LEO CARD. SCHEFFCZYK Erfahrung der Theologie in der Zeit
Vortrag vor der altehrwürdigen Pontificia Accademia Teologica Romana vom 14.12.2000 aus Anlass der Verleihung des Ehrendiploms an Leo Scheffczyk. Der italienische Vortrag stand unter dem Titel: “La mia esperienza di teologo cattolico. Uno sguardo d’insieme”. (David Berger) Das mir angetragene Thema gehört einem seltenen und schwierigen literarischen Genus an. In ihm sollen Objektives und persönlich Erlebtes, Geschichtliches und Biographisches, äußere Fakten und subjektiv Erfahrenes zu einer überzeugenden Einheit zusammengefügt werden. Wegen der Schwierigkeit der Synthese solcher Gegensätze sei es mir erlaubt, den Nachdruck auf die objektiven Geschehnisse zu legen und eine Art von theologischer Zeitgeschichte im deutschsprachigen Raum seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts zu entwickeln, so wie sie sich meiner Erfahrung und meinem heutigen Urteil darbietet. Sie kann aber nicht den Anspruch erheben, eine Gesamtansicht der Entwicklung der Theologie in diesem Zeitraum zu bieten, sondern höchstens eine Schneise in das dichte Gelände, besonders der dogmatischen Theologie, zu schlagen. Die erste Phase meiner Begegnung und meiner Kontaktnahme mit der vorwiegend systematischen Theologie war die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Man darf sie kennzeichnen als 1) die Phase der neuen Zuwendung der Theologie zum Glauben und Leben. Der Neuanfang der deutschen katholischen Theologie nach dem Zweiten Weltkrieg begann verständlicherweise nicht mit einem Nullpunkt, sondern knüpfte kontinuierlich an die vergangene Epoche an. Für meine Generation war diese Epoche von der sogenannten Neuscholastik bestimmt, aber doch nicht ausschließlich. Es war nämlich Ende der dreißiger Jahre eine Bewegung in die deutsche Theologie hineingekommen, welche, von den Jesuitenprofessoren in Innsbruck ausgehend, die Glaubenslehre vornehmlich als Heilsbotschaft auf die Predigt und die Seelsorge ausrichten wollte, wobei die wissenschaftliche Theologie in einen Sonderkurs verwiesen werden sollte. Freilich konnte sich diese sogenannte „Verkündigungstheologie“[1], deren gelegentliche Überspitzungen von der Enzyklika Pius’ XII. „Humani Generis“[2] (vom Jahre 1950) kritisiert wurden, nicht gänzlich durchsetzen. Die besorgte Enzyklika Pius’ XII. selbst wurde in Deutschland zwar im ganzen verständnisvoll aufgenommen, aber nicht eigentlich auf die deutschen Verhältnisse bezogen. Die Anregungen und Impulse der „Verkündigungstheologie“ gingen aber nicht gänzlich verloren. Sie wurden aufgenommen und umgeformt von der großen fünfbändigen Dogmatik von Michael Schmaus (+ 1995), der seit 1956 auch Mitglied dieser Akademie war. An der Dogmatik von M. Schmaus, die auch viele Übersetzungen fand, lernte man damals vor allem schätzen: die organische Verwurzelung der dogmatischen Wahrheit in Schrift und Tradition, damit auch die Bindung an die Geschichte und ihre theologischen Ergebnisse, weiterhin den Anschluß der Lehre an die geistigen Bewegungen der Zeit in der Lebens- und Existenzphilosophie und die Offenheit für das damals stark anwachsende ökumenische Interesse. Das Neuartige und Anziehende dieser ersten Dogmatik von M. Schmaus[3] (es folgten bekanntlich bis 1980 noch zwei weitere Neubearbeitungen) bestand nicht zuletzt in der Anwendung einer lebendig-konkreten theologischen Sprache, die von der starren Diktion der Lehrbücher abging und die Fachterminologie durch eine dem Zeitempfinden nahestehende Sprechweise ersetzte, und dies ohne inhaltlichen Substanzverlust. So machte diese Dogmatik das wahr, was das Zweite Vatikanum in „Gaudium et Spes“[4] über die Notwendigkeit sagte, die Botschaft Christi in Begriff und Sprache der jeweiligen Völker und Zeiten auszudrücken. Das wußte in einer ersten Rezension sogar K. Rahner zu loben, der später in Verfolgung seiner eigenen anthropozentrisch und transzendental ausgerichteten Theologie einen eigenen Weg einschlug[5]. So wird verständlich, daß meine Generation von dieser lebendigen, aber gläubigen und kirchlich gesinnten Dogmatik beeindruckt war und dieser Eindruck unauslöschlich nachwirkte. Das Interesse an der Tradition und an der Geschichte, das damals noch nicht mit dem existentialistischen Verständnis von „Geschichtlichkeit“ identifiziert wurde, fand einen deutlich erkennbaren Ausdruck in der Herausgabe eines „Handbuchs der Dogmengeschichte“ durch M. Schmaus - J. R. Geiselmann und H. Rahner, dessen erster Faszikel im Jahre 1951 erschien und über „Buße und Letzte Ölung“ handelte, verfaßt von meinem Breslauer Lehrer in der Dogmatik, Bernhrad Poschmann. Das Werk, von dem einzelne Faszikel auch übersetzt wurden, liegt heute in 42 Faszikeln vor. Von dieser nachhaltigen Verbindung zur Tradition zeugte auch das große Sammelwerk zum 1450jährigen Jubiläum des Konzils von Chalkedon, das, von A. Grillmeier S.J. und H. Bacht herausgegeben (1951-1954), auch die Gegenwartsbedeutung des Konzils herausarbeitete, was u. a. an dem damals hochaktuellen Artikel der Exeget R. Schnackenburg bewies, in dem „der Abstand der christologischen Aussagen des Neuen Testamentes vom chalkedonischen Bekenntnis nach der Deutung Rudolf Bultmanns behandelt (III, 675-693) und gegen Bultmann an der legitimen Entwicklung vom Neuen Testament zum Konzil von Chalkedon festgehalten wurde. Für diese Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gewann die Dogmatik von Michael Schmaus eine gewisse repräsentative Stellung im deutschen Sprachraum, ohne daß sie die einzige Ausformung eines theologischen Denkens geblieben wäre. Das Interesse an einer Theologie, die positiv auf den glaubenden Menschen und das Glaubensleben der Kirche ausgerichtet war, erfuhr eine eigentümliche und schärfere Akzentuierung in manchen Werken aus dem Schüler- und Kollegenkreis von Michael Schmaus, die sich in der Festschrift für M. Schmaus 1957 anläßlich seines 60. Geburtstags zusammenfanden[6]. Hier kommen nicht nur führende Repräsentanten der patristischen und mediävistischen Forschung zu Worte (u. a. J. Danielou, H. Weisweiler, Fr. Stegmüller), sondern auch junge Talente meldeten sich an, wie Joseph Ratzinger mit seinem Beitrag über den „Einfluß des Bettelordensstreites auf die Entwicklung der Lehre vom päpstlichen Universalprimat“[7]. Hier brachten u. a. der spätere Kardinal Hermann Volk (+ 1988) und der Jesuitentheologe Otto Semmelroth einen neuen theologischen Standpunkt zur Geltung, den man generell als den Standpunkt eines katholischen Personalismus bezeichnen könnte. Er brachte, wohl nicht ohne maßvollen Einfluß seitens der damaligen protestantischen Theologie, den Gedanken neu zur Geltung, daß z. B. im sakramentalen Leben, entgegen einem einseitigen „Sakramentalismus“, auch das Moment der personalen Entscheidung, der Aktualität des handelnden Christus, das Moment der Relation wie auch der Spontaneität des Menschen berücksichtigt werden müßte, um dem Sakrament den Charakter einer wahren gott-menschlichen Begegnung zu verleihen[8]. Ähnlich äußerte sich Hermann Volk zum Thema „Gnade und Person“ in einer Weise, die man noch heute in der Debatte um die Rechtfertigung gewinnreich verwerten könnte[9]. Ohne einem exzessiven philosophischen Personalismus zu huldigen und Personalität in der aktualistischen Ich-Du-Beziehung aufgehen zu lassen, sollte die „Gnade“ nicht nur in Gegenüberstellung zur menschlichen Natur verstanden werden, sondern als Einbeziehung der menschlichen Person in das personale göttliche Leben selbst erkannt werden. Da aber Person als Vervollkommnung der geistigen Natur auch auf Tätigkeit angewiesen ist, mußte im Akt der Begnadung auch der cooperatio des Menschen eine indispensable Bedeutung zuerkannt werden. Eindrucksvolle Vertreter dieser personologischen Theologie waren damals in der Moraltheologie Th. Steinbüchel (+ 1949), der sich besonders mit dem deutschen Idealismus auseinandersetzte, und in der Religionsphilosophie Romano Guardini (+ 1968), der eine besonders anziehende Form christlicher Deutung und Bewältigung der modernen Welt darbot[10]. Die philosophische Theologie Guardinis strahlte damals eine große Wirkung aus, die auch heute noch nachhallt. All diese Einflüsse einer personologisch ausgerichteten Glaubenslehre blieben auf meine Generation nicht ohne Wirkung. Daß man bei einem solchen Verständnis der Theologie als personal ausgerichteter Glaubenswissenschaft nicht unkritisch war, zeigt die Haltung der deutschen Universitätstheologie zur Assumptio Corporalis B.M.V. in der Zeit vor ihrer Definition. Hier schlossen sich viele zunächst der kritischen historischen Betrachtungsweise des Breslauer Patrologen Berthold Altaner an, der den Traditionsbeweis für diese Wahrheit anzweifelte[11]. Nach der Definition aber, der die deutsche Theologie wie selbstverständlich zustimmte, lernten wir, nicht zuletzt aufgrund der wieder angeknüpften Kontakte mit der ganzen europäischen Theologie, verstehen, daß es auch einen dogmatischen Traditionsbeweis gibt, der als wichtige Momente das sogenannte „factum ecclesiae“ und den „sensus fidelium“ einschließt. In diese Zeit des „marianischen Frühlings“ ist auch die von mir verfaßte Habilitationsschrift über die „Mariologie der Karolingerzeit“ einzuordnen[12], die mein bleibendes mariologisches Interesse begründete, bis hin zu dem gemeinsam mit Remigius Bäumer herausgegebenen sechsbändigen Marienlexikon (1988 - 1994)[13]. Aber die Palette der deutschen Nachkriegstheologie war durchaus nicht einfarbig und uniformistisch gehalten, auch, wenn sie noch keinen grenzenlosen Pluralismus kannte. Es gab damals durchaus auch unterschiedliche theologische Konzepte, die vor allem auf den Tagungen der „Arbeitsgemeinschaft der deutschen Dogmatiker und Fundamentaltheologen“ zum Vorschein gelangten. Auf der Tagung vom Jahre 1959 in Passau über die Eucharistie (7. - 10.10.1959) war mir die Aufgabe zugefallen, ein Referat über „die materielle Welt im Lichte der Eucharistie“ zu halten. In ihm wurde die Bedeutung der Materie für die sakramentale Dimension des christlichen Lebens hervorgehoben, aber nicht im Sinne Teilhards de Chardin[14], der damals auch in Deutschland Anhängerschaft fand. Zu der hier vertretenen traditionellen Transsubstantiationslehre[15] gab Bernhard Welte eine interessante Erklärung ab, die besagte, daß die materiellen Dinge und Substanzen nicht aus ihrem physikalischen An-sich-Sein zu bestimmen seien, sondern aus dem Bezugszusammenhang zur Erkenntnis des Menschen. Die Intentionalität zum menschlichen Erkennen machte nach Welte das Sein des Seienden aus. Für die Erklärung der Transsubstantiation besagte diese Auffassung, daß sich an den Substanzen von Brot und Wein nichts änderte, sondern sie nur in einen neuen Bezugszusammenhang einbezogen würden, nämlich zur Bedeutung des eucharistischen Mahles erhoben würden. Hier waren die später erst in Holland aufgekommenen Tendenzen zur „Transfinalisation“ und „Transsignifikation“ geboren und zwar auf dem Boden einer in der idealistischen Philosophie und in der Geschichtlichkeit des Menschen gründenden Glaubensauffassung[16]. Ein junger Dozent konnte es damals noch nicht wagen, dem geistvollen berühmten Professor zu widersprechen, wenn man auch fühlte, daß sich hier ein neues idealistisches und existentialistisches Denken anmeldete, dessen Vereinbarkeit mit dem Dogma problematisch erschien. Solche Probleme traten auch in dem 1957 veröffentlichten Buch von Johannes Feiner über die „Fragen der Theologie heute“ auf[17]. Hier bezeichnete z. B. Hans Urs v. Balthasar die Eschatologie als einen „Wetterwinkel“ der neuen Theologie, in dem man sich neu orientieren müsse[18]. Das hinter dieser kritischen Bemerkung stehende Anliegen lag in einer noch entschiedeneren Anwendung des modernen philosophischen Denkens auf die Theologie zum Zwecke der besseren Vermittlung des Glaubens an den Menschen der Gegenwart. Diesem Anliegen sah sich auch die stark philosophisch imprägnierte Theologie K. Rahners verpflichtet, der in einem 1954 erschienenen Aufsatz „Über das Verhältnis von Natur und Gnade“[19] das erste Zeichen einer anthropologisch gewendeten Theologie setzte, die den Weg von P. Rousselot, J. Marechals und Henri de Lubac weiterverfolgte. Hier wurde vorerst nur gesagt, daß die Gnade nicht extrinsezistisch zu verstehen sei, weil der Mensch in seinem innersten Wesen, in seiner Konstitution, auf die Gnade und Gottesschau ausgerichtet sei und zwar vermöge eines ihm eigenen übernatürlichen Existentials, welches dem Menschen niemals fehlt und so eine innere Einheit zwischen Natur und Gnade in ihm herstellt. Das hier zutage tretende Anliegen der Einheitserfassung von Natur und Gnade war in unserem theologischen Umfeld zwar gut zu verstehen, aber die zu eindeutige Lösung schien doch wieder in ein monistisches Extrem zu weisen. Eine solche Grundauffassung, aus der sich auch die Theorie von den „anonymen Christen“ ergab, mußte Folgen haben für das Verständnis der nichtchristlichen Menschheit wie für Schöpfung und Welt im ganzen. Der später von Rahner noch strenger entwickelte transzendentale Ansatz vermochte zwar die Vermittlung zwischen dem auf das Absolute ausgerichteten Menschengeist und der Glaubenswahrheit besser zu erklären, aber es blieb immer die Frage, ob mit diesem Ansatz der ganze Inhalt des christlichen Dogmas erreicht würde. Diese Frage stellte sich besonders im Hinblick auf die Trinität und die Christologie. In diesem gnadenhaft-optimistischen Denken von Mensch und Welt erwies sich die deutsche Theologie, in welcher damals immer auch liturgische und dogmatische Erneuerungsbestrebungen maßvoll zum Ausdruck kamen, ungewollt und unbewußt als eine Wegbereiterin des Zweiten Vatikanums. Deshalb darf nun der Blick auf die Theologie im Bannkreis des Zweiten Vatikanischen Konzils gelenkt und zur Kennzeichnung dieser zweiten Phase der Ausdruck gewählt werden: 2) Die Theologie als zukunftsweisende Interpretin des Zweiten Vatikanischen Konzils In unserem Zusammenhang geht es nicht um eine inhaltliche Bewertung des Zweiten Vatikanums, sondern um seine Interpretation durch die damalige deutsche Theologie, die das Konzil allgemein begrüßte und es nach seinem Ende als großen Erfolg feierte. Dem stimmte auch meine Generation zu, obgleich uns damals schon die Beteiligung unseres Tübinger Kollegen Hans Küng nicht ganz geheuer erschien. In einer ersten Stellungnahme zum Konzil in dem von Michael Schmaus herausgegebenen Sammelband „Sind die Erwartungen erfüllt?“[20], sagte Karl Rahner: „Das Konzil hat mehr erreicht, als was selbst seine größten Befürworter und besten Freunde vorher zu hoffen wagten“. Deshalb zählte er das Zweite Vatikanum auch zu einem der „großen ökumenischen Konzilien“, das bezüglich der Weite seiner Thematik dem Tridentinum gleichzusetzen sei[21]. Als neue Errungenschaft hob er besonders die Stärkung der Position des Episkopats hervor, ferner die Einführung der Bischofssynoden, von denen er sich erhoffte, daß sie mit der Zeit die Funktionen des Kardinalskollegiums übernehmen könnten. Auch von den rechtlich gestärkten Bischofskonferenzen erwartete er eine Förderung des Eigenlebens der Teilkirchen in der Welt. Lob fand auch die „Dogmatische Konstitution über die Offenbarung“ mit ihrer Betonung des geschichtlichen Werdens der Heiligen Schrift. In dem „Dekret über die Ausbildung der Priester“ anerkannte er das Bestreben zu einer Neugestaltung der Priesterausbildung im Geist kritischer Wissenschaftlichkeit unter Hintanstellung der Neuscholastik. Im Missionsdekret sah er das Wehen eines neuen Heilsoptimismus auch mit Bezug auf die Religionen am Werk. Ebenso fanden besondere Anerkennung die Aussagen über die selbständige Aufgabe der Laien in der Kirche, über die Öffnung zur Ökumene und den Dialog mit der Welt[22]. Diese Interpretation erachtete man weithin als zutreffend und authentisch, aber man erkannte auch, daß sie im guten Sinne auf weitere Entfaltung der positiven Ansätze gerichtet war und daß das Ganze von einer optimistischen Grundhaltung bestimmt war. Das zeigte sich besonders deutlich in dem im gleichen Buche veröffentlichten Artikel von Heinrich Fries (+ 1998), der die Frage nach der Zuerkennung des Titels „Kirche“ an die protestantischen Gemeinschaften durch „Unitatis redintegratio“ als positiv entschieden ansah und von ihnen als Aussage des Konzils behauptete: „Sie sind Kirchen“[23]. Das erschien nun allerdings manchen von uns als unbegründet. Diese positive, aber auf Fortschritt und Weiterentwicklung bedachte Interpretation stellte sich meines Erachtens besonders deutlich in den drei Konzilsbänden des „Lexikon für Theologie und Kirche“ heraus[24]. Hier wurde z. B. die unbestimmte Art gelobt, mit der die Liturgiekonstitution über die vier Gegenwartsweisen Christi in der Kirche spricht, weil die primäre Daseinsweise Christi in seiner verherrlichten Existenz beim Vater bestehe[25]. Es wird über Gebühr hervorgehoben, daß der Grundsatz von der „strengen Einheit“ der römischen Liturgie verlassen sei zugunsten einer „Einheit im Wesentlichen“[26]. Zu der kargen Formel über die Revision des Ritus und der Formeln des Bußsakramentes wird auf zukünftige Entwicklungen hingewiesen, die das Notwendige veranlassen werden[27]. Ebenso wurde mit Zustimmung behauptet, daß mit dem „subsistit“ in „Lumen gentium, 8, das Verhältnis der Kirche zu den vielen Kirchen offen gelassen wurde und daß im Ökumenismusdekret auch das „Priestertum“ in die nichtkatholischen Gemeinschaften Eingang gefunden hätte[28]. Hervorgehoben wurde auch die für das ökumenische Gespräch vorteilhafte „Volk-Gottes-Vorstellung“ von der Kirche[29]. Bezüglich des mariologischen Kapitels acht der Kirchenkonstitution wurde die Zurückhaltung des Konzils gegenüber dem Begriff „Maria Mutter der Kirche“ wie gegenüber der Bezeichnung als „Mittlerin“ mit großem Gewicht ausgestattet[30]. Im Kommentar zum Ökumenismusdekret wurde betont gesagt, daß die geschichtlich gewordene Gestalt der Kirche die nichtkatholische Christenheit daran hinderte, in der katholischen Kirche die Kirche Christi zu erkennen[31]. Der für die Feststellung des Unterschieds in der Eucharistielehre wichtige Ausdruck vom „defectus ordinis“ wurde einmal richtig als „Fehlen des Weihesakramentes“ wiedergegeben, aber im gleichen Zusammenhang nur von einem „Mangel“ gesprochen, was in der nachkonziliaren Zeit als Einladung zur Angleichung des Amtsverständnisses interpretiert wurde. Weil die Lehre von den Sakramenten im Ökumenismusdekret als Gegenstand des Dialogs ausgegeben wurde, folgerte der Kommentator, daß die katholische Sakramentenlehre noch nichts Abgeschlossenes sei[32]. Am Ende des Kommentars wurde bekräftigt, daß der auf dem Konzil erreichte Stand im Ökumenischen nicht ein festgelegtes Programm sei, sondern zukünftigen Entwicklungen offenstehe. Diese Tendenz, die neuen Erkenntnisse des Konzils nicht nur den Gläubigen zu vermitteln und sie der Ortskirche einzuverleiben, sondern sie als ausbau- und entwicklungsfähig darzustellen, findet sich auch in der Kommentierung anderer Dokumente. So empfiehlt ein Kommentar der „Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen“ (Nostra aetate), den buddhistischen Negativismus im Licht der negativen Theologie der christlichen Tradition zu verstehen und so im Dialog weiterzukommen[33]. Die in der Offenbarungskonstitution (Dei Verbum) erfolgende Bestimmung von Offenbarung als Geschehen „durch Worte und Werke“ wird, entgegen einer lehrhaft-doktrinären Auffassung, als existentiell als „Zueinander des menschlichen Ichs mit dem göttlichen Du“ gedeutet[34]. Eine gewisse, wohl ökumenisch gedachte, Angleichung von lehrender und hörender Kirche findet sich in der Erklärung, daß der erste Dienst des kirchlichen Lehramtes das Hören sei[35]. Das „Dekret über den Apostolat der Laien“ würdigt die Ausdehnung des Apostolatsbegriffs auf die Laien, geht aber weiter, wenn es von der partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen dem hierarchischen Amt und den Laien erhofft, daß sie in Zukunft zu einer „gewissen vermittelnden Stellung der Laien zwischen Hirten und Gemeinde führen könnte[36]. Diese Möglichkeit wird heute faktisch realisiert, hat aber zu einem Phänomen geführt, das man mit Recht als „Klerikalisierung der Laien“ bezeichnet. Auch möchte der Kommentar die „Mitarbeit der Laien am hierarchischen Apostolat“ mit höherer Anerkennung versehen und sie als „offizielle oder amtlich-öffentliche Teilnahme oder Teilhabe am Apostolat der Kirche“ bezeichnet wissen[37]. In der für das Konzil und seine Weltöffnung besonders charakteristische Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ wurde der darin zum Ausdruck kommende Optimismus allgemein gelobt. Hierzu erging auf die naheliegende Frage, warum die Pastoralkonstitution bei der Erörterung des Bösen in der Welt nicht auch vom Urstand, von der übernatürlichen Erhebung, von der Ur- und Erbsünde redete, wiederum die Antwort, daß man der Theologie den Weg offen lassen wolle, diese schwierige Problematik neu zu erörtern[38]. Das geschah nach dem Konzil tatsächlich, aber meist unter Abgehen von der verbindlichen Glaubenslehre. In diesem Zusammenhang wurde auch die Frage nach dem Einfluß Teilhards de Chardin auf den Geist der Konstitution vorsichtig positiv beantwortet und erklärt, daß die Verfasser der Pastoralkonstitution der Weltsicht Teilhards nahestanden, wenn sie auch spezifisches Gedankengut von ihm nicht übernahmen[39]. Im Hinblick auf diese wenigen Beispiele konnte man damals erfahren, daß die deutsche Theologie das Konzil inhaltlich voll übernahm und anerkannte, aber es unter dem Eindruck des dynamischen Weltbildes der Kirchenversammlung und in der von ihr anerkannten Dimension der Geschichtlichkeit auch schon auf die Zukunft hin interpretierte, auch wenn es meines Erachtens mit einer gewissen Vorsicht geschah. Aber dem Ganzen eignete ein stark ausgeprägter Optimismus. Diese Grundtendenz setzte sich fest in einem repräsentativen dogmatischen Werk, dessen Grundriß K. Rahner schon vor dem Konzil entworfen hatte[40], in der fünfbändigen Dogmatik „Mysterium Salutis“ von J. Feiner/ M. Löhrer, die in den Jahren von 1965 - 1976 erschien[41]. Dieses von einer Vielzahl von Autoren erarbeitete Sammelwerk, in dem die Bearbeitung der Dogmengeschichte der Trinität mir zufiel, breitete vor den Theologiestudierenden nicht nur ein gewaltiges Material mit einer Fülle von neuen Themen und Problemen auf höchster Reflexionsstufe aus, sondern fügte diese auch zusammen mit Hilfe des Prinzips und der Methode der heilsgeschichtlichen Fassung und Deutung des Dogmas. Hier wurden die Anregungen der Offenbarungskonstitution „Dei Verbum“ und des „Dekretes über die Ausbildung der Priester“ (Optatam totius) mit großer Energie in die Tat umgesetzt. Die Merkmale des Heilsgeschichtlichen kamen deutlich zum Ausdruck, z. B. in der geschichtlichen Fassung der Offenbarung, von Heiliger Schrift und dem Dogma[42], in der biblischen Bestimmung der Schöpfung als Voraussetzung des Bundes[43], in der Konkretisierung der Christologie durch die Einbeziehung des alten Topos der „Mysterien des Lebens Jesu“[44], in der Darstellung der Kirche als des „neuen Gottesvolkes“[45] und der Eschatologie als Konsequenz der Person und des Werkes Jesu Christi[46]. Die geschichtliche Dimensionierung des Ganzen führte auch dazu, an bestimmten Stellen eine neue Deutung des Dogmas vorzulegen. So plädierte K. Rahner für eine Ersetzbarkeit des Personbegriffes und begründete die Trinitätslehre auf dem mißverständlichen Axiom „die ökumenische Trinität ist die immanente Trinität“[47]; Piet Schoonenberg interpretierte die Erbsünde als „Sünde der Welt“ und als „Situiertsein des einzelnen“ durch die vielen sündigen Taten der Menschen[48]; die Christologie wollte vornehmlich dem funktional-dynamischen Aspekt des Neuen Testamentes folgen und die Präexistenzvorstellung durch das stets aktuelle Handeln Gottes an Jesus ersetzen und durch ein geschichtliches „Werden der Sohnschaft“ Christi[49]; der descensus wurde als Intensivierung des Leidens des Erlösers und als Solidarisierung auch mit den geistig Toten verstanden, denen so auch das Heil zukomme[50]; in der Eschatologie wurde die Theorie von der „Auferstehung im Tode“ positiv in Erwägung gezogen[51]. Meines Erachtens war aber hier innerhalb der heilsgeschichtlichen Dimension die spekulative Durchdringung des Dogmas ein wenig zu kurz gekommen. Aber, abgesehen von diesen Einzelheiten, konnte man diese Dogmatik als einen beachtlichen Versuch verstehen, das Dogma in der vom Konzil empfohlenen heilsgeschichtlichen Perspektive zu entfalten. Die Aussagen des Konzils wurden auch in andere Richtungen weiterverfolgt, so durch die Entwicklung einer katholischen Worttheologie, zu der ich einen bescheidenen Beitrag mit dem Buch über „die Theologie des Wortes“ leistete[52], aber ebenso in der die Lehrtradition stärker aufnehmenden „Kleinen Katholischen Dogmatik“ von Johann Auer und Joseph Ratzinger[53] wie durch die auf die Vermittlung zur Moderne hin ausgerichteten Arbeiten von Walter Kasper[54]. Mit solchen Kräften ausgestattet, die vor allem auch von H. U. v. Balthasar mit dem Riesenwerk seiner „Theologischen Ästhetik“[55] verstärkt wurden, erwies sich die Theologie der Konzilszeit und der Zeit unmittelbar danach meines Erachtens als fähig, dem in Deutschland besonders einflußreichen theologischen Existentialismus Rudolf Bultmanns zu begegnen wie auch der 1963 durch das Buch des anglikanischen Bischofs initiierten „Gott-ist-tot-Theologie“ („Honest to God“)[56], die nur eine Episode blieb. Nach meiner Auffassung hat die Theologie in Deutschland diese beiden Herausforderungen bestanden, aufgrund der eindeutigen Übernahme der Konzilsdekrete und ihrer sachgemäßen Weiterentwicklung, auch wenn sich an einigen Punkten manches Hypothesenhafte einstellte. Aber sie trat nun in die nachvatikanische Ära ein, die man umschreiben könnte als 3) Umkehr von der Reform zur Deformierung in der Theologie Es ist nicht leicht, die Ursachen aufzuklären, die bald nach dem Konzil zu einem dramatischen Wandel in der deutschen theologischen Landschaft führten. Hubert Jedin, den ich in Breslau noch hören durfte, bevor er 1939 zur Abfassung der Geschichte des Tridentinums nach Rom ging, datiert den Anfang der Krise auf das Jahr 1968, als auf dem Essener Katholikentag ein Ordensmann die Parole ausgab, daß die Christen Unruhe stifte müßten, und ein Theologiestudent, sicher nicht unabhängig von der Studentenrevolte, die Absetzung des Papstes forderte[57]. Zum Entstehen der Krise trugen gewiß äußerliche wie innere Vorgänge bei, die alle mit einer gewandelten Einstellung zum Zweiten Vatikanum zu tun hatten. Aus der Gesinnung der Reform wurde ein extremer „Reformismus“, aus dem Fortschritt ein „Progressismus“, der sich unreflektiert dem damals häufig gebrauchten Modewort von der „ecclesia semper reformanda“ verschrieb, das wohl von dem holländischen Kalvinisten Voetus (+ 1676) stammte. Es schien mir aber in der modernen Verwendung eine viel radikalere Bedeutung zu gewinnen als bei dem genannten Pietisten, der sonst ein strenger Vertreter der Kirchenzucht und Gegner des damals aufkommenden Cartesianismus war. Vielen von uns wurde es nahezu evident, daß die neue revolutionäre Einstellung tiefere philosophische Wurzeln hatte. Sie war im deutschen Raum vor allem von Fr. Hegel, von dem Kulturphilosophen W. Dilthey (+ 1906) und von der Existentialphilosophie Heideggers beeinflußt. Für Dilthey bedeutete Geschichtlichkeit die aus der Kontingenz des Lebendigen immer wieder zu neuen Gestaltungen drängende Dynamik, die nichts Absolutes, sondern immer nur Relatives in der Welt hervorbringen konnte. Unter diese Relativität fiel auch jede Art von Glauben. Der um die Mitte des Jahrhunderts aus der Schule Heideggers hervorgegangene Philosoph Gerhard Krüger nahm zu dieser Auffassung kritisch Stellung in dem damals viel kolportierten Wort: „Die Geschichte ist unser eigentliches Problem“, ein Wort, das überzeugend wirkte und heute noch gilt. So konnte sich bei vielen der Eindruck befestigen, daß das katholische Denken in Deutschland in den Sog der Geschichtlichkeit hineingeraten war, der, und sei es auch unbewußt, sogar die Grundlage des Glaubens in Mitleidenschaft zog. Diese Kategorie der Geschichtlichkeit konnte sich leicht mit dem vom Deutschen Idealismus betonten Autonomiegedanken verbinden, aber auch den modernen Entwicklungsgedanken an sich ziehen, so daß sich für den Glauben eine schwierige Konstellation ergab. Die daraus resultierenden Probleme tauchten fast gleichzeitig auf vielen Ebenen der katholischen Theologie auf. Auf dogmatischem Gebiet machte einen besonders herausragenden Anfang H. Küng mit seinem im Jahre 1970 erschienenen Buch „Unfehlbar? Eine Anfrage“[58]. Hier wandte sich der Autor mehr im methodischen Vorfeld der Theologie mit dem Autonomiegedanken und mit der Kritik an objektiven Wahrheitsaussagen gegen das Lehramt der Kirche. Es war kein Geringerer als K. Rahner, der in einem Sammelband mit mehreren Theologen unter meiner Mitbeteiligung gegen Küng Stellung nahm und ihn aufgrund seiner Auffassung vom Dogma als liberalen protestantischen Theologen bezeichnete[59]. Die inhaltliche Deformation des Glaubens trat 1974 in dem Buch „Christsein“ deutlicher zutage, weil hier, mit der Christologie, das Zentrum des christlichen Glaubens getroffen und, wie man sagen darf, zerstört wurde. Das wird u. a. klar an der Behauptung über die Präexistenz Christi. Dazu sagt der Autor: „Gerade dieser Gedanke ist heute schwierig zu vollziehen. Die mythischen Vorstellungen der damaligen Zeit von einer vorzeitig-jenseitigen himmlischen Existenz eines von Gott abgeleiteten Wesens, von einer <Göttergeschichte> zwischen zwei (oder gar drei) Gottwesen, können nicht mehr die unseren sein“[60]. Was beim hl. Thomas und der gesamten theologischen Tradition als „ineffabilis unio“ von Gottheit und Menschheit verstanden wurde, war für Küng eine gewöhnliche menschliche Beziehung. „Jesus ist („in einem zutiefst innerlich-existentiellen Sinn“) „ein persönlicher Botschafter, Treuhänder, Vertrauter, Freund Gottes“[61]. So wurde der Grundstein gelegt für die totale Vermenschlichung des Christusgeheimnisses, so daß Christus, wie auch seitens mancher Exegeten, nurmehr als der „menschlichste aller Menschen“ angesehen wurde. Der Einfluß dieses Buches und der anderen Werke Küngs ist bis heute in Deutschland wirksam gebleiben, wie u. a. das Auftreten des Autors auf dem letzten Katholikentag zeigt. Welche innere Dynamik dieser humanistische Jesuanismus zeigte, ist an der persönlichen Entwicklung Küngs abzulesen. Inzwischen vertritt er, den christlichen Ökumenismus als abgeschlossen betrachtend, die Ökumene der Weltreligionen, die so weit geht, daß er in dem Buch „Christentum und Weltreligionen“ (1984) sagen kann: „Wenn ich Jesus als den Christus gewählt habe, habe ich seinen Nachfolger Mohammed mitgewählt“[62]. Von einer anderen Seite empfingen diese Tendenzen zur Entwicklung einer sogenannten „Christologie von unten“, die aber nie zur Anerkennung einer hypostatischen Union gelangen konnten, weil der Ansatz von Endlichkeit sich nicht kontinuierlich ins Unendliche fortsetzen kann, eine noch stärkere biblische Begründung. Das geschah in dem Christusbuch E. Schillebeeckx’. Er zitierte den Ausspruch E. Troeltschs, daß in der „historisch-kritischen Methode eine ganze Weltanschauung“ eingeschlossen sei, was ihn dazu führte, in der Schrift nur die Aussagen über den reinen Menschen Jesus anzuerkennen, an dem ihn nicht einmal so sehr das Personale, sondern die Lebenspraxis interessierte. Sie bestand wesentlich in der Proklamation der auf Menschlichkeit bedachten Gottesherrschaft[63]. Deshalb galt Jesus dem holländischen Theologen nur als „der neue Mensch“, als der „endgültige Mensch“, als „das Urbild aller Menschlichkeit“[64], dessen sozial-politische Kraft von uns vor allem zu beachten sei. An dieser Stelle deutete sich schon der Übergang zur „politischen Theologie“ und „Jesuologie“ an, die in den achtziger Jahren in Deutschland viele Anhänger fand. Das Beispiel Schillebeeckx’ aber leitet zu einem anderen umfassenderen Phänomen über, das von Holland aus mittels der neuen kritischen Theolgie auch Einfluß auf das Leben und die Struktur der Kirche nahm. Es ist das „Holländische Pastoralkonzil“, mit dem wir uns auf Anregung der nordrhein-westfälischen Bischöfe in einem eigenen Buch zu befassen hatten. Das geschah in dem von M. Schmaus und anderen herausgegebenen Sammelwerk „Exempel Holland“[65] (1973). Das Buch konnte den Nachweis führen, daß das „Niederländische Pastoralkonzil“, das in Nordwijkerhout von 1969-1970 tagte, mit seinem Pathos der Erneuerung der Kirche in Wirklichkeit eine radikale Abkehr vom Zweiten Vatikanum darstellte, welches sich ja für eine neue Öffnung und eine Durchdringung der Welt durch die Kirche einsetzte, nicht aber für einen unterschiedslosen Anschluß und Einschluß in die Welt. Was hier in Szene gesetzt wurde, war eine direkte Umfunktionierung der Kirche zu einer religiös-sozialen Institution, angefangen bei der Einstufung des Papstes als „Universalsekretär der Kirche“ bis hin zur Forderung nach den Laien als Mitkonsekratoren der Eucharistie zur „Aufhebung des Klassenunterschiedes in der Kirche“[66], wozu später auch Leonhard Boff aufrief, unter Berufung auf den marxistischen Humanismus[67]. Die dem zugrundeliegende Auffassung vom Wesen des christlichen Glaubens ging dahin, daß der Glaube einerseits das Vertrauen auf Gottes Gnade und Barmherzigkeit bedeute, andererseits und vor allem aber „Einsatz für den Mitmenschen“ sei. Dem entsprach das damals die innerkirchliche Diskussion beherrschende Schlagwort vom Vorrang der „Orthopraxie“. Das Pastoralkonzil bot aber auch ein Spiegelbild für die inzwischen in die Breite des Kirchenvolkes hineinwirkende neue Moral, d. h. die autonome Moral. Mit der Leugnung eines spezifisch christlichen Ethos auf dem holländischen Konzil ging Hand in Hand die Reduzierung des natürlichen Ethos auf „das freie schöpferische Gewissen des Menschen“[68], das als einzige Norm die Liebe anerkennt, dies aber in einem rein formalen, inhaltlosen Sinne. Das Zweite Vatikanum hatte im „Dekret über die Priesterausbildung“ (Optatam totius, 16) die Forderung nach der „Vervollkommnung der Moraltheologie“ aus der Lehre der Schrift und aus der „Erhabenheit der Berufung der Gläubigen in Christus“ erhoben. Die deutsche Moraltheologie antwortete darauf mehrheitlich mit der Entwicklung einer Moral, welche auf die Profanität der modernen Gesellschaft Rücksicht nehmen müsse. Deshalb mußte das neue Ethos menschlich und nicht unterscheidend christlich sein. Die damit verbundene Erhebung des Gewissens zum schöpferischen Prinzip und das Prinzip der Güterabwägung mußten zu einer Distanzierung vom kirchlichen Lehramt führen, dem in der „Fundamentalmoral“ Franz Böckles gerade noch „ein Mitspracherecht im Bereich der sittlichen Vernunft“[69] zugebilligt wurde, aber kein eigentliches Entscheidungsrecht. Die religiös-theologische Situation in Deutschland wurde so besorgniserregend, daß Kardinal Joseph Höffner beim ersten Papstbesuch in Deutschland im November 1980 in seinem Grußwort an den Heiligen Vater von einem „verhängnisvollen Traditionsbruch“ sprach, „der Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre unser Volk erschütterte“[70]. Das Fatale an dieser Feststellung lag nur daran, daß die Bischöfe nicht erkannten, wie sie selbst in diesen Fluß der Auflösung hineingerissen wurden und, sei es durch Inaktivität oder falsche Aktivität wie im Falle der Königsteiner Erklärung[71], der Zulassung der geschiedenen Wiederverheirateten zur Eucharistie[72] wie des Unterlaufens der päpstlichen Weisungen zur Schwangerschaftsberatung der Auflösung Vorschub leisteten. Sie hat heute einen so subtilen Charakter angenommen, daß in dieser Frage die Bischöfe sich selbst zwar der kirchlichen Lehre beugen, von den Laien aber sagen, sie seien an diese päpstlichen Entscheidungen nicht gebunden. Ein bekannter katholischer Religionsphilosoph hat diese und ähnliche Anzeichen der Verselbständigung der deutschen Theologie und Kirche zum Anlaß genommen, von einem „vertikalen Schisma“ zu sprechen, wobei der hintergründige Sinn dieser Formel dahin geht, daß dieses „Schisma“ selbstverständlich „von oben“ verursacht sei. Auch die dogmatische Theologie ist weithin in den Sog dieser Abfallbewegung vom Zweiten Vaikanum hineingeraten. Zwar versucht man immer wieder, an gewissen als geeignet angesehenen Wahrheiten des Zweiten Vatikanums anzuknüpfen, so in der Lehre von der Kirche als „Communio“[73]. Aber wenn der Begriff der „Communio“, der bekanntlich schon auf dem Zweiten Vatikanum von Paul VI. in der „nota praevia“ zu „Lumen gentium“ genauer bestimmt werden mußte[74], die in ihm enthaltenen Momente des Organismuscharakters und der rechtlichen Gestalt der Communio nicht mehr ausgedrückt, wenn an die Stelle der „communio hierarchica“ (PO, 15) die sogenannte „geschwisterliche Kirche“ gesetzt wird als Stiftung zwischenmenschlicher Gemeinschaft im Geiste Jesu, wenn sie als innerweltlich-demokratische Bruderschaft in Form einer Konsens-Demokratie verstanden wird, dann ist das Wesen der „communio ecclesiastica“ (UR, 20) aufgegeben. Tatsächlich schreitet vor allem die von Laien betriebene Theologie, aber auch die Universitätstheologie in Richtung einer Demokratisierung der Kirche mit den dazugehörigen Forderungen nach der Abschaffung des Zölibats und nach der Einführung des Frauenpriestertums entschieden voran[75]. Im Zusammenhang mit der Unterzeichnung der „Gemeinsamen Erklärung in der Rechtfertigungslehre“ forderte ein katholischer Theologe, hier das protestantische Wesen der Rechtfertigung ganz ernst nehmend, die „ekklesiologischen Konsequenzen zu ziehen“ und nicht so zu tun, als ob jetzt die Gestalt der Kirche nicht zur Disposition stünde[76]. Wie sehr dabei auch die Theologie ihre Aufgabe demokratisch versteht, nämlich als berechtigte Opposition zum Lehramt, zeigt ihre geradezu schon wie ein eingeführtes Ritual ablaufende Gegnerschaft zu jedem vom päpstlichen Lehramt kommenden Dokument, und handle es sich auch um absolut verbindliche, endgültige Entscheidungen wie beim Apostolischen Schreiben „Ordinatio sacerdotalis“ über die nur Männern vorbehaltene Priesterweihe (22.5.1994) oder bei dem als Motu proprio veröffentlichten Apostolischen Schreiben „Ad tuendam fidem“ (18.5.1998) oder zuletzt bei der Erklärung „Dominus Jesus“ der Glaubenskongregation (6.8.2000)[77]. Die letztgenannte Erklärung kritisierte die Arbeitsgemeinschaft der Dogmatiker und Fundamentaltheologen des deutschen Sprachraums (wörtlich) wegen der „restriktiven Auslegung des Zweiten Vatikanischen Konzils“ (ohne jegliche Beweisangabe). Sie behauptete ferner, daß das Zweite Vatikanum durchaus die Möglichkeiten eröffnet, auch reformatorische Glaubensgemeinschaften als Kirchen anzuerkennen, was das Zweite Vatikanum ausdrücklich ausschloß. Das Bekenntnis zur Einzigkeit Christi und der Kirche wird hier als fundamentalistisch disqualifiziert. All das geschieht immer mit dem Anspruch höchster Wissenschaftlichkeit. Bei genauerem Hinblick stellt man aber fest, daß der Terminus Glaubenswissenschaft immer mehr außer Gebrauch kommt. Mit dem Einschwenken auf die pluralistische Theologie der Religionen nähert sich diese Theologie tatsächlich der Religionswissenschaft, die ohne Glaube und Bekenntnis auskommt. Sie geht bei dem katholischen Theologen Perry Schmidt-Leukel so weit, daß er Christus nur noch als einen Mittler unter vielen ansieht[78]. Will man diesen Bericht über die persönlichen Erfahrungen mit der Theologie des vergangenen halben Jahrhunderts am Ende in ein Bild fassen, so läßt sich sagen: Es war ein Weg von einer Ebene mit geringen Erhebungen zu einem verheißungsvollen Gipfel mit einem Abstieg in ein tiefes Tal.
Damit ist nicht behauptet, daß in der
systematischen Theologie keine wissenschaftliche Arbeit mehr geleistet
würde und keine nennenswerten Leistungen erbracht würden. Gegen eine
solche Beurteilung spricht allein schon das in dritter Auflage
erscheinende „Lexikon für Theologie und Kirche“[79].
Ein anderes, aus der Vielzahl herausgegriffenes Beispiel bietet etwa das
vierbändige „Handbuch der Fundamentaltheologie“[80].
[1] A. Kolping, Katholische Theologie gestern und heute, Bremen 1964, 163-165. [2] D. Berger (Hrsg.), Die Enzyklika „Humani Generis“ Papst Pius’ XII., Köln 2000. [3] Erste Auflage München 1938. [4] Gaudium et Spes, 44. [5] A. Kolping, 135. [6] Theologie in Geschichte und Gegenwart (hrsg. von J. Auer und H. Volk), München 1957. [7] Ebda., 697-724. [8] O. Semmelroth, Personalismus und Sakramentalismus: l. c., 199-218. [9] H. Volk, L. c. 219-236. [10] Cf. H. Kuhn, Romano Guardini - Philosoph der Sorge, St. Ottilien 1987. [11] Cf. Marienlexikon I, St. Ottilien 1988, 106f. [12] L. Scheffczyk, Das Mariengeheimnis in Lehre und Frömmigkeit der Karolingerzeit, Leipzig 1959. [13] Sechs Bände, St. Ottilien 1988-1994. [14] Cf. A. Gläßer, Die Struktur der Weltsumme Pierre Teilhards de Chardin, Kevelaer 1970. [15] Fragen zur Eucharistie (hrsg. von M. Schmaus), München 1960, 156-197. [16] L. c., 190-195. [17] Fragen der Theologie heute (hrsg. von Feiner - Trütsch - Böckle), Einsiedeln 1957. [18] L. c., 403. [19] Schriften zur Theologie I, Einsiedeln 1954, 323-345. [20] München 1966. [21] L. c., 7. [22] L. c., 10-29. [23] L. c., 105. [24] Das Zweite Vatikanische Konzil I-III, Freiburg 1966-1968. [25] L. c., I, 21. [26] L. c., I, 43. [27] L. c., I, 69. [28] L. c., I, 175. [29] L. c., I, 177. [30] L. c., I, 329. [31] L. c., II, 72. [32] L. c., II, 119. [33] L. c., II, 484. [34] L. c., II, 516. [35] L. c., II, 589. [36] L. c., II, 635. [37] L. c., II, 660. [38] L. c., III, 321. [39] L. c., III, 320. [40] Cf. Schriften zur Theologie I, Einsiedeln 1954, 9-47. [41] Einsiedeln - Zürich- Köln, 1965ff. [42] L. c., II, 441ff. [43] L. c., II, 441ff. [44] L. c., III/2, 58ff. [45] L. c., IV/1, 287ff. [46] L. c., V, 781ff. [47] L. c., II, 327ff. [48] L. c., II, 890ff. [49] L. c., III/1, 494. [50] L. c., III/2, 239ff. [51] L. c., V, 881ff. [52] L. Scheffczyk, Von der Heilsmacht des Wortes, München 1966. [53] Kleine Katholische Dogmatik, Regensburg 1971-1983. [54] Cf. Jesus der Christus, Mainz 51976. [55] Cf. die Zusammenfassung: Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, 3 Bd.e, 21969-1975. [56] J. A. T. Robinson, Gott ist anders, München 61964. [57] H. Jedin, Lebenschronik (hrsg. von K. Repgen), Mainz 1984, 220. [58] Köln 21970. [59] Zum Problem Unfehlbarkeit. Antworten auf die Anfrage H. Küngs (Quaest. disp. 54), Freiburg 1971, 32. [60] H. Küng, Christsein, München 1974, 436. [61] L. c., 307. [62] München 1984, 200. [63] Jesus. Die Geschichte von einem Lebenden, Freiburg 1975, 124. [64] L. c., 532. [65] Exempel Holland. Theologische Analyse und Kritik des Niederländischen Pastoralkonzils (hrsg. von M. Schmaus, L. Scheffczyk, J. Giers), Berlin 1973. [66] L. c., 132; 142. [67] L. Boff, Kirche, Charisma und Macht, Petropolis 1981. [68] Exempel Holland, 201. [69] Fr. Böckle, Fundamentalmoral, München 1977, 324. [70] Papst Johannes Paul II. in Deutschland. Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 25, Bonn 1980, 118. [71] Wort der deutschen Bischöfe zur seelsorglichen Lage nach dem Erscheinen der Enzyklika „Humanae Vitae“ vom 30. August 1968. [72] Cf.: Die Bischöfe der oberrheinischen Kirchenprovinz, Zur seelsorglichen Begleitung von Menschen aus zerbrochenen Ehen, Geschiedenen und Wiederverheirateten Geschiedenen, Freiburg i.Br. - Mainz, Stuttgart Rottenburg vom 10. Juli 1993. [73] Cf. Lumen Gentium, 21; 22; 24; 50; 51. [74] Erläuternde Vorbemerkung, 2. [75] Cf. dazu L. Scheffczyk, Gott gleicherweise Vater und Mutter?: Mein Vater, euer Vater (hrsg. von A. Ziegenaus), Buttenwiesen 2000, 59-77. [76] Cf. B. J. Hilberath, Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre aus römisch-katholischer Sicht: Zur Zukunft der Ökumene (hrsg. von B. J. Hilberath und W. Pannenberg), Regensburg 1999, 97. [77] Einführung zur Ausgabe im Christiana-Verlag, Stein a.Rh. 2000, 6-10. [78] P. Schmidt-Leukel, Theologie der Religionen, Neuwied 1997, 576. [79] Freiburg 1993ff. [80] hrsg. von W. Kern, H. J. Pottmeyer, M. Seckler (Freiburg 1985ff.). [81] I,8. [82] I,174.
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