Das Gute ist fundamentaler als das Böse


Vortrag des Philosophen Robert Spaemann
über die Vernünftigkeit des Glaubens an Gott
und den "Gottesbeweis nach Nietzsche" -
Von Burkhard Haneke.

 



„Vernunft und Glauben“ – die beiden Begriffe markieren eine Spannungsbogen, der schon das theologische Werk des jungen Joseph Ratzinger geprägt hat. Er spielt auch im Denken des Philosophen Robert Spaemann eine zentrale Rolle.

Eine „Philosophische Woche“ der Münchner Akademie nahm sich in der vergangenen Woche des Themas an und stellte ihr als Leitmotiv die These Benedikts XVI. von der „notwendigen Korrelationalität von Vernunft und Glaube, die sich gegenseitig brauchen und das gegenseitig anerkennen müssen“, voran. Für das „anspruchsvolle Exercitium“ (so Akademiedirektor Florian Schuller) der Philosophischen Woche hatte die Akademie neben Robert Spaemann weitere namhafte Referenten gewinnen können, unter ihnen die Professoren Jörg Splett, Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Thomas Rentsch und Peter Strasser.

Bei der Eröffnung des Abendvortrags erinnerte Schuller an das jüngste Interview von Robert Spaemann im Nachrichten-Magazin „Der Spiegel“. Auf die dort gestellte Eingangsfrage „Wie kommt ein intelligenter Mensch wie Sie dazu, an Gott zu glauben?“ hatte Spaemann ziemlich nüchtern gekontert: „Mich wundert es eigentlich immer eher, wenn jemand nicht an Gott glaubt.“ Warum ihn dies wundert, machte Spaemann nun in München mit seinem Vortrag „Über die Vernünftigkeit des Glaubens an Gott“ deutlich.

Kann man heute als „aufgeklärter“ Zeitgenosse einen Gedanken wie die Schöpfung der Welt durch Gott für wahr halten? Kann man angesichts der „wissenschaftlichen“ Erklärbarkeit aller Dinge noch von einem transzendenten Grund der Welt sprechen? Kann man als „autonomer“ Mensch einen Gebotswillen Gottes akzeptieren? Kann man von der Existenz eines solchen – noch dazu als personales Gegenüber des Menschen gedachten – Gottes ausgehen?

Man kann nicht nur, man sollte es vernünftigerweise tun. Das war die Quintessenz der Ausführungen Robert Spaemanns, die sich in einem Satz zusammenfassen ließe: Wer an Gott glaubt, der glaubt an eine fundamentale Rationalität. Ausgangspunkt Spaemanns war das platonische „Höhlengleichnis“ als Sinnbild für die Situation des Menschen in der Welt: Menschen sitzen in einer fensterlosen Höhle. Sie sitzen angekettet einer Wand gegenüber. Auf der Wand wird ein Schattenspiel gegeben, eine Art „Höhlenkino“. Hinter dem Rücken der Angeketteten befindet sich eine unsichtbare Lichtquelle. Die Menschen kennen keine andere Situation als diese. Sie können einander und auch sich selbst nicht sehen, nur das Schattenspiel, das „Filmgeschehen“ – für sie die einzige Wirklichkeit, über die sie Mutmaßungen, Theorien und Prognosen anstellen.

Zwar geistert das Gerücht herum, es gebe so etwas wie eine wahre Welt außerhalb der Höhle und es gebe die Möglichkeit sich zu befreien und dorthin zu gelangen. Man hat auch von solchen gehört, die dorthin gelangten, deren Augen aber von dem Licht so geblendet wurden, dass sie gar nichts sahen. Die Höhlenbewohner sträuben sich daher mit Händen und Füßen, wenn einer von draußen zurückkommt, um sie zu befreien.

In Spaemanns Abwandlung dieses Gleichnisses ist der Mensch nicht nur Betrachter des „Höhlenkinos“, sondern selber Mitspieler im „Film“. Das Leben des Menschen verdanke sich jedoch „in jedem Augenblick dem Licht eines schöpferischen Projektors und dessen Filmstreifen“. Bei aller Freiheit, sich so oder anders zu bewegen, sei der Filmemacher und Projektor ihm immer schon einen Schritt voraus: „Er fügt die Handlungen der Spieler in den Zusammenhang eines Ganzen, das er bestimmt.“ Er selber tauche zwar im Filmgeschehen – übertragen: in der Schöpfung – nicht auf, sei aber die Ursache der ganzen Kette Wirklichkeit innerhalb des Ganzen.

„Schöpfung“ sei – so Spaemann – „kein Ereignis, auf das wir im Studium der Geschichte des Kosmos einmal stoßen werden“. Es bezeichne vielmehr „das Verhältnis des ganzen Weltprozesses zu seinem außerweltlichen Ursprung, dem göttlichen Willen“. Dass es sich so verhalte, sage „ein altes Gerücht, das Gerücht von Gott“.

Dieses „Gerücht von Gott“ als dem Grund und Ursprung der Welt hat mehr Plausibilität für sich als alle wissenschaftlichen Erklärungsversuche der Wirklichkeit, zumal des Lebendigen. Phänomene gar wie Schönheit, Harmonie, Subjektivität oder Freiheit fügen sich keinen schlichten Kausalitätsschemata. Naturgesetze erklären nichts, sie beschreiben nur strukturelle Regelmäßigkeiten. Jeder Versuch einer mechanistischen Analyse des Lebensstroms der Evolution wurde und wird mit den in ihr offensichtlichen Qualitätssprüngen nicht fertig. Hier wurde inzwischen mit überzogenen Ansprüchen einer „wissenschaftlichen Weltanschauung“, mit manchem „Aberglauben der Moderne“ (Wittgenstein), gründlich aufgeräumt. Die Alternative laute – so Spaemann – heute nicht mehr: wissenschaftliche Erklärung oder Gottes- beziehungsweise Schöpfungsglaube, sondern: Verzicht auf das Verstehen der Welt oder Gottesglaube.

Woran glaubt, wer an Gott glaubt? Er glaubt, so Spaemanns Grundthese, an die fundamentale Vernünftigkeit der Wirklichkeit. Das bedeutet unter anderem: „Er glaubt, dass das Gute fundamentaler ist als das Böse. Er glaubt, dass das Niedere vom Höheren aus verstanden werden muss und nicht umgekehrt. Er glaubt, dass Unsinn Sinn voraussetzt und dass Sinn nicht eine Variante der Sinnlosigkeit ist.“ Und er glaubt – oder sollte doch vernünftigerweise glauben – dass Gott beides ist: unendliche Liebe und unendliche Macht, der liebende ebenso wie der allmächtige Gott. Spaemann: „Die Rede vom (nur) guten Gott, vom Gott, der die Liebe ist, verliert ja ihre überwältigende Pointe, wenn sie verschweigt, von wem hier gesagt wird, er sei die Liebe, nämlich von der die Welt und unser Dasein tragenden Macht. Denn nur eine solche Macht kann vom Tod retten“. Die Unbedingtheit des Seins, des Faktischen, damit aber auch des Schicksals, und die Unbedingtheit des Guten gehörten rational zwingend zusammen. Keine dieser beiden Unbedingtheiten könne letztlich konsequent zu Ende gedacht werden, ohne sie mit der jeweils anderen zusammen zu denken. Für das Handeln des Menschen liegt darin überhaupt erst die Voraussetzung sinnvollen Tuns: „Der Glaube an die Macht des Guten ist es, der es uns ermöglicht, uns handelnd auf die Realität einzulassen ohne befürchten zu müssen, dass in einer absurden Welt auch jede gute Absicht zur Absurdität verurteilt ist.“

Was aber spricht schließlich für die Annahme, dass dem, was wir meinen, wenn wie „Gott“ sagen, auch eine objektive Realität entspricht? Das „Gerücht von Gott“ hält sich jedenfalls hartnäckig und hat allen Versuchen umfassender „wissenschaftlicher“ Welterklärung bisher stand gehalten. Und dieses „Gerücht“ hat wohl mindestens ebenso sehr mit der unmittelbaren Gotteserfahrung vieler Menschen zu tun wie mit der „rationalen Spurensuche“ nach der Existenz Gottes, also dem Versuch, intuitive Gewissheiten durch rationale Gründe zu rechtfertigen. Das wurde in den traditionellen Gottesbeweisen von Augustinus über Anselm von Canterbury und Thomas von Aquin bis zu Descartes, Leibniz und Hegel, die Spaemann kurz skizzierte, versucht. In all diesen Beweisen würden – bei aller zugestandenen Rationalität – bestimmte Prämissen bereits stillschweigend vorausgesetzt, weswegen sie nach einem Wort von Leibniz „argumenta ad hominem“ seien, die mehr auf Überzeugungskraft als auf strikter Beweisführung beruhten. All diese „Beweise“ setzen in verschiedener Weise schon voraus, was sie beweisen wollen. Dass der Mensch mit den Instrumenten seiner theoretischen Vernunft nicht imstande sei, die Existenz Gottes zu beweisen, brachte Immanuel Kant bleibend in den philosophischen Diskurs ein. Nur die praktische Vernunft, nämlich die Gewissenserfahrung veranlasse, ja verpflichte uns, so referiert Spaemann Kant, „die Existenz eines Wesens anzunehmen, das beide Unbedingtheiten, die des Seins und die des Guten, miteinander vereint und garantiert, dass der Lauf der Welt den guten Willen nicht ad absurdum führt“.

Friedrich Nietzsche radikalisierte die Kritik an allen traditionellen Gottesbeweisen noch einmal, indem er deren gemeinsame Voraussetzung radikal in Frage stellte, dass die Welt überhaupt verstehbar sei. Er habe „die Wahrheitsfähigkeit der Vernunft und damit den Gedanken von so etwas wie Wahrheit überhaupt“ in Zweifel gezogen. Spaemann: „Dieser Gedanke hat für ihn nämlich eine theologische Voraussetzung, die Voraussetzung, dass Gott ist. Nur wenn Gott ist, gibt es etwas anderes als subjektive Weltbilder. Wenn es den Blick Gottes nicht gibt, gibt es keine Wahrheit jenseits unserer subjektiven Perspektiven.“ Müssen wir dann gegebenenfalls lernen, ohne Wahrheit zu leben? Wer sagt denn – ließe sich mit Nietzsche fragen –, dass wir nicht im Absurden leben? Was von Nietzsche bleibt, auch wenn man seine Konsequenz nicht teilt, das ist, sagt Spaemann, „der Kampf gegen den banalen Nihilismus der Spaßgesellschaft, ist das genaue und verzweifelte Bewusstsein davon, was es bedeutet, wenn Gott nicht ist“. Und was theoretisch bleibe, das ist „die Einsicht in den inneren und untrennbaren Zusammenhang des Glaubens an die Existenz Gottes mit dem Gedanken der Wahrheit und der Wahrheitsfähigkeit des Menschen“.

Wahrheit setzt Gott voraus, schließt Spaemann und verdeutlicht dies in einer Art „Gottesbeweis nach Nietzsche“ unter Zuhilfenahme der bloßen Grammatik, nämlich mit dem so genannten Futurum exactum („etwas wird gewesen sein“): „Von etwas sagen, es sei jetzt, ist gleichbedeutend damit zu sagen, es sei in Zukunft gewesen. Das Gegenwärtige bleibt als Vergangenheit des künftig Gegenwärtigen immer wirklich.“ Wir können gar nicht denken, dass in ferner Zukunft das, was für uns gegenwärtig wahr ist, nicht mehr wahr gewesen sein könnte. Anders gesagt: „Wenn gegenwärtige Wirklichkeit einmal nicht mehr gewesen sein wird, dann ist sie gar nicht wirklich. Wer das Futurum exactum beseitigt, beseitigt das Präsens.“ Die unauslöschliche Wirklichkeit von Vergangenem an der Existenz des Menschen, an einem endlichen Bewusstsein, fest zu machen, erscheine aber unsinnig. Daher müssen wir „ein Bewusstsein denken, in dem alles, was geschieht, aufgehoben ist, ein absolutes Bewusstsein.“ Die Annahme eines wirklichen Gottes werde somit für die menschliche Vernunft zu einem ausweichlichen Postulat.

[© Die Tagespost vom 17.10.2006]