch jedes einzelne seiner Glieder aufgebaut wird. Wenn so die
Heiligkeit des einen die anderen in ihrem Wachstum in der Gnade beeinflusst und
umgekehrt, dann darf die Kehrseite nicht aus dem Blick geraten. Die Sünde hat
nie eine nur individuelle Seite. Wenn in dieser Gemeinschaft durch die Sünde
einzelner der Heilsweg aller behindert und verstellt wird, dann ist die Kirche
in der Einheit ihres geschichtlichen Weges auch von jeder Sünde, zu welcher Zeit
auch immer sie begangen wurde, zutiefst betroffen.
Diese Überzeugung veranlasste die Kirchenväter, wie hier den hl. Ambrosius, zu
der lapidaren Feststellung: "Seien wir darauf bedacht, dass unser Fall nicht
eine Wunde der Kirche wird."(54)
Die Kirche, "die auf grund ihrer Inkorporation in Christus heilig ist, wird
nicht müde, Buße zu tun. Sie anerkennt immer, vor Gott und den Menschen, dass
die Sünder aus ihren Reihen ihre Söhne sind"(55), seien es Christen, die früher
gelebt haben oder die heute leben.
3.4 Die Kirche Gottes ist unser aller Mutter im Glauben
Die Überzeugung, dass die Kirche sich die Verantwortung für die Sünde ihrer
Glieder aufladen kann, ist in einprägsamer Weise ausgedrückt im Gedanken von der
"Kirche als Mutter". Dieses Konzept der Ecclesia Mater ist sicher das Herzstück
der frühpatristischen Ekklesiologie(56). Mit diesem Bildwort bringen die Väter
die Raum und Zeit durchziehende Solidarität aller Glaubenden und Getauften zum
Ausdruck, die in der Inkorporation der Kirche in Christus und der einzelnen in
der Taufe in der Kirche Christi und im Wirken des Heiligen Geistes begründet ist.
Das II. Vatikanum erklärte das Geheimnis der Mutterschaft der Kirche mit Hinweis
auf das Geheimnis Marias als Mutter und Jungfrau: "Nun aber wird die Kirche,
indem sie Marias geheimnisvolle Heiligkeit betrachtet, ihre Liebe nachahmt und
den Willen des Vaters getreu erfüllt, durch die gläubige Annahme des Wortes
Gottes auch selbst Mutter: Durch Predigt und Taufe nämlich gebiert sie die vom
Heiligen Geist empfangenen und aus Gott geborenen Kinder zum neuen und
unsterblichen Leben. Auch ist sie Jungfrau, da sie das Treuewort, das sie dem
Bräutigam gegeben hat, unversehrt und rein bewahrt und in Nachahmung der Mutter
ihres Herrn in der Kraft des Heiligen Geistes jungfräulich einen unversehrten
Glauben, eine feste Hoffnung und eine aufrichtige Liebe bewahrt."(57)
Der hl. Augustinus fasste diese reiche Tradition der Idee Ecclesia Mater in die
prägnante Formulierung: "Diese heilige Mutter, die aller Verehrung wert ist, die
Kirche, gleicht Maria, die geboren hat und Jungfrau geblieben ist, von ihr seid
ihr geboren. Sie brachte Christus hervor, denn ihr seid Christi Glieder."(58)
Der hl. Cyprian von Karthago sagt es ohne Umschweife: "Der kann Gott nicht zum
Vater haben, der die Kirche nicht zur Mutter hat."(59) Und der hl. Paulinus von
Nola besingt die Kirche in seinen geistlichen Gedichten: "Wie die Mutter
empfängt sie den Samen des ewigen Wortes, sie trägt die Völker in ihrem Schoß
und bringt sie in der Geburt zur Welt."(60)
Nach dieser Vision verwirklicht sich die Kirche kontinuierlich in der
Gemeinschaft des Geistes und im geistlichen Austausch der Glaubenden
untereinander. Die Kirche bietet so ein förderndes Umfeld des Glaubens und der
Heiligkeit in brüderlicher Gemeinschaft, in der Einmütigkeit des Betens, in der
solidarischen Teilnahme an Kreuz und Leiden und im gemeinsamen Zeugnis. Gestärkt
von dieser lebensaufbauenden Gemeinschaft kann sich jeder einzelne Getaufte zur
gleichen Zeit begreifen als Glied der Kirche, insofern er aus ihr geboren worden
ist, und als Mutter Kirche, insofern er mit seinem Glauben und seiner Liebe
mitwirkt, neue Söhne und Töchter Gottes hervorzubringen. Er ist um so mehr
Mutter Kirche, je größer seine Heiligkeit und je brennender sein Eifer ist, die
empfangene Gabe an andere weiter zu verschenken.
Andererseits aber bleibt er Glied der Kirche, wenn er sich auch durch die Sünde
dem Herzen nach von der Kirche getrennt hat. Denn er kann immer von neuem zu den
Quellen der Gnade hinzutreten und sich von der Last seiner Schuld befreien
lassen, die seine Gemeinschaft mit der Kirche beschädigt hat. Es ist klar, dass
sich die Kirche als wahre Mutter von den Sünden ihrer Söhne und Töchter gestern
und heute verletzt fühlen muss, aber ebenso klar ist, dass sie wie eine Mutter
auch nie aufhören kann, sie zu lieben und die Auswirkungen der Schuld ihrer
Kinder mitzutragen. Den Kirchenvätern erschien die Kirche wie eine
Schmerzensmutter, nicht allein wegen der äußeren Verfolgung der Christen,
sondern in einem noch viel tieferen Sinn wegen des Verrats, des Scheiterns, des
Zurückbleibens, der Fehler und Mängel ihrer Glieder.
Heiligkeit und Sünde bleiben nie ohne erhebliche Auswirkungen auf díe Kirche als
ganze, wenn auch vom Glauben her feststeht, dass die Heiligkeit als Frucht der
göttlichen Gnade sich immer als stärker erweist als die Sünde der Menschen. Ein
Beweis dafür sind die überzeugenden Gestalten der Heiligen, die ihre Heiligkeit
bis zum Tod bewahrt haben und die die Kirche als Beispiel und Hilfe für alle
empfiehlt. Zwischen Gnade und Sünde gibt es keine Parallelität, Symmetrie oder
gar ein dialektisches Verhältnis, denn der Einfluss des Bösen wird die Macht der
Gnade nie besiegen und die Ausstrahlung, die vom oft noch so verborgenen Guten
ausgeht, verdunkeln können.
In dieser Hinsicht weiß sich die Kirche existentiell heilig in ihren heiligen
Männern und Frauen. Während sie sich dieser Heiligkeit erfreut und aus den
Wohltaten Gottes Kraft schöpft, bekennt sich die Kirche aber nicht minder als
Sünderin. Aber in welchem Sinn versteht sie sich als Sünderin? Sie ist nicht
Sünderin in dem Sinn, dass sie selber Subjekt und Täterin der Sünde ist. Die
Kirche versteht sich als Sünderin, insofern sie sich in mütterlicher Solidarität
die Last der Sünden ihrer Glieder selber auflädt, denn sie möchte in ihrer
mütterlichen Liebe mitwirken an der Überwindung der Sünde und dem daraus
entstandenen Schaden für den einzelnen und die Gemeinschaft. Darum gewährt die
Kirche in der Vollmacht Christi nicht nur die Vergebung der Sünden und die
Wiederversöhnung mit der Gemeinschaft. Die Kirche geht selbst den Weg der Buße
und Umkehr zur Erneuerung des Lebens in der Gnade mit. Deswegen erkennt es die
Kirche als ihre Pflicht, "zutiefst die Schwachheit so vieler ihrer Söhne zu
bedauern, die das Antlitz der Kirche dadurch entstellten, dass sie sie hinderten,
das Abbild ihres gekreuzigten Herrn als eines unübertrefflichen Zeugen
geduldiger Liebe und demütiger Sanftheit widerzuspiegeln".(61)
Schuldeingeständnis und Übernahme der Verantwortung können in geeigneter Weise
geschehen seitens derer, die durch ihr Charisma und ihr Amt die Gemeinschaft des
Gottesvolkes in besonders deutlicher Weise repräsentieren. Im Namen der
Ortskirchen können die verantwortlichen Oberhirten ein Schuldbekenntnis und eine
Bitte um Vergebung ausdrücken. Im Namen der Gesamtkirche, die eine ist in der
Geschichte zu allen Zeiten und an allen Orten, kann dies der Bischof von Rom,
der Papst, tun, da er das Amt der universalen Einheit ausübt und der Kirche "vorsteht
in der Liebe"(62).
Es ist ein besonders eindrückliches Zeichen, dass gerade vom Heiligen Vater
diese Einladung an die Kirche ausgesprochen wurde, "sich erneut und vertieft die
Sünden ihrer Söhne und Töchter bewusst zu machen" und die Notwendigkeit von Buße
und Wiedergutmachung zu erkennen, "indem Christus inständig um Vergebung
angerufen wird"(63)
Viertes Kapitel
HISTORISCHE UND THEOLOGISCHE BEURTEILUNG GESCHICHTLICHER VORGÄNGE
Betrachtet man die Sünden und Fehlleistungen der Vergangenheit im einzelnen, für
die um Vergebung gebeten werden soll, erhebt sich die Frage nach einer exakten
historischen Beurteilung. Historische Sachkenntnis muss auch die Grundlage sein
für eine Beurteilung der Ereignisse und der handelnden Personen aus der
theologischen Sicht der Kirche, die im Glauben als Mysterium anerkannt wird.
Es ist immer genau zu fragen: Was hat sich wirklich ereignet? Was wurde
verifizierbar gesagt und getan? Erst wenn es auf diese Fragen eine
wissenschaftlich korrekte Antwort gibt, kann man auch untersuchen, ob das, was
sich wirklich zugetragen hat, mit dem Evangelium in Einklang steht. Im Fall,
dass Christen sich wirklich gegen die Forderungen des Evangeliums vergangen
haben, muss natürlich auch gefragt werden, ob sie sich in den Bedingungen, unter
denen sie lebten und dachten, des Widerspruchs zum Evangelium bewußt waren, ja
sich darüber im Klaren sein konnten. Nur wenn man unter diesen Voraussetzungen
zu dem moralisch gewissen Urteil kommt, dass sich Glieder der Kirche wissentlich
und mit freiem Willen gegen den Geist des Evangeliums verhalten haben und dieses
Fehlverhalten, obwohl sie es konnten, nicht unterlassen haben, hat es einen Sinn,
wenn die Kirche von heute für die Sünden der Vergangenheit Buße tut und um
Vergebung bittet.
Die Beziehung zwischen "historischem" und "theologischem Urteil" zu klären ist
ebenso kompliziert wie notwendig und entscheidend. Man muss diese beiden
Urteilsmaßstäbe in Beziehung zueinander setzen, ohne dieses Verfahren von der
einen oder anderen Seite durch Vorurteile von vornherein zum Scheitern zu
bringen. Was man auf jeden Fall vermeiden muss, ist die fruchtlose Diskussion
entgegengesetzter Einseitigkeiten: auf der einen Seite eine Art von Apologetik,
die alles und jedes, was in der Kirchengeschichte vorgefallen ist, um jeden
Preis zu rechtfertigen versucht, und auf der anderen Seite eine
Beschuldigungsattitüde, die jedes Ereignis, jedes Wort und jede Handlung, ob
gerechtfertigt oder nicht, benutzt, um die Kirche auf die Anklagebank zu
verweisen.
Die Zuweisung historischer Verantwortung hat nur einen Sinn, wenn die
betreffenden Vorgänge mit intellektueller Redlichkeit wissenschaftlich fundiert
dargestellt werden.
Papst Johannes Paul II. hat bezüglich der Inquisition aus einer historisch-theologischen
Perspektive folgende Wertung vorgenommen: "Das kirchliche Lehramt kann nicht mit
Gewissheit einen moralischen Akt - wie die Bitte um Vergebung - vornehmen, bevor
es sich nicht exakt über die Situation dieser Zeit hat ins Bild setzen lassen.
Es darf sich aber auch nicht auf die von der öffentlichen Meinung vermittelten
Ansichten über die Vergangenheit stützen, denn diese sind oft mit Leidenschaften
und Emotionen überladen, die einer ausgeglichenen und objektiven Beurteilung im
Wege stehen ... Deshalb besteht der erste Schritt in der Befragung der
Historiker, von denen man nicht eine ethische Bewertung erwartet, die außerhalb
ihres Zuständigkeitsbereiches läge, sondern vielmehr eine Hilfe zur möglichst
präzisen Rekonstruktion der Ereignisse, Gewohnheiten und Einstellungen von
damals im Zusammenhang des geschichtlichen Umfeldes der betreffenden Epoche."(64)
4.1 Die Schwierigkeit, Geschichte zu interpretieren
Welche Bedingungen einer korrekten Interpretation der Vergangenheit sind für ein
reflektiertes historisches Denken zu fordern? Um sie näher zu bestimmen, muss
man sich immer der komplexen Korrelation bewusst bleiben, die zwischen dem
interpretierenden Subjekt und dem zu interpretierenden geschichtlichen
Gegenstand besteht(65).
Unter diesen Kriterien ist an erster Stelle die Erfahrung der Fremdheit zwischen
dem Betrachter und seinem Gegenstand zu nennen. Bei der Beschäftigung mit der
Vergangenheit wird zunächst ein wechselseitiges Befremden ausgelöst. Ereignisse
und Aussagen sind zuallererst einmal vergangen und passé. Sie lassen sich
niemals auf aktuelle Gegebenheiten reduzieren, sondern haben eine objektive
Dichte und Komplexität, die ihre schlichte Funktionalisierung für gegenwärtige
Interessen ausschließt. Darum kann man sich ihnen nur mittels einer historisch-kritischen
Untersuchung annähern. Diese Methode verlangt eine sorgfältige Verwendung aller
erreichbaren Informationen zur Rekonstruktion des Umfeldes, der Denkweisen, der
Rahmenbedingungen und Entwicklungsabläufe, in denen sich die entsprechenden
Ereignisse und Aussagen bewegen. Nur so kann man die Inhalte genau benennen und
die Herausforderungen beschreiben, die die Ereignisse bei all ihrer Eigenart und
Verschiedenheit für die Gegenwart bedeuten.
An zweiter Stelle ist unter diesen Kriterien einer historischen Urteilsbildung
ein gewisses Einfühlungsvermögen zu nennen. Zwischen dem heutigen Interpreten
und der von ihm behandelten Epoche und ihren handelnden Personen muss es ein
gewisses Sympathieverhältnis geben. Diese kommunikative Verbindung gründet in
der einfachen Tatsache, dass jeder Mensch, ob er gestern gelebt hat oder heute
lebt, sich immer als menschliches Wesen in einer Vielfalt historischer
Verflechtungen vorfindet und so zur Sprach- und Denkgemeinschaft der Menschen
gehört. Wir alle gehören zur Menschheitsgeschichte! Diese Wechselwirkung
zwischen dem Interpreten und dem Interpretandum ist in der gemeinsamen Teilhabe
in dem begründet, was die geschichtliche Existenz des Menschen als einzelner und
als Glied der Menschheit ausmacht. Im einzelnen muss sich diese Vermittlung auf
schriftliche, archäologische oder auch persönliche Traditionszeugnisse stützen.
Wem dies bewusst ist, der wird auch die Schwierigkeiten kennen, eine wirkliche
Korrespondenz herzustellen zwischen dem Verständniskontext des Interpreten und
dem zu verstehenden geschichtlichen Gegenstand. Dies erfordert eine kritische
Selbstreflexion über die Frage, welche Motive und Interessen die Forschung
leiten und wie sie sich möglicherweise auf das Ergebnis auswirken. Zu bedenken
ist auch der Lebenskontext, in dem man tätig ist, und die
Interpretationsgemeinschaft, zu der man gehört, in deren Sprachwelt man lebt und
von der man verstanden werden möchte.
Dazu ist es unerlässlich, sich auf bestmögliche Weise des Vorverständnisses, das
in der Tat mit jeder Interpretation einhergeht, bewusst zu werden und es zu
reflektieren. Nur so lässt sich seine Auswirkung auf den Interpretationsvorgang
beobachten und in Grenzen halten.
Schließlich ist klar, dass sich zwischen dem Interpreten und seinem historischen
Gegenstand im Durchgang durch die Anstrengung des Erkennens und Auswertens eine
Art Osmose und "Horizontverschmelzung" vollziehen wird. Darin besteht ja
eigentlich der Akt der Erkenntnis. Darin drückt sich das Urteil aus, die
Ereignisse oder Aussagen der Vergangenheit richtig verstanden zu haben. Das
bedeutet soviel, wie den Sinn entdecken, den diese Ereignisse für den
Interpreten und seine Welt haben. Dank dieser Begegnung lebendiger Welten wird
es möglich, das Verständnis der Vergangenheit auf die Gegenwart zu beziehen, so
dass auch die Gegenwart im Lichte der Vergangenheit besser verstanden werden
kann. So kann man aus der Vergangenheit Lehren ziehen für die Gestaltung der
Gegenwart und Zukunft.
Diese fruchtbare innere Durchdringung der Geschichte erreicht man mit einigen in
sich verschränkten fundamentalen hermeneutischen Operationen, die den genannten
Momenten der Fremdheit, des historischen Einfühlungsvermögens und des wahren und
eigentlichen Verständnisses entsprechen.
In Beziehung zu einem historischen "Text" - der ganz allgemein verstanden sein
soll als schriftliches, mündliches, archäologisches oder figürliches Zeugnis
lassen sich drei exegetische Grundvollzüge konkret benennen:
"1. Das Verstehen des Textes; 2. das Beurteilen, wie zutreffend das eigene
Verstehen des Textes ist; und 3. das Ausdrücken dessen, was nach eigenem Urteil
das richtige Verständnis des Textes ist."(66)
Es geht darum, das Zeugnis der Geschichte in größtmöglicher Objektivität zu
sehen mittels aller Quellen, mit deren Hilfe man sie darstellen kann. Die
Korrektheit der eigenen Interpretation zu beurteilen bedeutet, mit Ernst und
Nachdruck zu verifizieren, in welchem Maß sie möglicherweise von einem
Vorverständnis geleitet oder bedingt ist oder gar von welchem Vor-Urteil dieses
Urteil abhängt. Die Darlegung der erreichten Interpretation bedeutet, die
anderen Beteiligten des komplexen Dialogs mit der Vergangenheit miteinzubeziehen,
sei es um die Relevanz dieser Interpretation zu verifizieren, sei es um sie mit
möglichen anderen Auslegungen zu konfrontieren.
4.2 Geschichtsforschung und theologische Auswertung
Wenn diese Auslegungsprinzipien in allen hermeneutischen Operationen beachtet
werden, ergibt sich auch eine Interpretation der historischen und der
theologischen Fragestellung. Dies verlangt, dass man an erster Stelle die
höchste Aufmerksamkeit den Elementen der Differenzierung und der Fremdartigkeit
zuwendet, die es in der Beziehung zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu
beachten gilt. Wenn also eine mögliche Schuld aus der Vergangenheit anerkannt
werden soll, kann dies nicht geschehen, ohne die Verschiedenheit des sozialen
und kulturellen Kontextes einer von der Gegenwart so weit entfernten Zeit in
Betracht zu ziehen. Wer die Paradigmen und Urteilsmaßstäbe einer Gesellschaft
aus einer anderen Epoche unreflektiert oder mit einem moralischen
Überlegenheitsgefühl auf eine gänzlich verschiedene Geschichtsphase appliziert,
macht sich einer Verfälschung schuldig. Man muss immer die unterschiedlichen
Denkweisen und historischen Bedingungen beachten. Dies heißt nicht, die
Verantwortung zurückweisen, die die Kirche als ein in der Geschichte
einheitliches Subjekt für die Verfehlungen aus der Vergangenheit übernimmt. Es
kann aber nicht außer Acht bleiben, dass eben dieses einheitliche Subjekt in den
unterschiedlichsten historischen und geographischen Situationen gehandelt hat.
Verschieden sind auch die Grade der Repräsentation der Kirche. Es stellt sich
die Frage: Hat einer im Namen der Kirche gehandelt oder hat einer in
persönlicher Verantwortung als Glied der Kirche, als Geistlicher oder Laie,
gehandelt und sich dabei gegen den Auftrag und die Sendung der Kirche verfehlt,
wie sie theologisch und unter den gegebenen Mentalitätsstrukturen und den
soziokulturellen Bedingungen der Zeit verstanden worden waren?
Verallgemeinerungen und Klischeevorstellungen führen hier nicht weiter.
Jede Form von gegenwärtiger Erklärung muss situationsbezogen sein und bedarf der
Autorisierung durch die zuständigen Repräsentanten der Kirche (als
Universalkirche, seitens der nationalen Episkopate und der Ortskirchen, der
Bistümer, etc.).
Ein zweiter Punkt ist zu beachten. Die Beachtung der Korrelation zwischen
historischem und theologischem Urteil ist nicht allein von aktuellen Interessen
gelenkt oder nur von dem Wissen um die allgemeine Zusammengehörigkeit aller
Menschen und der verschiedenen Formen der Realisierung der einen menschlichen
Existenz bestimmt. Die Erkenntnis der inneren Verknüpfung von historischer und
theologischer Sicht der Kirche hat einen tiefer reichenden Grund. Wer an die
Selbstoffenbarung Gottes glaubt, erkennt, dass die Kirche nicht einfach ein
Gebilde ist, das durch menschliche Aktionen bestimmt wird. Die Kirche ist als
einheitliches soziologisch fassbares historisches Subjekt als Gemeinschaft der
Glaubenden konstituiert durch das einheitsstiftende Wirken des Heiligen Geistes.
Kraft dieser Communio, die stets neu hervorgeht aus dem Wirken des Geistes
Christi, der die Einheit der Glaubensgemeinschaft in Raum und Zeit stiftet, wird
sich die Kirche nie ohne dieses übernatürliche Prinzip verstehen können, das ihr
Wesen und ihre Identität ausmacht. Das Wesen der Kirche kann mit bloß
soziologischen Mitteln nicht erfasst werden. Dieses vom Wirken des erhöhten
Herrn im Heiligen Geist geeinte geschichtliche Subjekt, die Kirche, ist berufen,
sich der Geschichte einzuprägen als Antwortgestalt auf die Gabe Gottes, und zwar
in unterschiedlicher Form und in verschiedenen geschichtlichen Situationen nach
Urteil und Entscheidung ihrer Glieder, ohne dass wir dabei die Mängel und
Fehlleistungen vergessen, die ihr Erscheinungsbild in der Geschichte mitprägen.
Die Gemeinschaft aller Glaubenden im Heiligen Geist ist nicht nur synchron zu
sehen. Es gibt auch eine die Geschichte mit der Gegenwart verbindende diachrone
Einheit. In der Zusammenschau beider Aspekte wird die Kirche auch "Gemeinschaft
der Heiligen" genannt. Die gegenwärtig lebenden Getauften, die wegen der in der
Taufe empfangenen Heiligung auch "Heilige" heißen, sind mit den Heiligen der
Vergangenheit, den im ewigen Leben vollendeten Heiligen, verbunden. Sie
empfangen von den Wohltaten ihrer Verdienste und stärken sich an den Zeugnissen
ihrer Heiligkeit. Im Bewusstsein dieser Verbundenheit werden die Gläubigen der
Gegenwart aber auch Verantwortung fühlen für die Fehler ihrer Vorfahren im
Glauben, die wie sie Glieder derselben Glaubensgemeinschaft waren und sind.
Diese Übernahme von Verantwortung setzt aber ein historisches und theologisches
Urteil mit einem methodisch geklärten wissenschaftlichen Instrumentarium voraus.
Unter Beachtung des objektiven und transzendenten Grundes der Communio des
Gottesvolkes inmitten allen geschichtlichen Wandels im Ausdruck seiner
geschichtlichen Präsenz erkennt die Interpretation der Kirchengeschichte vom
Standpunkt einer gläubigen Sicht der Vergangenheit der Kirche eine entscheidende
Bedeutung für die Kirche von heute. Aus dieser inneren Begegnung der Kirche von
gestern mit der Kirche im Heute kann sich eine performative Dynamik ergeben, die
gar nicht von vornherein berechenbar ist.
Gewiss ist immer die Gefahr einer apologetischen oder instrumentalistischen
Umgangsweise mit der Geschichte im Auge zu behalten. Dies kann sich leicht
nahelegen angesichts der vereinheitlichenden hermeneutischen Perspektive wie
auch des theologischen Interpretationsstandpunktes, von dem aus die Einheit der
Kirche als geschichtliches Subjekt vorausgesetzt wird. Um so mehr ist Wert zu
legen auf eine exakte Anwendung der hermeneutischen Prinzipien, mit deren Hilfe
die Vorgänge und Aussagen aus der Geschichte für die Gegenwart erschlossen
werden. Die gläubige Lektüre der Geschichte bedient sich zu diesem Zweck aller
erreichbaren Beiträge aus der Geschichtswissenschaft und ihrer
Interpretationsmethoden. Die Anwendung der historischen Hermeneutik darf jedoch
keineswegs die Auswertung im Glauben behindern, der daran gelegen ist, die Texte
auf ihren spezifischen Ausdruck des Glaubens zu befragen, die Interaktion
zwischen Vergangenheit und Gegenwart in den Blick zu nehmen, insofern sich darin
die fundamentale Einheit der Kirche als eines identischen Subjekts im Wandel
ihrer historischen Ausdrucksformen widerspiegelt.
Damit ist auch die Gefahr eines Historismus gebannt, der alle Lasten
historischer Schuld relativiert und meint, die Geschichte rechtfertige alles.
Demgegenüber hat Johannes Paul II. zu Recht betont: "Die Berücksichtigung der
mildernden Umstände entbindet die Kirche nicht von der Pflicht, zutiefst die
Schwachheit so vieler ihrer Söhne und Töchter zu bedauern, die das Antlitz der
Kirche dadurch entstellten, dass sie sie hinderten, das Abbild ihres
gekreuzigten Herrn als eines unübertrefflichen Zeugen geduldiger Liebe und
demütiger Sanftheit widerzuspiegeln."(67)
Die Kirche also "fürchtet nicht die historische Wahrheit. Sie ist bereit, die
wirklich erwiesenen Fehler anzuerkennen, vor allem wenn sie den schuldigen
Respekt vor Personen und Gemeinschaften betreffen. Mit Rücksicht auf die
unterschiedlichen geschichtlichen Epochen warnt sie aber auch vor allen
Verallgemeinerungen, was Entschuldigung oder Verdammung betrifft. Die Kirche
setzt auf eine mit Geduld und Redlichkeit wissenschaftlich erarbeitete
Rekonstruktion der Vergangenheit, die frei ist von konfessionalistischen und
ideologischen Vorurteilen. Dies betrifft die auf sie gerichteten Anschuldigungen
wie auch das von ihr erlittene Unrecht."(68)
Im folgenden Kapitel sollen diese Prinzipien exemplarisch auf einige konkrete
historische Fälle kirchlichen Fehlverhaltens angewendet werden.
Fünftes Kapitel
MORALISCHE BEWERTUNG
Da die Kirche vor Gott eine Erforschung ihres historischen Gewissens unternimmt,
um dadurch ihre innere Erneuerung sowie ihr Wachstum in Gnade und Heiligkeit zu
fördern, erweist sich eine genaue Kenntnis aller "Formen des Gegenzeugnisses und
der Skandale" aus der Geschichte als unerlässlich. Dies gilt vor allem für das
vergangene Millennium. Diese Aufgabe kann nur erfüllt werden, wenn die
moralische und spirituelle Bedeutung in den Blick kommt. Dazu sind einige
Schlüsselbegriffe aus dem Bereich der Ethik genauer zu beschreiben.
5.1 Ethische Kriterien und das Problem ihrer Anwendung
Auf moralischer Ebene setzt die Bitte um Vergebung immer die Zubilligung der
Verantwortlichkeit voraus, genau gesagt der Verantwortlichkeit für eine an
anderen begangenen Schuld. Die moralische Verantwortung erstreckt sich
normalerweise auf den Konnex von Tat und Täter. So ergibt sich, dass eine
bestimmte Tat immer einer bestimmten Person bzw. mehreren Personen eignet. Die
Verantwortlichkeit kann objektiv oder subjektiv sein. Die objektive
Verantwortlichkeit bezieht sich auf den moralischen Wert einer Handlung,
insofern sie in sich gut oder schlecht ist, und dann auch auf die Zurechnung der
Handlung an ihren Träger. Die Verantwortlichkeit in subjektiver Hinsicht meint
das Vermögen des individuellen Gewissens, die Gutheit oder Verwerflichkeit der
begangenen Handlung festzustellen. Die subjektive Verantwortlichkeit erlischt
mit dem Tod ihres Akteurs. So ist klar, dass sie nicht über die Generationen
weitergereicht werden kann. Die Nachgeborenen können niemals die subjektive
Verantwortlichkeit ihrer Vorfahren erben. Somit setzt die Vergebung immer die
Zeitgenossenschaft zwischen Opfer und Täter voraus. Die einzige Form der
Verantwortlichkeit, für die es eine geschichtliche Kontinuität gibt, ist die
objektive Verantwortung, der man sich freiwillig persönlich stellen oder
entziehen kann. Denn es ist eine Tatsache, dass die böse Tat wenigstens in ihren
destruktiven Auswirkungen weiterwirkt, die durchaus zu einer schweren Belastung
für das Gewissen und das geschichtliche Gedächtnis der Nachfahren werden können.
In einem solchen Kontext darf die Solidarität angesprochen werden, die das
Bewusstsein einer Einheit und Reziprozität von Vergangenheit und Gegenwart
formiert. In gewissen Situationen kann diese Gewissensbelastung eine spezifische
Weise des moralischen und religiösen Gedenkens der bösen Tat auslösen, das man
seiner Natur nach gemeinsames Gedächtnis nennen kann. Es belegt in
eindrücklicher Weise die Existenz einer objektiven Solidarität zwischen denen,
die in der Vergangenheit Böses taten, und ihren Erben in der Gegenwart. Somit
ist es möglich, von einer gemeinsamen objektiven Verantwortlichkeit zu sprechen.
Von einer solchen Art von Verantwortung entlastet man sich vor allem durch die
Bitte an Gott, er möge die Sünden der Vergangenheit vergeben. Dazu gehört die "Reinigung
des Gedächtnisses", die im wechselseitigen Vergeben der Sünden und Beleidigungen
in der Gegenwart kulminiert.
"Das Gedächtnis reinigen" ist der Versuch, aus dem persönlichen und
gemeinschaftlichen Bewusstsein alle Formen von Ressentiment und Gewalt zu
überwinden, die uns die Vergangenheit als Erbe hinterlassen hat. Auf der Basis
einer neuen und vertieften historischen und theologischen Bewertung der
Geschichte öffnet sich der Weg zur Erneuerung des moralischen Handelns. Dies
ereignet sich jedesmal, wenn man zu einer neuen Qualifizierung historischer
Ereignisse gelangt, die eine ganz neue und verschiedene Wirkung auf die
Gegenwart mit sich bringt, vor allem im Hinblick auf eine entstehende Versöhnung
in der Wahrheit, der Gerechtigkeit und Liebe unter allen Menschen und besonders
zwischen der Kirche und den verschiedenen religiösen, kulturellen und zivilen
Gemeinschaften, mit denen sie in Beziehung steht. Modell eines solchen Wandels
der historischen Beurteilung vergangener Ereignisse aus einem neuen Blickwinkel
kann etwa die Rezeption der Konzilien sein oder die Aufhebung der
wechselseitigen Anathematisierung. Diese Akte sind Sinnbild für das künftige
Leben der ganzen Kirche, da sie eine neue Qualifikation der Geschichte wagen, um
eine andere Ausgestaltung der in der Gegenwart gelebten Beziehungen zueinander
zu ermöglichen. Die Erinnerung an die Spaltung und die Konfrontation wird
geheilt und transponiert in die Form einer versöhnten Erinnerung. Alle Glieder
der Kirche sind eingeladen, sich der versöhnten Erinnerung zu öffnen und sich
davon formen zu lassen.
Die Kombination des historischen und theologischen Urteils bei der
Neuinterpretation der Geschichte verbindet sich hier mit allen moralischen
Rückwirkungen, die sie in der Gegenwart auslöst. Nicht zu vergessen sind einige
moralische Prinzipien, die der Hermeneutik einer Interferenz von historischer
und theologischer Beurteilung entsprechen.
Es handelt sich um folgende Prinzipien:
a. Das Prinzip des Gewissens. Das Gewissen als "moralisches Urteil" und "moralischer
Imperativ" begründet im Angesicht Gottes die letztgültige Bewertung einer
Handlung als gut oder schlecht. In der Tat kennt allein Gott den moralischen
Wert einer jeden menschlichen Tat, wenn auch die Kirche nach der Lehre Jesu
bestimmte Handlungsweisen in Typen klassifizieren und bewerten kann und mitunter
bestimmte Handlungsweisen verurteilen und ablehnen muss (vgl. Mt 18,15-18).
b. Das Prinzip der Geschichtlichkeit. Wenn es zweifellos zutrifft, dass jeder
menschliche Akt seinem Täter eignet, so handelt doch jedes individuelle Gewissen
und jede Gemeinschaft innerhalb des ihnen eigenen Horizontes von Raum und Zeit.
Um also die sittlichen Akte des Menschen und die mit ihnen einhergehenden
Wirkungen richtig zu verstehen, müssen wir in die Lebens- und Kulturwelt derer
eintreten, die diese Handlungen begangen haben. Allein auf diese Weise können
wir uns ihren Motivationen und ihren leitenden moralischen Grundüberzeugungen
nähern. Dies muss man sagen ohne Vorurteil über die Solidarität, die die
Mitglieder einer bestimmten Gemeinschaft im Durchgang der Zeiten miteinander
verbindet.
c. Das Prinzip des "Paradigmenwechsels". Im Raum der abendländischen
Christenheit gab es bis zum Zeitalter der "Aufklärung" eine Art Einheit von
Kirche und Staat, von Glaube und Kultur, von Moral und Gesetz, die sich aber
bekanntlich seit Anfang des 18. Jahrhunderts aufgelöst oder modifiziert hatte.
Das Resultat war die Ablösung einer sakralen Ordnung durch eine pluralistische
oder säkulare Gesellschaft. Die Grundmodelle des Denkens und Handelns, die
sogenannten "Handlungs- und Bewertungsparadigmen" änderten sich nachhaltig. Ein
solcher soziokultureller Wandlungsprozess bleibt nicht ohne Auswirkung auf die
moralischen Urteilskriterien. Diese Einsicht rechtfertigt freilich in keiner
Weise die Idee eines Relativismus moralischer Prinzipien oder der Moralität als
solcher.
Der gesamte Prozess einer "Reinigung des Gedächtnisses" erschöpft sich nicht in
der richtigen Verbindung von historischem und theologischem Urteil und in der
korrekten Anwendung der hermeneutischen Prinzipien. Es geht auch nicht darum,
Abscheu vor der Vergangenheit oder eine depressive Haltung zu erzeugen, die
Selbstgeißelung zur kirchlichen Tugend machen wollte.
Vielmehr geht es um das dankbare Bekenntnis zu Gott, der seine Barmherzigkeit "von
Generation zu Generation" (Lk 1,50) erweist. Denn Gott will das Leben und nicht
den Tod des Sünders, er will die Liebe und nicht Furcht und Angst.
Nicht zu unterschätzen sind auch die exemplarischen Wirkungen, die von einer
großherzigen Bereitschaft zur Mitverantwortung für die Sünden der Vergangenheit
auf die Mentalität in Kirche und Gesellschaft ausgehen. Viele werden auf die
Verpflichtung aufmerksam werden, die von der Wahrheit ausgeht, und sie werden
sich vom Respekt, von der Würde und den Rechten "des Anderen", besonders des
Schwachen, tiefer bestimmen lassen. Mit den zahlreichen Bitten um Vergebung hat
Johannes Paul II. ein gutes Beispiel gegeben, das zur Nachahmung einlädt. Die
Vergebungsbitten fördern in jedem Fall das Zusammenleben der verschiedenen
Gemeinschaften. Eine vorurteilsfreie und großherzige Gewissenserforschung ist
nur zu begrüßen, weil sie die einzelnen und die Völker auf Wege zur Versöhnung
leitet.
Im Licht dieser Klärungen der ethischen Urteilskriterien sollen nun einige
Vorkommnisse aus der Geschichte dargestellt werden, bei denen das Verhalten von
Gliedern der Kirche im ausdrücklichen Widerspruch zum Evangelium Jesu Christi zu
stehen scheint. Mehrere dieser Beispiele hat Johannes Paul II. in Tertio
Millennio Adveniente bereits angesprochen(69).
5.2 Am Beispiel: Spaltung der Christenheit
Die Einheit ist das Lebensgesetz des dreifaltigen Gottes, das er der Welt durch
den Sohn geoffenbart hat (vgl. Joh 17,21), der in der Kraft des Heiligen Geistes
die Seinen liebte bis zur Vollendung (Joh 13,1) und sie dieses Lebens teilhaftig
machte. Diese Einheit ist auch Quelle und Formgesetz der Lebensgemeinschaft der
Menschheit mit dem dreifaltigen Gott.
Wenn die Christen das Gesetz der wechselseitigen Liebe verwirklichen, sind sie
eins, "wie der Vater und der Sohn eins sind", "damit die Welt glaubt, dass der
Sohn vom Vater gesandt ist" (Joh 17,21) und "damit die Welt erkennt, dass sie
seine Jünger sind" (Joh 13,35). Leider hat sich dies nicht so ereignet, vor
allem in dem nun zu Ende gehenden Jahrtausend, in dem große Spaltungen unter den
Christen entstanden sind. Diese stehen in offensichtlichem Widerspruch zum
ausdrücklichen Willen Christi, so als ob er selbst gleichsam geteilt wäre (vgl.
l Kor 1,13). Das II. Vatikanische Konzil beurteilt diesen Tatbestand so: "Eine
solche Spaltung widerspricht aber ganz offenbar dem Willen Christi, sie ist ein
Ärgernis für die Welt und ein Schaden für die heilige Sache der Verkündigung des
Evangeliums vor allen Geschöpfen."(70)
Die hauptsächlichen Spaltungen, die im vergangenen Jahrtausend "den nahtlosen
Leibrock Christi getroffen"(71) haben sind das Schisma zwischen den Kirchen des
Orients und des Okzidents am Anfang des 2. Jahrtausends und dann im Abendland
400 Jahre später der Riss "aufgrund von Ereignissen, die man die Reformation
nennt"'(72). Zu beachten ist aber auch: "Indessen sind diese einzelnen
Trennungen untereinander sehr verschieden, nicht allein bedingt durch ihre
Entstehung und durch die Umstände von Raum und Zeit, sondern vor allem nach Art
und Bedeutsamkeit der Probleme, die sich auf den Glauben und die kirchliche
Struktur beziehen."(73)
Im Schisma des 11. Jahrhunderts haben kulturelle und historische Faktoren eine
sehr große Rolle gespielt. Die Lehre von der Autorität des Bischofs von Rom
hatte zu dieser Zeit noch nicht die spätere lehrmäßige Abklärung und
Ausformulierung gefunden. In der Zeit der protestantischen Reformation wurden
dann allerdings Fragen des Verständnisses der Offenbarung und ihre Formulierung
in der kirchlichen Lehre zum Gegenstand der Kontroverse.
Der Weg, der sich auftut, um diese Differenzen zu überwinden, ist der Dialog
über Lehrfragen in wechselseitiger Liebe und Achtung. Beiden Spaltungen scheint
ein Mangel an übernatürlicher Liebe (der agape) anzuhaften. Dieser Mangel an
Liebe, "ohne die alles andere nur dröhnendes Erz und lärmende Pauke ist" (1 Kor
13,1), muss in allem Ernst vor dem auferstandenen Herrn der Kirche, der auch der
Herr der Geschichte ist, gesehen und bekannt werden. In Anerkenntnis dieses
schweren Mangels an Liebe hat Paul VI. Gott und die "getrennten Brüder", die
sich "von uns" (der katholischen Kirche) beleidigt sehen, um Verzeihung gebeten(74).
Im Jahre 1965, in einem Klima, das mit dem II. Vatikanischen Konzil gewachsen
war, hat Patriarch Athenagoras in seinem Dialog mit Papst Paul VI. das Thema
einer Wiederherstellung (apokatástasis) der wechselseitigen Liebe in den
Mittelpunkt gestellt. Es ist eine Geschichte, die belastet ist von Widersprüchen,
wechselseitigem Misstrauen und Gegensätzen(75).
Was sich in der Geschichte abspielte, wirkt durch das Gedächtnis bis in die
Gegenwart fort: die Ereignisse des Jahres 1965, die am 7. Dezember 1965 mit der
Aufhebung der Anathemata zwischen West und Ost aus dem Jahre 1054 ihren
Höhepunkt fanden, stellen ein Schuldbekenntnis für den vorangehenden
wechselseitigen Ausschluss dar, aber in einer Weise, dass das Gedächtnis
gereinigt wird und ein neues Gedächtnis entstehen kann. Das Fundament dieses
neuen Gedächtnisses kann nichts anderes sein als die gegenseitige Liebe, oder
besser gesagt, die Verpflichtung, sie zu leben. Dies ist das vordringliche Gebot,
das über allem steht (1 Petr 4,8) und das die Kirche im Osten und im Westen
verpflichtet. So befreit sich das Gedächtnis von der Gefangenschaft der
Vergangenheit. Die Katholiken und Orthodoxen, wie auch die Katholiken und
Protestanten sind in diesem Geist eingeladen, Architekten einer neuen Zukunft zu
werden, die mit dem neuen Gebot, der Liebe, mehr konform geht. Das Zeugnis Papst
Pauls VI. und des Patriarchen Athenagoras für dieses neue Gedächtnis ist
exemplarisch.
Beim Weg zur Einheit der Christen darf man auf keinen Fall der Versuchung
erliegen, sich von kulturellen Faktoren, historischen Konstellationen oder
Vorurteilen führen oder gar beherrschen zu lassen, die immer wieder der Trennung
und dem wechselseitigen Misstrauen Nahrung geben, obwohl sie gar nichts mit dem
eigentlichen Inhalt unseres christlichen Glaubens zu tun haben.
Die Glieder der Kirche müssen ihr Gewissen sorgfältig erforschen, ob sie sich
vom Gebot zur "inneren Bekehrung" bestimmen lassen, "denn aus dem Neuwerden des
Geistes, aus der Selbstverleugnung und aus dem freien Strömen der Liebe erwächst
und reift das Verlangen nach Einheit"(76). Der Widerstand gegen diese Botschaft
seit dem Abschluss des Konzils bis zum heutigen Tag hat sicher "den Heiligen
Geist beleidigt" (Eph 4,30). Die Weise, wie sich einige Katholiken im Verharren
in den Spaltungen aus der Vergangenheit gefallen und nicht die geringsten
Anstalten machen, die Hindernisse der Einheit aus dem Weg zu räumen,
rechtfertigt fast den Vorwurf der "Solidarität in der Sünde der Spaltung" (vgl.
1 Kor 1,10-16). Angesichts dieser Haltungen sind die Worte des Konzils im
Ökumenismus-Dekret aktueller denn je: "In Demut bitten wir also Gott und die
getrennten Brüder um Verzeihung, wie auch wir unseren Schuldigem vergeben."(77)
5.3 Am Beispiel: Anwendung von Gewalt im Dienst an der Wahrheit
Zu diesem Gegenzeugnis der Spaltungen unter den Christen sind verschiedene
Vorkommnisse im vergangenen Jahrtausend hinzuzufügen, bei denen zweifelhafte
Mittel angewandt worden sind, um gerechte Ziele zu erreichen. Mit diesen rechten
Zielen sind gemeint die Verkündigung des Evangeliums und die Verteidigung der
Einheit des Glaubens. In Tertio Millennio Adveniente umschreibt der Papst das
Problem: "Ein anderes schmerzliches Kapitel, auf das die Kinder der Kirche mit
reuebereitem Herzen zurückkommen müssen, stellt die besonders in manchen
Jahrhunderten an den Tag gelegte Nachgiebigkeit angesichts von Methoden der
Intoleranz oder sogar der Gewalt im Dienst an der Wahrheit dar."(78)
Es geht also um Formen der Evangelisierung, die ungeeignet sind zur Verkündigung
der geoffenbarten Wahrheit. Dazu sind auch Methoden zu rechnen, die das
Evangelium ohne Gespür für die kulturellen Werte der Völker propagiert und dabei
die innere Hinordnung dieser Werte auf das Evangelium übersehen haben. Zu
bedauern ist auch mangelnder Respekt vor dem Gewissen der Personen, denen man
den Glauben vorgelegt hat. Verwerflich war jede Form der Gewaltausübung im Kampf
gegen Irrtümer.
Eine ebenso große Aufmerksamkeit erfordern die möglichen Unterlassungen der
Anklage von Ungerechtigkeit und Gewalt, derer sich die Glieder der Kirche in
verschiedenen historischen Situationen schuldig gemacht haben können. "Da ist
der Mangel an Wahrnehmungsfähigkeit vieler Christen angesichts fundamentaler
Verletzungen der Menschenrechte. Die Bitte um Vergebung gilt auch für das
Schweigen aus Feigheit oder falscher Lagebeurteilung und für das, was
unentschlossen und in wenig geeigneter Weise getan und gesagt wurde."(79)
Wie in allen Fällen geht es auch hier darum, die historische Wahrheit durch eine
historisch-kritische Untersuchung herauszufinden.
Wenn die Fakten gesichert sind, ist die geistliche und moralische Auswertung
möglich. Dann kann man ihre objektive Bedeutung erhellen. Nur mit Hilfe
historischer Forschung kann Mythenbildung verhindert werden. Nur ein von
historisch-kritischem Bewusstsein geprägtes geschichtliches Gedächtnis ist fähig,
im Lichte des Glaubens die Früchte der Umkehr und der Erneuerung zu tragen: "Aus
jenen schmerzlichen Zügen der Vergangenheit ergibt sich eine Lektion für die
Zukunft, die jeden Christen veranlassen muss, sich ganz fest an das vom Konzil
geltend gemachte goldene Prinzip zu halten: <Die Wahrheit erhebt nicht anders
Anspruch als kraft der Wahrheit selbst, die sanft und zugleich stark den Geist
durchdringt>."(80)
5.4 Am Beispiel: Verhältnis von Christen und Juden
Eines der Felder, wo eine besondere Gewissenserforschung unausweichlich ist, ist
das Verhältnis zwischen Christen und Juden(81). "Das Verhältnis der Kirche zum
jüdischen Volk ist verschieden vom Verhältnis zu allen anderen Religionen."(82)
Dennoch muss gesagt werden: "Die Geschichte der Beziehungen zwischen Juden und
Christen ist eine schmerzliche Geschichte ... In der Tat, die Bilanz dieser
Beziehungen in zwei Jahrtausenden ist leider negativ."(83)
Die Feindseligkeit oder das Misstrauen vieler Christen gegenüber den Juden im
Laufe der Zeit ist eine bedrückende historische Tatsache. Es ist Grund zu tiefem
Bedauern für alle Christen, die sich klarmachen, dass Christus ein Nachkomme
Davids war, dass Maria und die Apostel als Kinder des jüdischen Volkes geboren
wurden, dass die Kirche genährt wird von den Wurzeln des guten Ölbaums, in den
die Zweige des wilden Ölbaums der Heidenvölker eingepfropft sind (Röm 11,17-24),
dass die Juden unsere geliebten Brüder und Schwestern sind und dass sie in einem
gewissen aber wahren Sinn "unsere älteren Brüder"(84) sind.
Die Schoah, der Judenmord, war freilich das Ergebnis der ganz und gar
heidnischen Ideologie des Nationalsozialismus, der, getrieben von einem
erbarmungslosen Antisemitismus, nicht nur den Glauben der Juden verachtete,
sondern die Menschenwürde des jüdischen Volkes negierte. Dennoch "kann man sich
fragen, ob die Verfolgung der Juden durch die Nationalsozialisten nicht doch
auch von antijüdischen Vorurteilen begünstigt wurde, die in den Köpfen und
Herzen einiger Christen lebendig waren. Haben die Christen den Verfolgten und
darunter besonders den Juden jede mögliche Hilfe gewährt?"(85)
Zweifellos gab es viele Christen, die ihr Leben riskierten, um das Leben ihnen
bekannter Juden zu retten und ihnen beizustehen. Auf der anderen Seite aber
scheint es auch wahr zu sein, dass "neben all diesen mutigen Männern und Frauen
der geistliche Widerstand und die konkrete Aktion anderer Christen nicht
diejenige war, die man von einem Jünger Christi erwarten durfte"(86). Diese
Tatsache bedeutet für alle Christen von heute einen Appell an das Gewissen zu
einem "Akt der Reue (teschva)"(87). Er soll ein Ansporn sein, die Anstrengungen
zu verdoppeln, "sich zu wandeln und im Denken zu erneuern" (Röm 12,2) sowie ein
"moralisches und religiöses Gedächtnis" angesichts der dem jüdischen Volk
geschlagenen Wunden aufrechtzuerhalten. Was in diesem Bereich schon alles getan
wurde, kann bekräftigt und vertieft werden.
5.5 Wer trägt die Verantwortung für die Mißstände in der Gegenwart?
"Die gegenwärtige Epoche weist neben viel Licht auch nicht wenige Schattenseiten
auf."(88) Unter diesen Schattenseiten der Gegenwart muss an erster Stelle das
Phänomen der Negation Gottes in den verschiedensten Varianten genannt werden. Es
ist bedrückend, dass diese Leugnung von Gottes Sein und Wirken, besonders in
ihrer theoretischen Begründung, vom Abendland ausging. Mit dieser "Gottesdämmerung"
gehen eine Reihe von negativen Phänomenen einher: religiöse Indifferenz,
verbreiteter Mangel an Verständnis für die transzendente Dimension des
menschlichen Lebens, ein Klima des Säkularismus und ethischen Relativismus,
Leugnung des Lebensrechtes der ungeborenen Kinder bis hin zur Legalisierung der
Abtreibung und eine Unempfindlichkeit für den Schrei der Armen in allen
Bereichen des Lebens der Menschheitsfamilie.
Die beunruhigende Frage stellt sich, inwieweit die Christen selbst
mitverantwortlich sind für den Atheismus in seiner theoretischen und praktischen
Ausprägung. Das II. Vatikanum hat in der Pastoralkonstitution "Gaudium et spes"
eine wohldurchdachte Antwort gegeben: "Gewiss sind die, die im Ungehorsam gegen
den Spruch ihres Gewissens absichtlich Gott von ihrem Herzen fernzuhalten und
religiöse Fragen zu vermeiden suchen, nicht ohne Schuld; aber auch die Gläubigen
selbst tragen daran eine gewisse Verantwortung. Denn der Atheismus, allseitig
betrachtet, ist nicht eine ursprüngliche und eigenständige Erscheinung; er
entsteht vielmehr aus verschiedenen Ursachen, zu denen auch die kritische
Reaktion gegen die Religionen, und zwar in einigen Ländern vor allem gegen die
christliche Religion, zählt. Deshalb können an dieser Entstehung des Atheismus
die Gläubigen einen erheblichen Anteil haben."(89)
Seit das wirkliche Antlitz Gottes uns Menschen in Jesus Christus geoffenbart ist,
ist den Christen die unermessliche Gnade geschenkt, dieses Angesicht Gottes zu
erkennen. Darum fällt ihnen aber auch die Verantwortung zu, so zu leben, dass
sie anderen das wahre Antlitz des lebendigen Gottes kund machen. Sie sind
berufen, die Wahrheit in der Welt aufleuchten zu lassen, dass Gott Liebe (agape)
ist (1 Joh 4,8.16). Weil Gott Liebe ist, ist er auch die Trinität der Personen,
deren Leben sich in einem unendlichen Austausch von Liebe vollzieht. Daraus
folgt, dass der bessere Weg die wechselseitige Liebe ist, weil die Christen das
Licht der Wahrheit, dass Gott Liebe ist, verbreiten: "Daran sollen alle erkennen,
dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt" (Joh 13,35). Von diesem
hohen Anspruch her ist aber auch verständlich, warum das Konzil sagen konnte,
dass Christen "durch Vernachlässigung der Glaubenserziehung, durch
missverständliche Darstellung der Lehre oder auch durch Mängel ihres religiösen,
sittlichen und gesellschaftlichen Lebens das wahre Antlitz Gottes und der
Religion eher verhüllen als offenbaren"(90).
Wir wollen betonen, dass die Erwähnung dieser Fehler und Mängel der Christen in
der Vergangenheit nicht nur als Sündenbekenntnis vor Christus aufgefasst werden
soll, sondern auch als Lob und Verherrlichung des Herrn der Geschichte für seine
barmherzige Liebe. Die Christen wissen nicht nur um die Existenz der Sünde, mehr
noch: sie glauben an die "Vergebung der Sünden".
Aber die Sünden der Vergangenheit ins Gedächtnis zurückzurufen, bringt unsere
Solidarität mit denen zum Ausdruck, die uns im Guten wie im Versagen auf dem Weg
der Wahrheit vorausgegangen sind. Der Gegenwart erwächst daraus ein starker
Antrieb, sich zu den Forderungen des Evangeliums zu bekehren und damit ein
Vorspiel der an Gott gerichteten Bitte um Vergebung einzuläuten, die uns den Weg
ebnet, uns wechselseitig zu vergeben und uns miteinander auszusöhnen.
Sechstes Kapitel
PASTORALE UND MISSIONARISCHE PERSPEKTIVEN
Im Licht der bisherigen Überlegungen stellen sich nun die folgenden Fragen:
Was sind die pastoralen Ziele der Anerkennung einer Verantwortung der Kirche für
die Sünden ihrer Glieder in der Vergangenheit, und warum tut sie hierfür Buße?
Welche Implikationen sind damit für das Leben des Volkes Gottes verbunden? Was
sind die Auswirkungen auf die Mission der Kirche und ihren Dialog mit den
verschiedenen Kulturen und Religionen?
6.1 Pastorale Zielsetzung
Unter den unterschiedlichen Aspekten, die das Schuldbekenntnis hat, können unter
anderen folgende genannt werden: - Das erste Ziel ist die "Reinigung des
Gedächtnisses". Der Prozess einer neuen Erschließung der Vergangenheit ist
notwendig, da die Ereignisse der Vergangenheit immer in der Gegenwart nachwirken
und als Versuchungen von heute fortbestehen. Wenn in einem geduldigen Dialog
ermittelt wurde, wer sich von wem in der Vergangenheit durch Taten oder Worte
verletzt sieht, ist es möglich, alle diese Belastungen aufzuarbeiten und in
ihrer aktuellen destruktiven Dimension zu tilgen. So kann der negative Einfluss
schlimmer geschichtlicher Ereignisse auf das gegenwärtige Zusammenleben der
Menschen beseitigt oder wenigstens eingedämmt werden. Die kirchliche
Gemeinschaft hat darüber hinaus die Chance zu einem Fortschritt in der
Heiligkeit, in die sie durch die Versöhnung und den Frieden im Gehorsam
gegenüber der Wahrheit tiefer hineinwächst. In Tertio Millennio Adveniente
unterstreicht der Papst diese Aussicht: "Das Eingestehen des Versagens von
gestern ist ein Akt der Aufrichtigkeit und des Mutes, der uns dadurch unseren
Glauben zu stärken hilft, dass er uns aufmerksam und bereit macht, uns mit den
Versuchungen und Schwierigkeiten von heute auseinanderzusetzen. "(91) Das
Erinnern der Schuld, der Fehler und des Versagens in der Geschichte ist darum zu
begrüßen, auch wenn heute sicher nicht mehr alles in lebendiger Erinnerung
präsent ist. Um das Zerrbild der Kirchengeschichte als einer einzigen chronique
scandaleuse zu vermeiden, darf man aber nie den Einsatz so vieler Christen bis
hin zur Hingabe des Lebens für ihre Treue zum Evangelium und im Dienst der
Nächstenliebe aus den Augen verlieren(92).
- Zweites pastorales Ziel ist die mit der ersten Zielbestimmung eng verbundene
Aufgabe einer ständigen Erneuerung des Volkes Gottes. Mit den Worten des II.
Vatikanischen Konzils kann dies so formuliert werden: "Die Kirche wird auf dem
Wege ihrer Pilgerschaft von Christus zu dieser dauernden Reform (ad hanc
perennem reformationem) gerufen, deren sie allzeit bedarf, soweit sie
menschliche und irdische Einrichtung ist; was also etwa je nach Umständen und
Zeitverhältnissen im sittlichen Leben, in der Kirchenzucht oder auch in der Art
der Lehrverkündigung die von dem Glaubensschatz selbst genau unterschieden
werden muss - nicht genau genug bewahrt worden ist, muss deshalb zu gegebener
Zeit sachgerecht und pflichtgemäß erneuert werden."(93) Alle Getauften sind
aufgefordert, "hierbei ihre Treue gegenüber dem Willen Christi hinsichtlich der
Kirche zu prüfen und tatkräftig ans Werk der notwendigen Erneuerung und Reform
zu gehen (opus renovationis nec non reformationis)"(94). Das Kriterium einer
wahren Reform und einer ehrlichen Erneuerung kann dabei kein anderes sein als
die Treue zu Gottes Willen im Bezug auf Sein Volk(95). Dies setzt eine
ernsthafte Anstrengung voraus, um sich von all dem zu befreien, was von diesem
Willen wegführt, sei es dass es sich dabei um ein Erbe der Vergangenheit oder um
Sünden der Gegenwart handelt.
- Drittes pastorales Ziel ist das Zeugnis, das die Kirche ablegt für die
Barmherzigkeit Gottes und Seine befreiende und heilende Wahrheit, die sie im
Lauf ihrer Geschichte immer neu erfahren durfte. Ein weiterer Aspekt des
Zeugnisses ist der Dienst, mit dem die Kirche dazu beiträgt, die Übel der
Gegenwart zu überwinden. Mit ihrem Gehorsam gegenüber dem Heilswillen Gottes
dienen Christen den Menschen, damit alle den Glanz und die Schönheit von Gottes
Wahrheit erkennen.
Der Heilige Vater hat von der von vielen Bischöfen gewünschten Gewissensprüfung
gesprochen, die auf die Sendung der Kirche in der Gegenwart gerichtet sein soll:
"An der Schwelle des neuen Jahrtausends müssen die Christen demütig vor den
Herrn treten, um sich nach den Verantwortlichkeiten zu fragen, die auch sie
angesichts der Übel unserer Zeit haben."(96) Was können sie zu ihrer Überwindung
beitragen?
6.2 Ekklesiale Implikationen
Welche Folgerungen ergeben sich aus dem Schuldbekenntnis für das Leben der
Kirche selbst?
- Erstens muss sich ein Gespür entwickeln für die unterschiedliche Rezeption der
einzelnen offiziellen kirchlichen Akte der Buße. Denn sie weisen eine große
Bandbreite auf, unterscheiden sich in den religiösen, kulturellen sowie sozialen
Kontexten und betreffen die einzelnen Personen in spezieller Weise. Es ist zu
bedenken, dass bestimmte Ereignisse und Aussagen, die einem regionalen
Geschichtskontext angehören, nicht einfach auf die universale Kirche bezogen
werden dürfen und umgekehrt. In theologischer und pastoraler Hinsicht haben
diese Akte erhebliche Konsequenzen für die Verbreitung des Evangeliums. Dabei
kann man an die unter sich so verschiedenen Modelle und Konzeptionen einer
Theologie der Mission denken. Einkalkulieren muss man auch das Verhältnis von
geistlichem Gewinn und dem möglichen Preis, den man dafür zu zahlen hat. Von
großer Bedeutung ist auch die Aufnahme und Darstellung dieser offiziellen
kirchlichen Erklärungen in den Massenmedien, die oft die Aufmerksamkeit auf
Nebensächliches lenken und den Blick auf die zentrale Botschaft des kirchlichen
Bekenntnisses zu historischer Schuld verstellen. Nicht zu vergessen ist die
Mahnung des Apostels, mit Klugheit und Liebe Rücksicht zu nehmen auf "die
Schwachen im Glauben" (Röm 14,1).
Große Bedeutung hat in der enger zusammenrückenden Welt eine stärkere
Berücksichtigung der Kirchengeschichte aus der Perspektive der orientalischen
Kirchen und der jungen Kirchen in den Ländern, in denen Christen nur eine
Minderheit sind.
- Zweitens muss das adäquate Subjekt genannt werden, das zu diesem Akt der
öffentlichen Vergebungsbitte für die Fehler aus der Vergangenheit autorisiert
ist. Es sind sowohl die Hirten der Ortskirchen, die als einzelne oder in einem
kollegialen bischöflichen Akt diese Bitte aussprechen können. Es ist
insbesondere der universale Hirte der Kirche, der Bischof von Rom, der für die
Kirche als ganze sprechen kann. Bei dieser Vergebungsbitte und der Bereitschaft
zur Übernahme von Verantwortung für die Verfehlungen der Vergangenheit muss man
unterscheiden zwischen dem Lehramt der Kirche und der Autorität der Kirche.
Nicht jeder Akt kirchlicher Autoritäten hat im eigentlichen Sinn lehramtliche
Qualität. Wenn einer oder mehrere Träger der kirchlichen Autorität sich eines
Verhaltens schuldig gemacht haben, das dem Evangelium widerspricht, bedeutet das
nicht per se, dass darin das Charisma der bischöflichen Lehrvollmacht verwickelt
ist, mit dem der Herr die Hirten der Kirche ausgestattet hat. Deshalb kann als
Konsequenz der Vergebungsbitte des Papstes und vieler Bischöfe keineswegs die
Rücknahme oder Relativierung früherer lehramtlicher Aussagen verlangt werden.
- Drittens ist festzustellen, dass zuerst Gott der Adressat möglicher
Vergebungsbitten ist. Die in Frage kommenden menschlichen Adressaten, vor allem
wenn es sich um Gemeinschaften innerhalb oder außerhalb der Kirche handelt,
können nur ganz spezifisch angesprochen werden unter Beachtung einer
historischen und theologischen Kenntnis der Zusammenhänge. Dies betrifft sowohl
geeignete Akte der Wiedergutmachung wie auch die Möglichkeit, ihnen von seiten
der Glieder der Kirche den guten Willen und die Liebe zur Wahrheit zu bezeugen.
Den Weg der Versöhnung kann man am besten beschreiten im Dialog und in
wechselseitiger Bereitschaft, die Sünden der Vergangenheit zu bereuen. Dies
hängt im einzelnen aber von dem religiösen Selbstverständnis des Dialogpartners
ab. Die Wechselseitigkeit (Reziprozität) soll daher kirchlicherseits nicht zur
absoluten Bedingung gemacht werden. Die Kirche sollte die Haltung zuvorkommender
Liebe einnehmen, indem sie die Initiative ergreift und sich dabei nicht von der
erhofften Reaktion der anderen Seite abhängig macht.
- Viertens sind die möglichen Gesten einer Wiedergutmachung ins Auge zu fassen.
Sie hängen ab vom Bewusstsein einer die Zeit überdauernden Verantwortung. Sie
sind von symbolischem Charakter, können aber auch die Bedeutung einer wirksamen
Wiederversöhnung bekommen, wenn man zum Beispiel an die Spaltung der
Christenheit denkt. Für die nähere Ausgestaltung dieser symbolischen Gesten ist
eine gemeinsame Vorbereitung mit den möglichen Adressaten und die Erwägung ihrer
legitimen Wünsche und Vorstellungen in Aussicht zu nehmen.
- Fünftens ist der pädagogische Aspekt anzuführen. Ein endloses Weiterschleppen
negativer Vorstellungen vom anderen darf keine Zukunft haben. Unerträglich wäre
auch die Attitüde einer ständigen Selbstanklage, die das eigene Existenzrecht
bezweifelt. Es muss klar werden, dass die Übernahme einer Verantwortung für die
Sünden aus der Vergangenheit eine Art von Teilnahme am Mysterium des
gekreuzigten und auferstandenen Christus ist, der sich die Schuld aller auf
seine Schultern hat legen lassen. In dieser Perspektive, die aus dem
Osterereignis hervorgeht, zeigen sich die Früchte sowohl für das Subjekt wie
auch für den Adressaten der Bitte um Vergebung. Es sind Befreiung, Versöhnung
und Freude, die denen zuteil werden, die diesen Weg aus dem Glauben heraus wagen.
6.3 Konsequenzen für den Dialog und für die Mission
Mehrere Auswirkungen auf den Dialog zwischen der Kirche und religiösen und
gesellschaftlichen Gruppen wie auch für die Verwirklichung ihrer Mission sind
von diesem kirchlichen Schuldbekenntnis zu erwarten.
- Auf der Ebene der Mission muss man zunächst beachten, dass diese Akte der
Vergebungsbitte nicht den Schwung der Evangeliumsverkündigung hindern, indem man
die negativen Aspekte verschärft. Auf der anderen Seite ist aber nicht zu
übersehen, dass dadurch auch die Glaubwürdigkeit der Botschaft wachsen kann,
wenn nur deutlich wird, dass sie dem Gehorsam gegenüber der Wahrheit entspringen
und Früchte der Versöhnung hervorbringen. Die Missionare "ad gentes" wissen
sicher, in welchem Kontext sie diese öffentlichen Akte der kirchlichen Autorität
ihren Hörern verständlich machen können. Zu beachten ist zum Beispiel, dass
viele Christen nichteuropäischer Länder mit bestimmten Aspekten der europäischen
Kirchengeschichte möglicherweise nicht viel anzufangen wissen.
- In ökumenischer Hinsicht kann das Ziel kirchlicher Vergebungsbitten gar kein
anderes als die vom Herrn gewollte Einheit sein. Von einem wechselseitigen
Austausch der Vergebungsbitte darf man sich viel erhoffen, wenn es auch manchmal
prophetische Gesten geben kann, die eine einseitige und uneingeschränkt
großzügige Initiative fordern.
- In der interreligiösen Begegnung ist es angezeigt, deutlich herauszustellen,
wie das Schuldbekenntnis der Kirche der Fehler der Vergangenheit für die
Christgläubigen mit der Forderung der Treue zum Evangelium übereinstimmt und wie
sie so ein glänzendes Zeugnis ihres Glaubens an die Wahrheit und Barmherzigkeit
Gottes, der sich in Christus geoffenbart hat, ablegen können. Zu vermeiden ist
das mögliche Missverständnis dieser Akte der Vergebungs- und Versöhnungsbitten,
als übernähme die Kirche selbst damit Vorurteile, die gegen das Christentum
gehegt werden. Vielleicht sehen sich die Anhänger anderer Religionen angeregt
und motiviert, die Fehler aus ihrer eigenen Vergangenheit einzusehen und
anzuerkennen. Die Menschheitsgeschichte ist übervoll von Gewalt, Völkermorden,
Menschenrechtsverletzung und Versündigung gegen das Völkerrecht, Ausbeutung der
Schwachen und einer Vergötzung der Machthaber. Leider sind nicht wenige
Religionen in ihrer Geschichte übersät von Intoleranz, Aberglauben, einem
Sicheinlassen mit ungerechten Mächten und mit einer Negation der Würde und
Freiheit des Gewissens. Die Christen sehen sich nicht als Ausnahme. Sie sind
sich bewusst, wie sehr sie sich alle vor Gott als Sünder zu bekennen haben.
- Im Dialog mit den Kulturen ist die Komplexität und Pluralität der
verschiedenen Mentalitäten im Auge zu behalten, mit denen ein Dialog über die
Idee der Vergebungsbitte begonnen werden soll. Hier ist es dringlicher als
sonstwo, diese Vergebungsbitte im Licht des Evangeliums und besonders im
Hinblick auf das Geheimnis des gekreuzigten Herrn zu verdeutlichen. Es ist zu
sagen, dass die Offenbarung der Barmherzigkeit Gottes die Quelle der Vergebung
ist und weiter reicht als die Kirche in ihren sichtbaren Grenzen, als die in
Raum und Zeit eine und dieselbe Gemeinschaft. Wenn es sicher auch sehr schwierig
sein dürfte, die Vergebungsbitte in einer Kultur verständlich zu machen, der
diese Idee völlig fremd ist, muss man dennoch eine günstige Gelegenheit
wahrnehmen, um die theologischen und spirituellen Gründe im Licht der biblischen
Botschaft zu vermitteln und auf ihren kritischen und prophetischen Charakter
aufmerksam zu machen. Wo man mit einer von Vorurteilen bestimmten
Gleichgültigkeit gegenüber dem Wort des Glaubens zu rechnen hat, muss man sich
immer den doppelt möglichen Effekt kirchlicher Vergebungsbitten klarmachen. Die
einen fühlen sich bestätigt in ihren negativen Vorurteilen und einer
feindseligen Haltung voller Verachtung, während sich die anderen vom Wunder des
"gekreuzigten Gottes"(97) angezogen sehen. Im heutigen kulturellen Kontext und
besonders in der abendländisch-westlichen Welt bedeutet die "Reinigung der
historischen Erinnerung" eine Verpflichtung, die Glaubende und Nicht-Glaubende
miteinander verbindet. Eine solche gemeinsame Arbeit ist ein positives Zeugnis
für die Lehre, die uns die Wahrheit erteilt.
- Im Verhältnis zur weltlichen Gesellschaft ist Wert zu legen auf die Differenz
zwischen der Kirche als einem Geheimnis der Gnade und irgendeiner weltlichen
Gesellschaftsbildung. Dennoch kann man den exemplarischen Charakter der
kirchlichen Vergebungsbitte nicht genug herausstellen.
- Es ist zu hoffen, dass sie zu vergleichbaren Schritten ermutigt, eine "Reinigung
des Gedächtnisses" und eine Versöhnung zu suchen gerade dort, wo sie sich in
ganz bestimmten Zusammenhängen als vordringlich erweist.
- Diese Sicht findet ihre Bestätigung in den Worten Johannes Pauls II. in einer
Ansprache an die Teilnehmer eines Internationalen Symposiums: "Die Bitte um
Vergebung ... betrifft an erster Stelle das Leben der Kirche, ihren Auftrag zur
Verkündigung des Evangeliums von der Erlösung, ihr Zeugnis für Christus, ihr
Engagement für die Einheit, in einem Wort die Folgerichtigkeit, die das
christliche Dasein prägen muss. Doch Licht und Kraft des Evangeliums, aus dem
die Kirche ihre Lebenskraft gewinnt, bieten auch reiche Möglichkeiten, die
Grundmuster und Aktionen der weltlichen Gesellschaft - unter voller Achtung
ihrer Unabhängigkeit - zu erleuchten und zu unterstützen. ... An der Schwelle
zum dritten Jahrtausend darf man hoffen, dass die Verantwortlichen in der
Politik und die Völker - vor allem jene, die in dramatische, vom Hass und von
der Erinnerung an alte Wunden genährte Konflikte verwickelt sind - sich vom
Geist des Verzeihens und der Versöhnung leiten lassen, den die Kirche bezeugt,
und sich um eine Beilegung der Streitigkeiten durch einen aufrichtigen und
offenen Dialog bemühen."(98)
Siebtes Kapitel
ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK
Am Ende dieser Überlegungen über das Schuldbekenntnis der Kirche und seine
Formen kann nur noch einmal betont werden, dass sich die Kirche in all ihren
Äußerungen und gerade auch in diesen Akten der Bitte um Vergebung zuallererst an
Gott wendet und ihn in seiner herrlichen Gnade und Barmherzigkeit rühmt und
bekennt. Das Lob Gottes ist untrennbar verbunden mit der Würde der menschlichen
Person, die ihre Vollendung in der Lebensgemeinschaft mit Gott findet, der den
Menschen zum ewigen Leben berufen hat: "Gottes Herrlichkeit ist der lebendige
Mensch das Leben des Menschen aber ist die Schau Gottes."(99) Wenn die Kirche in
dieser Weise handelt, bezeugt sie auch ihr Vertrauen in die Wahrheit, die frei
macht (vgl. Joh 8,32).
"Ihre Vergebungsbitte ist kein Trick, der sich mit Demut tarnt. Die
Vergebungsbutte ist auch keine Absage an ihre zweitausendjährige Geschichte, die
so reich ist in allen Bereichen der Caritas, der Kultur und der Heiligkeit. Die
Kirche antwortet jedoch auf eine unwidersprechliche Herausforderung der Wahrheit,
dass es neben all den positiven Aspekten auch die menschlichen Grenzen und
Schwächen gegeben hat, die in vielen Generationen der Jünger Christi zu
verzeichnen sind."(100)
Die erkannte Wahrheit ist Quelle der Versöhnung und des Friedens, da "die Liebe
zur Wahrheit, die in Demut erforscht wurde, einer der großen Werte ist, der die
Menschen von heute inmitten der Vielfalt der Kulturen zusammenführen kann"(101),
wie Johannes Paul II. bei einer anderen Gelegenheit erklärte.
Aufgrund ihrer Verantwortung vor der Wahrheit kann die Kirche "die Schwelle des
neuen Jahrtausends nicht überschreiten, ohne ihre Kinder dazu anzuhalten, sich
durch Reue von Irrungen, Treulosigkeiten, Inkonsequenzen und Verspätungen zu
reinigen. Das Eingestehen des Versagens von gestern ist ein Akt der
Aufrichtigkeit und des Mutes"(102).
Wir alle dürfen mit einem neuen Morgen rechnen.
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(1) Johannes Paul II, Incarnationis mysterium, Verkündigungsbulle des Großen
Jubiläums des Jahres 2000 (= Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 136), Art,
11.
(2) Ebd. Schon in mehreren Stellungnahmen, besonders in Art. 33 des
Apostolischen Schreibens Tertio Millennio Adveniente (TMA), hat der Papst die
Kirche darauf hingewiesen, sich auf den Weg zu begeben, das "Gedächtnis zu
reinigen", und zwar hinsichtlich der Schuld aus der Vergangenheit. Auf diese
Weise könne die Kirche den einzelnen und der Gesellschaft ein Beispiel für Reue
und Umkehr bieten.
(3) Lumen gentium, 8.
(4) Vgl. Extravagantes communes, lib. V, tit. IX, c. 1 (A. Friedberg, Corpus
iuris canonici, II, c. 1304).
(5) Vgl. Benedikt XIV., Brief Salutis nostrae, 30.4.1774, § 2. Leo XIL, Brief
Quod hoc ineunte, 24. Mai 1824, § 2, spricht vom "Jahr der Sühne, der Verzeihung
und Befreiung, der Gnade, der Vergebung und des Nachlasses".
(6) In diesem Sinne ist die Definition des Ablasses zu verstehen, den Clemens
VI. bei der Festlegung des alle 50 Jahre wiederkehrenden Jubeljahres gegeben hat.
Er sieht im kirchlichen Jubeljahr "die geistliche Erfüllung" des "Jubeljahres
der Vergebung und der Freude" aus dem Alten Testament (Lev 25).
(7) Zitiert nach Erwin Iserloh, Die protestantische Reformation, in: Handbuch
der Kirchengeschichte IV, hg. v. Hubert Jedin, Freiburg / Basel / Wien 1967,111.
(8) Unitatis redintegratio, 7.
(9) Gaudium et spes, 36.
(10) Ebd. 19.
(11) Nostra aetate, 4.
(12) Gaudium et spes, 43 § 6.
(13) Lumen gentium, 8; vgl. Unitatis redintegratio, 6: "Die Kirche wird auf dem
Wege ihrer Pilgerschaft von Christus zu dieser dauernden Reform gerufen, deren
sie allezeit bedarf, soweit sie menschliche und irdische Einrichtung ist."
(14) Nostra aetate, 4.
(15) Unitatis redintegratio, 3.
(16) Vgl. Paul VL, Apostolisches Schreiben Apostolorum limina, 23. Mai 1974 (Enchiridion
Vaticanum 5, 305).
(17) Paul VL, Exhortatio Paterna cum benevolentia, 8. Dezember 1974 (Enchiridion
Vaticanum 5, 526-553).
(18) Vgl. Enzyklika Ut unum sint, vom 25. Mai 1995, Nr. 88: "Für das, wofür wir
verantwortlich sind, bitte ich um Verzeihung."
(19) Einige Beispiele: Im Rahmen der Heiligsprechung des Jan Sarkander in der
Tschechischen Republik am 21. Mai 1995 bittet der Papst "im Namen aller
Katholiken um Verzeihung für das von ihnen im Lauf der Geschichte verursachte
Unrecht gegenüber Nicht-Katholiken" in Mähren. - In seiner Botschaft an die
Indianer Amerikas in Santo Domingo am 13. Oktober 1992 und in der Ansprache zur
Generalaudienz vom 21. Oktober 1992 wollte er einen "Akt der Sühne" leisten und
die indianische Urbevölkerung von Lateinamerika sowie die als Sklaven
deportierten Afrikaner um Vergebung bitten. - Wegen der Versklavung der
Schwarzen hatte er schon zehn Jahre zuvor an die Afrikaner eine Bitte um
Vergebung gerichtet (Ansprache in Yaoundé am 13. August 1985).
(20) Vgl. T'MA, 33-36.
(21) TMA, 33.
(22) TMA, 33.
(23) Ebd. 36.
(24) Ebd. 34.
(25) Ebd. 35.
(26) Dieser letztgenannte Aspekt kommt in T'MA nur in Nr. 33 zum Vorschein, wo
von der Kirche gesagt wird: "Obwohl die Kirche durch ihr Einverleibtsein in
Christus heilig ist, wird sie nicht müde, Buße zu tun: sie anerkennt immer, vor
Gott und den Menschen, die Sünder als ihre Söhne.
(27) Johannes Paul IL, Apostolisches Schreiben Reconciliatio et Paenitentia (=
Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, 60), vom 2. Dezember 1984, 31.
(28) Reconciliatio et Paenitentia, 16.
(29) Vgl. Augustinus, De civitate Dei I,35 (CCL 47,33); XI,1 (CCL 48,321); XIX,26
(CCL 48,696).
(30) Zu den verschiedenen Methoden der Schriftinterpretation vgl. das Dokument
der Päpstlichen Bibelkommission Die Interpretation der Bibel in der Kirche
(1993).
(31) Aus dieser Reihe von Texten sind als Beispiele zu nennen Dtn 1,41: Die
Wüstengeneration bekennt, gesündigt zu haben durch die Weigerung, in das
verheißene Land hinaufzuziehen; Ri 10,10. 12: Zur Zeit der Richter sagt das Volk
zweimal "wir haben gesündigt" gegen den Herrn, da sie den Baalen gedient haben;
1 Sam 7,6: Das Volk zur Zeit des Samuel bekennt: "Wir haben gegen den Herrn
gesündigt!"; Num 21,7: Dieser Text unterscheidet sich insofern, als das Volk der
Mosegeneration hier zugibt, sich mit seiner Klage über "die elende Speise" der "Sünde"
schuldig gemacht zu haben, weil es gegen den Herrn und auch gegen seinen
menschlichen Führer, Mose, gemurrt hatte; 1 Sam 12,19: Die Israeliten der
Samuelepoche erkennen an, dass sie, indem sie einen König forderten, dies "zu
all ihren Sünden hinzugefügt haben"; Esra 10,13: Das Volk erkennt vor Esra,
schwer gesündigt zu haben, da man sich mit fremden Frauen verheiratet hatte; vgl,
auch Ps 65,2; 90,8;103,10 (107,10-11.17); Jes 59,9-15; 64,5-9; Jer 8,14;14,7;
Klgl 1,14.18a. 22 (das "Ich" ist hier die Personifikation Jerusalems); 3,42
(4,13); Bar 4,12-13: Zion ruft die Sünden seiner Söhne wach, die zu seiner
Verwüstung beigetragen haben; Ez 33,10; Mi 7,9 ("Ich").18-19.
(32) Zum Beispiel Ex 9,27, wo der Pharao zu Mose und Aaron sagt: "Diesmal
bekenne ich mich schuldig. Jahwe ist im Recht; ich aber und mein Volk, wir sind
im Unrecht."; Ex 34,9: Mose bittet: "Vergib uns unsere Schuld und Sünde"; Lev
16,21: Der Hohepriester bekennt am großen Versöhnungstag die Sünden des Volkes,
während er seine Hände auf den Kopf des "Sündenbocks" legt und diesem so die
Sünden auflädt; Ex 32,11-13 (vgl. Dtn 9,26-29: Mose); Ex 32,31 (Mose); 1 Kön
8,33ff. (vgl. 2 Chr 6,22ff.): Salomon bittet, dass Gott mögliche zukünftige
Sünden vergebe; 2 Chr 28,13: Die Führer Israels beteuern: "Unsere Schuld ist
schon groß genug; Esra 10,2. Schechanja sagt zu Esra: "Ja, wir haben unserem
Gott die Treue gebrochen; wir haben fremde Frauen aus der Bevölkerung des Landes
geheiratet; Neh 1,5-11: Nehemia bekennt die vom Volk Israel begangenen Sünden,
sowohl seine eigenen wie auch die des Hauses seines Vaters; Est 4,17n: Esther
bekennt: "Wir haben gesündigt gegen dich und du hast uns unseren Feinden
ausgeliefert, weil wir ihre Götter verehrt haben"; 2 Makk 7,18. 32: Die
jüdischen Märtyrer bekennen, dass sie zu leiden haben wegen "unserer Sünden"
gegen Gott. -
(33) Als Beispiele kann man anführen 2 Kön 22,13 (vgl. 2 Chr 34,21): Joschija
fürchtet den Zorn des Herrn, "weil unsere Väter auf die Worte dieses Buches
nicht gehört haben; 2 Chr 29,5-7: Der König Hiskija sagt zu den Priestern und
Leviten: "Heiligt euch jetzt, und heiligt das Haus des Herrn. Schafft alles
Unreine aus dem Heiligtum. Unsere Väter haben treulos gehandelt und getan, was
dem Herrn missfiel"; Ps 78,8ff.: Der Beter spricht in Ich-Form: "... damit sie
nicht werden wie ihre Väter, jenes Geschlecht voll Trotz und Empörung; zu
beachten ist aber auch die sprichwörtliche Rede Jer 31,29f. und Ez 18,2: "In
jenen Tagen sagt man nicht mehr: Die Väter haben saure Trauben gegessen, und den
Söhnen werden die Zähne stumpf. Nein, jeder stirbt nur für seine eigene Schuld:
nur dem, der die sauren Trauben isst, werden die Zähne stumpf.
(34) Dies ist etwa der Fall Lev 26,40: Die Exilierten sollen "ihre und ihrer
Väter Treulosigkeit eingestehen"; Esra 9,56-15, das Bußgebet des Esra, V. 7: "Seit
den Tagen unserer Väter bis heute sind wir in großer Schuld"; vgl. Neh 9,6-37;
Tob 3,1-5: In seinem Gebet ruft Tobit zu Gott: "Strafe mich nicht für die Sünden
und Fehler, die ich und meine Väter dir gegenüber begangen haben (V. 3). In V. 5
stellt er fortfahrend fest: "denn wir haben deine Gebote nicht gehaltene"; Ps
79,8-9: In diesem Volksklagelied wird Gott angefleht: "Rechne uns die Schuld der
Vorfahren nicht an ... Reiß uns heraus und vergib uns die Sünden!"; Ps 106,6: "wir
haben gesündigt wie unsere Väter"; Jer 3,25: "Wir haben gesündigt gegen den
Herrn unseren Gott ... wir und unsere Väter"; Jer 14,19-22: "Wir erkennen, Herr,
unser Unrecht und die Schuld unserer Väter" (V. 20); Klgl 5,7: "Unsere Väter
sündigten; sie sind nicht mehr. Wir müssen ihre Schuld tragen"; Klgl 5,16 b: "Weh
uns, wir haben gesündigt; Bar 1,15-3,18; Bar 1,17: "wir haben gesündigt vor dem
Herrn; vgl. Bar 1,19. 21; 2,5. 24; Bar 3,5: "gedenke nicht der Treulosigkeit
unserer Väter; vgl. 2,23; 3,4.7; Dan 3,26-45: Asarja betet: "Ja, nach Wahrheit
und Recht hast du all dies wegen unserer Sünden herbeigeführte (V. 28); Dan
9,4-19: "Wegen unserer Sünden und der bösen Taten unserer Väter sind Jerusalem
und das ganze Volk zum Gespött für alle geworden, die rings um uns wohnen"
(V.16).
(35) Das schließt den Mangel an Vertrauen Gott gegenüber ein (wie zum Beispiel
Dtn 1,41; Num 14,10), die Idolatrie (wie in Ri 10, 10-15), das Verlangen nach
einem Menschen als König (1 Sam 12,9), die Eheschließung mit fremden Frauen im
Widerspruch zum Gesetz Gottes (Esra 9-10). In Jes 59,13 b sagt das Volk von sich:
"Wir reden von Gewalt und Aufruhr, wir haben Lügen im Herzen und sprechen sie
aus."
(36) Einen vergleichbaren Fall stellt die Verstoßung der fremden Frauen durch
die Juden nach Esra 9-10 dar. Die Frage nach einer Bitte um Vergebung für die
negativen Konsequenzen, die das für diese Frauen und ihre Nachkommen hatte,
stellt sich nicht, da diese Verstoßung als Ausführung des Gesetzes Gottes
aufgefasst wurde (vgl. Dtn 7,3).
(37) Man kann hier an die ständig gespannten Beziehungen zwischen Israel und
Edom denken. Obwohl Edom eigentlich ein "Brudervolk" Israels war, nahm es
begeistert an der Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier teil (vgl. Obd
10-14). Angesichts dieser schändlichen Behandlung sah Israel keine Notwendigkeit,
für das Blutbad an unbewaffneten edomitischen Gefangenen unter dem König Amazja
um Vergebung zu bitten (vgl. 2 Chr 25,12).
(38) Johannes Paul II., Ansprache am 1. September 1999, in: L`Osservatore
Romano, 2. September 1999, 4 (L`Osservatore Romano dt. vom 10. September 1999,
2).
(39) Vgl. TMA, 33-36.
(40) T'MA, 33.
(41) Man denke hier an das bei den christlichen Autoren verschiedener Epochen
stets gegenwärtige Motiv des Tadels an der Kirche wegen ihrer Schuld. Ein
besonders repräsentatives Beispiel bietet Maximus Confessor, Liber asceticus; PG
90,912-956.
(42) Lumen gentium, 8
(43) Katechismus der Katholischen Kirche (1993), Nr. 770.
(44) Lumen gentium, 8.
(45) Lumen gentium, 8, vgl, auch Unitatis redintegratio, 3 und 6.
(46) Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 827.
(47) Paul VL, Credo des Volkes Gottes (30. Juni 1968), Nr.l9 (zitiert in
Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 827).
(48) Lumen gentium, 39.
(49) Lumen gentium, 40.
(50) Lumen gentium, 48.
(51) Augustinns, Sermo 181,5,7 (PL 38,982).
(52) Thomas von Aquin, Summa theologiae III, q. 8, a. 3, ad 2.
(53) Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 2839.
(54) Ambrosius, De virginitate, 8,48 (PL 16,278 D): "Caveamus igitur, ne Lapsus
noster vulnus Ecclesiae fiat." Vgl. Lumen gentium, 11: "Die aber zum Sakrament
der Buße hinzutreten, erhalten für ihre Gott zugefügten Beleidigungen von seiner
Barmherzigkeit Verzeihung und werden sogleich mit der Kirche versöhnt, die sie
durch ihre Sünde verwundet haben und die zu ihrer Bekehrung durch Liebe,
Beispiel und Gebet mitwirkt."
(55) TMA, 33.
(56) Vgl. K. Delahaye, La Comunità. Madre dei credenti, Cassano M. (Bari) 1974,
110. Vgl. auch Hugo Rahner, Mater Ecclesia. Lobpreis der Kirche aus dem ersten
Jahrtausend christlicher Literatur, Einsiedeln 1944.
(57) Lumen gentium, 64.
(58) Augustinus, Sermo 25, 8 (PL 46,938): "Mater ista sancta, honorata, Mariae
similis, et parit et Virgo est. Ex illa nati estis et Christum parit: nam membra
Christi estis."
(59) Cyprian von Karthago, De Ecclesiae Catholicae unitate, 6 (CCL 3,253): "Habere
iam non potest Deum patrem qui ecclesiam non habet matrem"; ders., Ep. 74,7 (CCL
3C,572): "Ut habere quis possit Deum Patrem, habeat ante ecclesiam matrem";
Augustinus, In Ps. 88, sermo 2,14 (CCL 39,1244): "Tenete ergo carissimi, tenente
omnes unanimiter Deum patrem, et matrem Ecclesiam."
(60) Paulinus von Nola, Carmen 25,171f. (CSEL 30,243): "Inde manet mater aeterni
semine verbi / concipiens populos et pariter pariens."
(61) T'MA, 35.
(62) Vgl. Ignatius von Antiochien, An die Römer, Proem. (SCh 10,124; Th. Camelot,
Paris (2) 1958).
(63) Vgl. TMA, 33 und 34.
(64) Johannes Paul IL, Ansprache an die Teilnehmer der Internationalen
Studientagung zur Erforschung der Inquisition (31. Oktober 1998), veranstaltet
von der Theologisch-Historischen Kommission des Zentralkomitees des Heiligen
Jahres, Nr. 4 (L`Osservatore Romano dt. vom 20.11.1998, 7).
(65) Vgl. insgesamt Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer
philosophischen Hermeneutik, Tübingen 3. erw. Aufl. 1972.
(66) Bernard J. F. Lonergan SJ, Methode in der Theologie, übers. u. hg. von
Johannes Bernard, Leipzig 1991,162
(67) TMA, 35.
(68) Johannes Paul IL, Ansprache am 1. September 1999, in; L`Osservatore Romano,
2. (69) September 1999, 4 (L`Osservatore Romano dt. vom 10. September 1999, 2).
(69)Vgl. T'MA, 34-36.
(70) Unitatis redintegratio, l.
(71) Ebd. 13. In T'MA, 34 heißt es: "Mehr noch als im ersten Jahrtausend hat die
kirchliche Gemeinschaft im Verlauf des nun zu Ende gehenden Jahrtausends <oft
nicht ohne Schuld der Menschen auf beiden Seiten> schmerzliche Trennungen erlebt,
die offenkundig dem Willen Christi widersprechen und der Welt ein Ärgernis sind."
(72) Ebd. 13
(73) Unitatis redintegratio, 13.
(74) Siehe die Eröffnungsansprache zur II. Konzilssession am 29. September 1964
(Enchiridion Vaticanum 1, 106, n.176).
(75) Vgl. die Dokumentation des Dialoges der Liebe zwischen dem Heiligen Stuhl
und dem Patriarchal von Konstantinopel im Tómos Agápes: Vatican-Phanar
(1958-1970), Rom / Istanbul 1971
(76) Unitaus redintegratio, 7.
(77) Ebd. 7.
(78) T'MA, 35.
(79) Johannes Paul IL, Ansprache vom 1. September 1999, in: L`Osservatore
Romano, 2. September 1999, 4 (L`Osservatore Romano dt. vom 10. September 1999).
(80) TMA, 35. Das Konzilszitat stammt aus Dignitatis Numanae, l.
(81) Das II, Vatikanum hat dieses Thema in der Erklärung Nostra Aetate mit
großem Nachdruck behandelt.
(82) Johannes Paul IL, Ansprache anlässlich des Besuches der römischen Synagoge
(13. April 1986), 4 (AAS 78,1986,1120; L`Osservatore Romano dt. vom 18. April
1986).
(83) So das Urteil im jüngsten Dokument der Kommission für die Religiösen
Beziehungen zum Judentum Wir erinnern. Eine Reflexion über die Shoah, Rom, l6.
März 1998, 3.
(84) Ebd. 7.
(85) Wir erinnern. Eine Reflexion über die Shoah, 5.
(86) Ebd. 6.
(87) Ebd. 5.
(88) T'MA, 36.
(89) Gaudium et spes, 19.
(90) Gaudium et spes, 19.
(91) TMA, 33.
(92) Man denke nur an das Zeichen des Martyriums: vgl. TMA, 37.
(93) Unitatis redintegratio, 6.
(94) Ebd. 4.
(95) Ebd. 6: "Jede Erneuerung der Kirche besteht wesentlich im Wachstum der
Treue gegenüber ihrer eigenen Berufung."
(96) TMA, 36
(97) Diese starke Formulierung geht zurück auf den hl. Augustinns, De Trinitate
I,13, 28 (CCL 50, 69,13); Ep.169,2 (CSEL 44,617); Sermo 342 A,1 (Misc. Agost.
314,22)
(98) Johannes Paul IL, Ansprache an die Teilnehmer des Internationalen
Symposiums zum Studium der Inquisition (31. Oktober 1998) 5.
(99) Irenäus von Lyon, Adversus haereses IV, 20, 7 (N. Brox: FC 8/4, Freiburg
1997, 166): "Gloria enim Dei vivens homo, vita autem hominis visio Dei."
(100) Johannes Paul II., Ansprache vom 1. September 1999, in: L`Osservatore
Romano, 2. September 1999,
(101) Ansprache im europäischen Zentrum für Kernforschung (CERN), Genf am 15.
Juni 1982, in: Insegnamenti di Giovannni Paolo II, V,2, Vaticano 1982, 2321 (dt:
Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 40, 34-40).
(102) TMA, 33.