Hannover (kath.net/idea)
Fliege kommt! Dicht umringt von Presseleuten und Fans zieht
Fliege in die Halle ein. Er trägt einen Ein-Tage-Bart, die
Ärmel seines weißen Hemdes hat er hochgeschlagen. Er wird um
Interviews gebeten, um Fotos, um Autogramme. "Ich find' es
toll, daß Sie sich hier unters Volk mischen", sagt eine Frau.
Seit 38 Jahren besucht Jürgen Fliege den Kirchentag. Meistens
sei er als Pfarrer gekommen. Diesmal, sagt er, sei er jedoch
als "spiritueller Lehrer" dabei. Eine Frau, vielleicht Mitte
50, spricht ihn an. Fliege ergreift ihre Hand. "Och, ist das
schön. Die Hand wasch' ich mir wochenlang nicht mehr", sagt
die Frau. Fliege hält noch immer ihre Hand und erklärt ihr,
daß seine Aussage "Gott ist ein Gangster" eine sehr biblische,
"nur ins Moderne übertragene" Formulierung sei.
Zwei Frauen tragen ein Transparent
durch die Halle. "Durch Deutschland muß ein Ruck gehen: macht
Fliege zum Kanzler!" steht darauf. Das Publikum applaudiert
spontan. Wenig später tragen die Frauen ein weiteres Plakat
durch die Halle. Warum soll Fliege Kanzler werden, frage ich
sie. "Das ist nur eine Ironie", erklärt mir eine der Frauen.
"Fliege ist ein gotteslästerlicher Mensch. Die meisten sind
fasziniert von dem Mann, aber sie wissen gar nicht, daß er das
Kreuz Jesu ablehnt." Wenig später tragen die Frauen ein
weiteres Transparent durch die Reihen. "Ich ,fliege' auf
pseudochristliche Pfarrer, weil sie das Christentum beenden",
steht darauf. Diesmal klatscht keiner.
2.400 Teilnehmer wollen Fliege
hören; das Publikum ist deutlich älter als bei anderen
Vorträgen. Die Halle ist gut gefüllt, nur in den hinteren
Reihen bleiben mehrere Dutzend Papphocker frei. Jürgen Fliege
"wirbt für lebendiges Christentum" und "betreibt öffentliche
Alltagsseelsorge, die vielen Menschen sehr gut tut", sagt
Harald Schroeter-Wittke, Professor für Religionspädagogik und
Kirchengeschichte an der Universität Paderborn und Mitglied im
Präsidium des Kirchentags. Dann spricht Fliege.
Pressevertreter haben vorab ein 15
Seiten langes Manuskript seines Vortrags erhalten. Darin steht
zum Beispiel, daß sich hinter Mission "auch ein Krieg und groß
Macht und viel List" verstecken könne. Mission erinnere ihn an
Feldzug und Heilsarmee. Mission - das sei ein sehr männliches
Konzept, so Fliege. Er selbst sei mehr für Spiritualität, die
habe etwas Weibliches und sei nicht auf Mission aus. Man
brauche spirituelle Werte, die über den Tod hinausreichen. Als
Beispiel nennt er das Haus, das er sich gekauft habe und das
er seinen Töchtern vererben wolle. "Hingabe" und "Annahme"
sollten seine Zuhörer einüben. Die "Spiritualität des 3.
Jahrtausends" verzichte darauf zu sagen: "Mein Gott ist wahr."
Vom Blatt ablesen - das braucht
Fliege nicht. Er redet frei und verwendet Bilder, die haften
bleiben. Er wolle sich einen Zettel ins Totenhemd einnähen
lassen, sagt er, auf dem nur "Matthäus 25" stehe. Wenn er denn
am Himmelstor tatsächlich gefragt werde, ob er geglaubt habe,
wolle er auf dieses Bibelkapitel verweisen: Den Armen habe er
sich zugewandt, Hungernden und Obdachlosen habe er geholfen.
Wenn Fliege einen Vortrag hält,
läuft er gern über die Bühne. Diesmal steht er hinter einem
Pult, so daß nur sein Oberkörper zu sehen ist. Er arbeitet mit
seinen Händen, öffnet und hebt sie, streckt sie aus, weist auf
sich, dann aufs Publikum und verstärkt so seine Worte. Er ist
ein Meister der Gesten und der Worte. Er spricht kraftvoll;
man hört ihm gerne zu. Er ist ehrlich und direkt, er sagt, was
er denkt, und denkt, was er sagt - auch das gehört zu seinen
Stärken. Es ist nicht die Rhetorik, die an Jürgen Fliege zu
kritisieren ist: Es sind die Inhalte!
"In den theologischen Seminaren
haben wir gelernt, daß man eigentlich nicht mehr genau wissen
kann, was Jesus will", sagt Fliege. "Es gibt unzählige
Jesusbilder. Es interessiert mich also einen Augenblick lang
nicht, was Christus treibet - sondern was ich meine." - "Was
will Jesus von uns?" fragt Fliege und antwortet: "Ich weiß es
nicht genau." Nicht was Jesus will, erfahren die Zuhörer also
an diesem Vormittag, sondern was Fliege möchte.
Es sind seltsam verdrehte
Argumente, die der rheinische Pfarrer entwickelt. Das
Christentum sei genausowenig wahr, wie seine Frau die schönste
Frau der Welt sei, seine Kinder die klügsten seien und Bayern
das beste Land der Welt sei. Trotzdem könne er seine Frau,
seine Kinder und Bayern lieben. Das Christentum sei nur eine
Religion neben anderen. Das denken viele - Fliege bekommt viel
Beifall. Dann geht er noch einen Schritt weiter. "Den
blutenden Herrn am Kreuz kann ich meinen Kindern nicht
vermitteln", sagt er. "Ich möchte nicht, daß irgendein
Lebewesen dieser Welt für meinen Scheiß geradestehen muß. Mit
dem blutendem Mann am Kreuz kriege ich keinen spirituellen
Frieden." Fliege vertritt eine "Ich will so bleiben wie ich
bin"-Theologie, die keine Schuld kennt, keine Vergebung
braucht und von Versöhnung mit Gott nichts wissen will.
"Horch! Hör in dich rein! Sei weise wie ein Indianer!
Lausche!" empfiehlt er. "Die Gottesoffenbarung ist außerhalb
(der Bibel - d. Red.) genau zu finden wie in dir drin. Du bist
auch ein heiliges Buch! Lausche!"
"Als überkandidelt und blutleer"
empfindet Fliege die Gottesdienste und ahmt einen Pfarrer
nach, der umständlich versucht, den Römer-Brief auszulegen.
Schließlich schnarcht Fliege. Das Publikum lacht und
applaudiert. Klar, so eine Situation hat jeder schon einmal
erlebt. "Wir haben die Menschen dem Text geopfert", behauptet
Fliege. Doch die Alternative, die er empfiehlt, steht im
Widerspruch zur Bibel: Die Kirche von morgen sei keine
predigende, sondern eine tröstende Kirche, die ohne Worte
auskommt. "Die Gemeinde wird nicht mehr auf der Bibel gebaut",
sagt er. "Seht es doch ein! Es hat nicht funktioniert!"
Ob man das Evangelium
weitererzählen müsse, wird er nach seinem Vortrag von einem
Zuhörer gefragt. Nein, sagt Fliege. "Man muß nicht überall
eingreifen. Ich habe Missionare erlebt, die die Schwelle zur
Tür meines Lebens überschritten haben, und mich gefragt: ,Sind
die bekloppt?'" Ein weiterer Zuhörer will wissen, was er von
fundamentalistisch eingestellten Christen halte. "Ich bekämpfe
sie nicht", sagt Fliege. "Es sind für mich Brüder und
Schwestern. Was sie tun, wird einen Sinn haben. Aber ich kann
ihn nicht erkennen."
Was hält das Publikum von Flieges
Vortrag? "Typisch Fliege", sagt ein Mann Anfang 60. "Er hat
Ausstrahlung, und er kann gut reden. Es waren starke Sätze
dabei, die sicher manchen vor den Kopf stoßen. Aber ich denke,
daß er es ernst meint." "Ich bin entrüstet, daß dieser Mann
immer so schlechtgemacht wird", sagt ein 67jähriger. "Ich bin
ein Fan von ihm. Er strahlt irgendwie was aus. Jeder Pfarrer
kann sich bei ihm eine Scheibe abschneiden."
"Ich fand ihn ganz gut, aber ich
bin zweigeteilt", sagt eine 40jährige, die in ihrer Kirche als
Presbyterin mitarbeitet. "Auf der einen Seite scheint er
hinter dem Glauben zu stehen, auf der anderen Seite auch
wieder nicht. Daß er das Kreuz Christi weghaben möchte,
verstehe ich nicht. Für mich gehört es zum Glauben schon
dazu."
"Einfach eindrucksvoll", nennt eine 65jährige Flieges Vortrag.
"Er bringt die Dinge auf den Punkt." Was hält sie davon, daß
Fliege Jesu Sühnetod am Kreuz ablehnt? "Die Stelle hab' ich
nicht ganz verstanden. Wenn er das wirklich so meint, wäre das
ja doch ganz schlimm."
Es sei eine inhaltlich gute
Veranstaltung mit guter Resonanz gewesen, wird dem
Kirchentagspräsidenten Eckhard Nagel nach dem Vortrag
berichtet. Doch mit dem Auftritt Flieges hat der Kirchentag
einem Götzen namens Pluralität geopfert. Jeder darf sagen, was
er will - selbst dann, wenn es im völligen Widerspruch zur
Bibel und den christlichen Bekenntnissen steht. Vermutlich
setzte das Kirchenpräsidium darauf, daß der bekannte
Fernsehpfarrer in der Lage ist, eine Halle zu füllen. Daß
dabei der Kern der christlichen Botschaft geopfert wurde, nahm
man billigend in Kauf. Dabei hätte das Kirchenpräsidium wissen
können, daß Fliege in Sachen Mission nichts zu sagen hat. Vor
zwei Jahren veröffentlichte idea ein Interview mit Fliege.
"Lehnen Sie Mission ab?" wurde er damals gefragt. Flieges
Antwort war kurz und eindeutig: "Ja, radikal. Ob mein Weg
richtig ist für andere, weiß ich nicht." (idea) |