'Zeitalter der Sünde und Verwirrung' und 'Zeitalter der Heiligen'
Predigt von Joachim Kardinal Meisner, Erzbischof von Köln, während der Herbst-Vollversammlung
der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda am 23. September 2010 (Gedenktag des hl.
Pater Pio)
Liebe Brüder im geistlichen Amt, liebe Schwestern und Brüder im Herrn!
Das kirchliche Italien hat einen neuen geistlichen Schwerpunkt in Apulien im
Kloster San Giovanni Rotondo gefunden. Dort lebte und starb der im Jahr 2002
heiliggesprochene Pater Pio. Er ist zum Volksheiligen der Italiener, aber auch
weit darüber hinaus, geworden. Das Faszinierende an ihm war und ist, dass ihm
die fünf Wundmale Christi eingeprägt worden sind, sodass er ein ganz vom Kreuz
Christi geprägter Priester Gottes war, der aber den Menschen mit seinem tiefen
österlichen Glauben die Freude an Gott im Bußsakrament und in seinen Predigten
schenkte. Die Menschen mit ihren vielen Verwundungen wussten sich von dem mit
den Wunden Christi gezeichneten Priester verstanden und von seinem österlichen
Glauben für ihren weiteren Lebensweg gestärkt. Im vergangenen Jahr hat San
Giovanni Rotondo mit dem hl. Pater Pio zum ersten Mal mit seinen Pilgern den von
den Gläubigen Italiens schlicht „Il Santo“ genannten heiligen Antonius von Padua
überholt.
Wir sind im vergangenen Jahr zu einer Kirche geworden, über die aus bekannten
Gründen in tiefe Schatten gefallen sind, die deswegen so tief sind, weil sie in
unseren eigenen Reihen entstanden sind. Aber es sind Schatten in der Nähe des
Kreuzes. Wo das Kreuz in Sicht kommt, dort leuchtet auch bereits Ostern auf,
sodass bei allem „Miserere“ das „Halleluja“ nicht fehlen darf. Nicht, weil wir
so tüchtige Leute sind, sondern weil Christus, unser Herr und Gott, das ganze
Elend getragen und uns in seinem Tod und seiner Auferstehung erlöst hat. Uns
gilt das Wort des Apostels: „Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so
sterben wir dem Herrn. Ob wir leben oder ob wir sterben, wir gehören dem Herrn“
(Röm 14,8). Was ist das für ein Herr, der uns in jeder Situation zum Lobgesang
ermächtigt? – Es ist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, in dem Gott
sichtbar geworden ist, und zwar als ein Gott im Abstieg.
1. Gottes Abstieg ist der Aufstieg des Menschen
Das göttliche Wort ist Fleisch geworden und ist gehorsam geworden bis zum Tod,
ja bis zum Tod am Kreuz. Die herabsteigende Liebe Gottes hat die
Aufstiegsversuche des Menschen eingeholt und zum Ziel gebracht. Dafür steht das
Kreuz. Gott entäußert sich in alle Modalitäten gottentfremdeter und
todverfallener Erde hinein. Darum gibt es auf dem Globus kein Stück Welt, das
chemisch rein von Gott wäre. In der Solidarisierung Gottes mit den Höhen und
Tiefen des Menschen zeigt sich, dass Gott keinen Menschen loslässt. Die
Loslösung des Menschen von Gott ist darum immer nur ein einseitiger Vorgang.
Gott ist sichtbar geworden in dieser Welt, und zwar in den untersten Stockwerken,
eingezwängt in die Zwänge unserer armen Erde. Eingelassen in die bedrückendsten
Situationen der Menschen, ist er bei uns alle Tage, bis zur Vollendung der Welt.
Darum gibt es keine heillose Welt und keine heillose Situation. Sollten wir da
nicht den Lobpreis auf das Erbarmen Gottes anstimmen dürfen?
2. Gottes Einstieg in die Welt
Wenn der Einstieg Gottes in die Welt Abstieg heißt, dann wird der Weg seiner
Kirche ebenfalls Abstieg heißen müssen, um die Welt zum Aufbruch zu bringen. Die
fortschreitende gesellschaftliche Schwächung der Kirche bei uns führt
konsequenterweise ins Zentrum zu Jesus Christus im Abstieg. Das führt weg vom
Besitz hin zur Gabe; das führt weg vom Privileg hin zur Verantwortung; das führt
weg von der Selbstbewahrung hin zur Preisgabe. Diese Berufung heißt Sauerteig.
Die Sauerteigfunktion bedingt geradezu die absteigende Existenz der Kirche:
verborgen im großen Teig, eingekeilt in die Masse bis zur äußeren
Ununterscheidbarkeit, aber dort mit einer Kraft, die den ganzen Teig durchsäuert
und emporhebt. Israels größte religiöse Zeit war das Exil, in der alle äußeren
Haltepunkte weggefegt waren. Dem neuen Israel, der Kirche, kann es nicht anders
ergehen. Die immer neuen Leidensankündigungen des Herrn an seine Jünger wollen
ohne Zweifel einschärfen: Leidenssituationen sind die Normalsituationen einer
bezeugenden Kirche, weil sie ganz und gar der Norm Christi entspricht. Das
bringt die Kirche in ungeheure Aufbrüche hinein.
Liebe Schwestern, liebe Brüder, trotz allen Versagens gibt es oder gab es
wahrscheinlich in keiner Zeit so viel Bewährung im Glauben wie in unserer Zeit:
Glaubensbewährung von Kindern, Glaubensbewährung und Tapferkeit von Jugendlichen,
Glaubensbewährung von jungen Familien, gestandenen Frauen und Männern und alten
Leuten. Ob man unser Zeitalter nicht einmal das „Zeitalter der Sünde und
Verwirrung“, aber auch das „Zeitalter der Heiligen“ nennen wird? Wie viele
Menschen dienen unseren Gemeinden, die oft so klein und unansehnlich geworden
sind, dienen dem Herrn selbst in Treue und Selbstvergessenheit, ohne sich dafür
bezahlen zu lassen, gedrängt von der Liebe Christi. Haben wir da nicht Grund, in
Ergriffenheit das Lob Gottes auf seine Barmherzigkeit zu singen?
3. Die herabsteigende Liebe Christi
Der einzelne Christ ist beim Drama der Verdemütigung seiner Kirche nicht
Zuschauer, er ist Mitspieler. Am eigenen Leib wird er diesen Vorgang
nachvollziehen müssen. Der Christ ist ein Beauftragter. Und dieser Auftrag
treibt ihn in die Grenzgestalt des Weizenkorns, das in die Erde fällt. Die
herabsteigende Liebe Christi ist die durchgehende Lebensform des Christen. Sie
kann sich in verschiedenen Weisen zeigen, hat aber immer die Gestalt des
Weizenkorns, das man im Versinken in die Erde nicht sehen kann, sondern nur in
der Frucht, die es bringt. Die Formkraft Christi liegt – so wird man hier wohl
sagen dürfen – in der Formlosigkeit des in der Erde sterbenden Weizenkorns, das
nicht zu sich selbst, sondern zur Ernte aufersteht. Diese herabfallende Linie
des Weizenkorns muss auch die Bewegung all derer sein, die ihr Leben
christusförmig gestalten wollen. Wir lassen uns säen um der Ernte willen, und
die Keimkraft Christi in uns wird die dicksten Erdschollen durchbrechen.
Der Christ muss durch die Profanität und Banalität der Umwelt sein
Lebensgeheimnis, um das er glaubend weiß, tapfer hindurchtragen. Unser Lobgesang
auf den sich erbarmenden Gott ist das Erntelied dieses Aufgangs aus dem
Untergang. Die Etappen des Lebens Jesu heißen: Kreuz, Sauerteig, Weizenkorn. Die
Etappen eines Christen heißen: Kreuz, Sauerteig, Weizenkorn. Dann wird der
Christushymnus im Philipperbrief des Apostels Paulus zum Christenhymnus: „Sein
Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod,
bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen
verliehen, der größer ist als alle Namen“ (Phil 2,7-9). Hier steht der demütige
Pater Pio von Apulien. Geprägt durch die Wundmale Christi, aber geliebt und
verehrt durch den österlichen Glanz, der von ihm ausgeht. Der Lobgesang auf
Gottes Erbarmen ist unser Berufslied. Es ist das Erntelied dieses Aufgangs aus
diesem Untergang. Amen!