Fatale Gutmütigkeiten
Die Kirche wird gedankenlos modernisiert

Die Hintergründe für die Unbotmäßigkeiten der Priester Kroll, Felber und Hasenhüttl müssen wohl etwas klarer auf den Tisch gelegt werden. Die gemaßregelten Priester waren und sind nur die Spitze eines Eisbergs. Der Personalchef einer großen Diözese in der Mitte Deutschlands hat die Wirklichkeit kürzlich gut verbürgt dargestellt: „Bei den Maßstäben, die zur Zeit in Regensburg oder Eichstätt angelegt werden, könnte ich ein Drittel meiner Priester ins Kloster schicken." „Ins Kloster" heißt: zum Nachsitzen, zu einer Besinnungspause zeitweilig aus dem Verkehr ziehen. Dreißig Prozent der Priester halten es etwa so: Bei großen festlichen Ereignissen werden alle in der jeweiligen Kirche anwesenden Christen zur Interkommunion eingeladen. Das gilt von der Erstkommunion bis zur Kirchweih, vom gemeinsamen Reformationsfest bis zum Weihnachtsfest. Nicht Ungehorsam, sondern die Festfreude und grenzenlose Gutwilligkeit sind die Motive.

Zweifellos hat der ökumenische Kirchentag hier die bestehenden Trends (man kann es auch Verunsicherung und Irritierung nennen) befördert. Und genau so klar ist, daß hochrangige katholische Theologieprofessoren hier ein Eigentor geschossen haben. Nehmen wir etwa Kardinal Walter Kasper. Noch 1971 hat er als Münsteraner Professor seine Meinung drucken lassen: „Die eigentliche Irregulatät sind nicht solche offenen Kommuionfeiern, sondern die Spaltung und gegenseitige Exkommunikation der Kirchen. Die nicht positiv genug zu würdigende Funktion einzelner Gruppen, welche hier vorpreschen, ist es, daß sie den Kir­chen den Skandal ihrer Trennung., im Sakrament der Einheit immer wieder vor Augen führen." Walter Kasper bezeichnet solche offenen Eucharistiefeiern als „Zeichen der Hoffnung". Nun ist Eminenz Kasper sicher nicht der einzige, der am katholischen Kirchenbild gesägt hat. Damit aber ist vollends deutlich: Maßgebliche Professoren haben zur herrschenden Unsicherheit intensiv beigetragen. Gut bekannte Kollegen wie Herbert Vorgrimler und Otto Hermann Pesch dürften kaum böse sein, wenn sie hier genannt werden.

Nun gilt auch in der Kirche der Satz: Den letzten beißen die Hunde. Diese letzten sind die verunsicherten (man kann auch sagen: irregeleiteten) Gläubigen und ihre rührigen Seelsorger in den Gemeinden. Ihnen hat man wesentliche Sicherheiten des Glaubens genommen, und sie sollen nun für alle Orientierungslosigkeit verantwortlich sein. Natürlich ist das nicht nur beim Abendmahl so, sondern auch bei anderen wichtigen Aussagen des Cre­dos. Als ich neulich für den Glaubensartikel „empfangen vom Heiligen Geist" gestritten habe, wurde mir von aktiven Katholiken gesagt: „Da müßten Sie mal hören, was unsere Professoren vom Fach Dogmatik an der Universität dazu sagen." Doch kann niemandem . daran gelegen sein, gutwillige katholische Ortspfarrer, eben jene dreißig Prozent, in die Enge zu treiben, vor die Inquisition zu stellen oder sie von heute auf morgen von ihren Gemeinden zu isolieren. Nein, es liegt an den Bischöfen und Professoren, klar die Richtung anzugeben und dafür auch den Kopf hinzuhalten oder eben zurückzutreten.

Schon vor Jahren habe ich als an einer evangelischen Fakultät lehrender Neutestamentler in einer Rezension (FAZ. vom 22. Dezember 2001) meine Verwunderung darüber geäußert, wie Kollege Hasenhüttl ungehindert jahrzehntelang Priester und Religionslehrer hat ausbilden dürfen. Auch evangelischen Christen, die Hasenhüttl jetzt als Glücksfall betrachten, sei nur nachdrücklich die Lektüre seiner Dogmatik empfohlen. Kein Christ kann - so meine Sicht - über diese interreligiöse apersonale Gottesschau ohne geschichtliches Fundament glücklich sein. Katholische Professorenkollegen haben meine Kritik an Hasenhüttl damals als „Hinrichtung" bezeichnet. Daher also weht der Wind.

Keine Ahnung von Spiritualität

Verstehen heißt nicht entschuldigen. Die Situation der katholischen Theologie hierzulande kann :man zu verstehen versuchen: Zwei Zeitströmungen treffen aufeinander, die im Sturmschritt nachgeholte Aufklärung und der Ökumenismus. Beides zusammen überfordert insbesondere den Gemeindepfarrer, der sich weithin nicht auf eine wirklich gediegene Ausbildung stützen kann, wie Jesuiten oder Dominikaner es einstmals konnten. Von vielen Priestern, die an ihrer Kirche irre geworden und dann (oft daraufhin) geheiratet haben und laisiert wurden, kann man sicher sagen: Sie wurden Opfer ihrer flachen theologischen Ausbildung, die den Stürmen nicht gewachsen war. Ihren Lehrern, nicht ihnen ist etwas ins Stammbuch zu schreiben. Als ich begann, katholische Theologie zu studieren, gab uns unser Ortsbischof den Satz mit auf den Weg: „Wir wollen keine Theologen, sondern Priester." Dieses war offenbar auch andernorts die Maxime. Jedenfalls ist der vielerorts feststellbare flache Ökumenismus Resultat einer theologischen Verödung, verbunden mit völliger Gleichgültigkeit ge­genüber der Stimmigkeit des eigenen Credos. Jede Tiefendimension, die Bindung an die Geschichte oder die Universalkirche, jede Verantwortung vor der weltgeschichtlichen Größe der Kirche sind abhanden gekommen.

Das betrifft besonders das Fach Liturgiewissenschaft. Ganz zu schweigen von etwas Ahnung in Sachen Spiritualität. Wer aber so unzureichend ausgebildet ist, der wird in Fragen der Ökumene nicht über das hinausgehen können und wollen, was man auf evangelischer Seite badischen Ökumenismus nennt. In Baden wurden vor rund hundertachtzig Jahren auf königlichen Befehl hin Lutheraner und Reformierte auf der Basis des gemeinsamen Minimums zwangsvereinigt, eben „uniert". Man wird der darauf basierenden badischen Normal- oder Mittelorthodoxie nicht zu nahe treten, wenn man das Ergebnis als ein tendenziell konturen- und farbloses Gebilde bezeichnet. Das gilt auch für die Liturgie. Die vielerorts offensichtlich angestrebte Ökumene des Weglassens wird eine solche langweilige Ökumene sein.

Zurück zur katholischen Theologie: Es ist ihr nicht gelungen, die historisch-kritischen oder empirisch orientierten Disziplinen konstruktiv zur eigenen Tradition in Beziehung zu setzen. Von Beginn meines Studiums an habe ich kaum anderes kennengelernt als die Gleichsetzung von wissenschaftlicher Vernunft, Rationalismus und extremer Kirchenkritik. Offenbar war man durch die jahrhundertelange apologetische Inanspruchnahme der Vernunft so verschreckt, daß Ratio nun im Gegenschlag antikirchlich eingesetzt wurde. Das „System" fand keine Verteidiger mehr und macht daher schon seit Jahrzehnten einen innerlich morschen Eindruck. Ein Beispiel ist das Schicksal der Neuscholastik. Auch der Konflikt zwischen der unbefragt übernommenen protestantischen Exegese und traditioneller katholischer Dogmatik wurde nie ideologiekritisch - eben auch gegenüber der Exegese! - aufgearbeitet. Ähnliches galt für das Verhältnis zwischen moderner Philosophie und Scholastik. Es fehlte daher weitgehend die Kraft zur kritischen Durchdringung der Resultate moderner Philosophie und Humanwissenschaft. Das Verhältnis zwischen Karl Rahner und dem deutschen Idealismus zeigt dies nachdrücklich. Wissenschaftlich wurden Protestanten wie Harnack und Bultmann vergötzt, als wären sie Thronassistenten Gottes. 

Am Rand der Spaltung

Unter Theologen galt nur der als intelligent und war nur der noch akzeptiert, der ultramodern, hyperkritisch und irgendwie „links" war. Alles andere galt als „orthodox" und dumm. Diese Mentalität hatte sich sowohl bei den klassischen Intelligenzler-Orden als auch dann in der ganzen Kirche breitgemacht und ist seit einiger Zeit nun auch bei den berufskatholischen Laien angekommen. Im übrigen handelt es sich um ein zumeist nicht durchschautes Generationenproblem. Die neue Generation der jungen Kapläne, die häufig als zu fromm gelten und deswegen nicht gerade selten schon aus den Priesterseminaren entfernt werden, stellt den' Gegenschlag dar.

Die gegenwärtige Krise führt die Katholiken in. Deutschland bis an den Rand der Spaltung. Wir fragen nicht, wer schuld ist, denn um Moral geht es nicht. In gewisser Hinsicht war es notwendig, radikale Aufklärung, nachzuholen. Eine Heilung der teilweise gravierenden Zerstörungen - gerade im Kirchenverständnis - kann es nur geben durch eine sehr grundsätzliche Neubesinnung der Theologie. „Romhörigkeit" oder rechtslastiger Fundamentalismus würden nur an der Oberfläche bleiben, nicht aber das Problem lösen. Diese tiefgreifende Erneuerung katholischer Theologie stelle ich mir vor als eine Versöhnung von qualifizierter Wissenschaft und Spiritualität. Ich finde sie etwa in dem Traktat „Über die Schau Gottes" des Nikolaus Cusanus. Und vielleicht sollte man sich weniger Professoren-Bischöfe und mehr Mönchs-Bischöfe wünschen. Unter „Mönchs-Bischöfen" verstehe ich solche, die von monastischer Spiritualität geprägt sind und die neben der rationalen Theologie eine Einheit von Spiritualität und Denken gefunden haben. Die intendierte postliberale Theologie hat auch ihre Konsequenzen für ein erneuertes Verständnis von Kirche. Sie sollte darauf achten, nicht ständig Erleichterungen, Ausgewogenheiten und Ermäßigungen zu produzieren. Jegliche Erneuerung wird, zunächst nicht nach Erleichterungen fragen, sondern nach Substanz und Konsequenz. Sie sollte von dem reden, was Menschen fordert, was sie begeistert und sie binden kann. Daher sollte sie selbst sich etwas stärker selbstbewußt als Elite und als Salz in der Suppe betrachten. Alles andere führt dazu, daß sie irrelevant und langweilig wird. Dazu gehören auch ein provozierendes Bekenntnis und der Mut, Aversionen hervorzurufen, eine treue Gemeinde von Gegnern zu riskieren.

Katholiken und Protestanten werden erst dann wieder mit Gewinn miteinander reden können, wenn die Katholiken in dieser Hinsicht ihre Hausaufgaben gemacht haben. Anders gesagt: Eine ungezähmte rationalistische Aufklärung, die ihre Grenzen nicht kennt, kommt als Mutter künftiger Kircheneinheit nicht in Frage.

Es stimmt ja: Die Kirche kann Maßregelungen wie die gegenüber Hasenhüttl kaum vermitteln. Aber der Weg kann doch nicht sein, die Botschaft immer weiter einer blöden und gedankenlosen Modernisierung zu unterwerfen. Die Kirchen bezahlen das seit fünfzig Jahren mit ungeheuren Verlusten.

Vielleicht war doch die alte Unterscheidung zwischen Standbein und Spielbein nicht so falsch. Das Standbein bezieht sich,auf die Wahrheiten des Glaubens, die Gebote und den Gottesdienst. Das Spielbein, die bewegliche Seite also, müßte ausgerichtet sein auf lebendige Predigt und flexible Seelsorge. Diese beiden letzteren lebensfähig zu halten ist sehr viel mühsamer, als die Liturgie zu ändern. Der Haupteinwand der Progressiven - „Das kauft uns doch keiner mehr ab" übersieht gänzlich, daß alles, aber auch wirklich alles vom Überzeugtsein und dem Mut des Verkündigers abhängt. Wer an das glaubt, was er verkündet, und wer es wirklich liebt, wird auch andere überzeugen können. Dazu gehören etwas Hochmut des Glaubens und die Bereitschaft, mit einer halbierten Wirklichkeit nicht zufrieden zu sein. (KLAUS BERGER)