Frieden sei mit den Brüdern und Schwestern, „Liebe und
Glaube von Gott, dem Vater, und Jesus Christus, dem Herrn. Gnade
und unvergängliches Leben sei mit allen, die Jesus Christus,
unseren Herrn lieben“. Mit diesem innigen und leidenschaftlichen
Gruß schloss der hl. Paulus seinen Brief an die Epheser (6,
23-24). Mit eben diesen Worten beginnen wir Synodenväter, die
wir zur XII. Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode
in Rom unter der Leitung des Heiligen Vaters Benedikt XVI.
versammelt sind unsere Botschaft, die an den unermesslichen
Horizont all derer gerichtet ist, die in den verschiedenen
Regionen der Welt Christus als Jünger nachfolgen und fortfahren,
ihn mit unerschütterlicher Liebe zu lieben.
Ihnen stellen wir erneut die Stimme und das Licht des Wort
Gottes vor und wiederholen den alten Aufruf: „Das Wort ist ganz
nah bei dir, es ist in deinem Mund und in deinem Herzen, du
kannst es halten“ (Dtn 30, 14). Und Gott selbst wird zu jedem
sagen: „Menschensohn, nimm alle meine Worte, die ich dir sage,
mit deinem Herzen auf, und höre mit deinen Ohren“ (Ez 3, 10).
Allen schlagen wir jetzt eine geistige Reise vor, die sich in
drei Etappen vollzieht und von der Ewigkeit und Unendlichkeit
Gottes in unsere Wohnstätten und ent der Straßen unserer Städte
führen wird.
I. DIE STIMME DES WORTES: DIE OFFENBARUNG
1. „Der Herr sprach zu euch mitten aus dem Feuer. Ihr hörtet den
Donner der Worte. Eine Gestalt habt ihr nicht gesehen. Ihr habt
nur den Donner gehört“ (Dt 4, 12). Und Moses, der spricht,
spielt auf die Erfahrung an, die Israel in der herben Einsamkeit
der Wüste Sinai gemacht hat. Der Herr hatte sich nicht als Bild
oder Darstellung oder als Statue gezeigt, ähnlich wie das
goldene Kalb, sondern als “Donner der Worte”. Es ist eine Stimme,
die zu Beginn der Schöpfung in Erscheinung getreten war, als sie
das Schweigen des Nichts zerriss: „Im Anfang ... sprach Gott: Es
werde Licht! Und es wurde Licht ... Im Anfang war das Wort ...
und das Wort war Gott ... Alles ist durch das Wort geworden, und
ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist“ (Gen 1, 1.3; Joh
1, 1.3).
Die Schöpfung entsteht nicht aus einem Kampf zwischen Gottheiten
- wie die antike mesopotamische Mythologie lehrte - sondern aus
einem Wort, das das Nichts besiegt und das Sein erschafft. Der
Psalmist singt: „Durch das Wort des Herrn wurden die Himmel
geschaffen, ihr ganzes Heer durch den Hauch seines Mundes ...
Denn der Herr sprach, und sogleich geschah es; er gebot, und
alles war da“ (Ps 33, 6.9). Und der hl. Paulus wird wiederholen:
„Gott ist es, der die Toten lebendig macht und das, was nicht
ist, ins Dasein ruft“ (Röm 4, 17). So gibt es eine erste
“kosmische” Offenbarung, die die Schöpfung einem vor der
gesamten Menschheit aufgeschlagenen Buch ähnlich erscheinen
lässt, die in ihm eine Botschaft des Schöpfers lesen kann: „Die
Himmel rühmen die Herrlichkeit Gottes, vom Werk seiner Hände
kündet das Firmament. Ein Tag sagt es dem andern, eine Nacht tut
es der anderen kund, ohne Worte und ohne Reden, unhörbar bleibt
ihre Stimme. Doch ihre Botschaft geht in die ganze Welt hinaus,
ihre Kunde bis zu den Enden der Erde“ (Ps 19, 2-5).
2. Das göttliche Wort steht jedoch auch am Ursprung der
menschlichen Geschichte. Der Mann und die Frau, die „das Bild
Gottes und ihm ähnlich“ sind (Gen 1, 27) und die also in sich
das Abbild Gottes tragen, können mit ihrem Schöpfer in einen
Dialog eintreten oder sich von ihm entfernen und ihn durch die
Sünde zurückweisen. Das Wort Gottes erlöst und richtet also,
dringt ein in den Lauf der Geschichte mit ihrem Netz von
Tätigkeiten und Geschehnissen: „Ich habe das Elend meines Volkes
in Ägypten gesehen, und ihre laute Klage ...habe ich gehört. Ich
kenne ihr Leid. Ich bin herabgestiegen, um sie der Hand der
Ägypter zu entreißen und aus jenem Land hinaufzuführen in ein
schönes, weites Land ...“ (Ex 3, 7-8). Es gibt folglich eine
göttliche Präsenz in den menschlichen Angelegenheiten, die durch
das Eingreifen des Herrn in die Geschichte in einen größeren
Heilsplan eingefügt werden, damit „alle Menschen gerettet werden
und zur Erkenntnis der Wahrheit geen“ (1 Tim 2, 4).
3. Das machtvolle göttliche Wort, schöpferisch und erlösend,
steht folglich am Beginn des Seins und der Geschichte, der
Schöpfung und der Erlösung. Der Herr kommt der Menschheit
entgegen und verkündet: „Ich habe gesprochen, und ich führe es
aus“ (Ez 37, 14). Es gibt jedoch einen weiteren Schritt, den die
göttliche Stimme verfolgt: es ist der des geschriebenen Wortes,
die Graphé oder die Graphai, die Heiligen Schriften, wie es im
Neuen Testament heißt. Schon Mose war vom Gipfel des Sinai herab
gestiegen und hielt „die zwei Tafeln der Bundesurkunde in der
Hand, die Tafeln, die auf beiden Seiten beschrieben waren. Auf
der einen wie auf der anderen Seite waren sie beschrieben. Die
Tafeln hatte Gott selbst gemacht, und die Schrift, die auf den
Tafeln eingegraben war, war Gottes Schrift“ (Ex 32, 15-16). Und
eben dieser Moses wird Israel auferlegen, diese “Tafeln der
Bundesurkunde” aufzuheben und abzuschreiben. „Und auf die Steine
sollst du in schöner Schrift alle Worte dieser Weisung schreiben“
(Dt 27, 8).
Die Heiligen Schriften sind das „Zeugnis“des göttlichen Wortes
in schriftlicher Form, sie sind kanonisches, historisches und
literarisches Denkmal, das das Ereignis der schöpferischen und
erlösenden Offenbarung bezeugt. Das Wort Gottes geht also der
Bibel voraus und über die Bibel hinaus, die auch „von Gott
inspiriert“ ist und das wirkende göttliche Wort enthält (vgl. 2
Tim 3, 16). Und aus diesem Grund steht im Mittelpunkt unseres
Glaubens nicht nur ein Buch, sondern eine Geschichte der
Erlösung und, wie wir sehen werden, eine Person, Jesus Christus,
Gottes Wort, das Fleisch, Mensch, Geschichte geworden ist. Eben
gerade weil der Horizont des Wortes Gottes umfassend ist und
über die Bibel hinaus geht, ist die beständige Gegenwart des
Heiligen Geistes notwendig, der denjenigen, der die Bibel liest,
„in die ganze Wahrheit führt“ (Joh 16, 13). Es ist dies die
große Tradition, wirksame Gegenwart des „Geistes der Wahrheit“
in der Kirche, Hüterin der Heiligen Schriften, authentisch
interpretiert durch das Lehramt der Kirche, zum Verständnis, zur
Kommunikation und zur Bezeugung des Wortes Gottes befähigt. Der
hl. Paulus selbst wird, wenn er das erste christliche Credo
verkündet, anerkennen, dass er das „überliefert“, was auch er
von der Tradition „empfangen“ hat (1 Kor 15, 3-5).
II. DAS ANTLITZ DES WORTES: JESUS CHRISTUS
4. Im griechischen Original sind es nur drei grundlegende Worte:
Lógos sarx eghéneto, „der Logos/das Wort wird Fleisch“. Und dies
ist nicht nur der Höhepunkt jenes poetischen und theologischen
Juwels, den der Prolog des Johannesevangeliums darstellt (1,
14), sondern es ist das Herz des christlichen Glaubens. Das
ewige und göttliche Wort tritt ein in Raum und Zeit und nimmt
ein Antlitz und eine menschliche Identität an, und so ist es
wirklich möglich, sich ihm zu nähern und ihn direkt zu fragen,
wie es jene Gruppe von Griechen tat, die sich in Jerusalem
aufhielten: „Wir wollen Jesus sehen“ (Joh 12, 20-21). Die Worte
ohne ein Antlitz sind nicht vollkommen, weil sie die Begegnung
nicht vollständig sein lassen, wie Ijob am Ende seiner
dramatischen Suche sagte: „Vom Hörensagen nur hatte ich von dir
vernommen; jetzt aber hat mein Auge dich geschaut“ (42, 5).
Christus ist „das Wort, das bei Gott ist und Gott ist“, und „das
Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen
Schöpfung“ (Kol 1, 15); aber er ist auch Jesus von Nazareth, der
durch die Straßen einer entlegenen Provinz des römischen Reiches
geht, der eine lokale Sprache spricht, die die Züge eines Volkes,
des jüdischen, und seiner Kultur trägt. Der reale Jesus Christus
ist folglich verletzlicher und sterblicher Leib, er ist
Geschichte und menschliche Natur, aber auch Ruhm, Göttlichkeit,
Geheimnis: Derjenige, der uns Gott offenbart hat, den niemand je
gesehen hat (vgl. Joh 1, 18). Der Sohn Gottes bleibt Sohn Gottes,
auch als Leichnam, der im Grab liegt, und die Auferstehung ist
dessen lebendiger und wirksamer Beweis.
5. Die christliche Tradition hat oft das göttliche Wort, das
Fleisch wird, dem Wort, das Buch wird, gegenübergestellt. Das
tritt schon im Credo hervor, wenn bekannt wird, dass der Sohn
Gottes „Fleisch angenommen hat durch den Heiligen Geist von der
Jungfrau Maria“, aber man auch den Glauben an jenen „Heiligen
Geist, der durch die Propheten gesprochen hat“, bekennt. Das
Zweite Vatikanum nimmt diese alte Tradition auf, nach der „der
Leib des Sohnes die Schrift ist, die uns überliefert ist“ - wie
der hl. Ambrosius sagt (In Lucam VI, 33) - und erklärt mit
deutlichen Worten: „Denn Gottes Worte, durch Menschenzunge
formuliert, sind menschlicher Rede ähnlich geworden, wie einst
des ewigen Vaters Wort durch die Annahme menschlich-schwachen
Fleisches den Menschen ähnlich geworden ist“ (DV 13).
Die Bibel ist in der Tat auch „Fleisch“, „Buchstabe“, sie drückt
sich aus in einzelnen Sprachen, in literarischen und
historischen Formen, in Begriffen, die gebunden sind an eine
antike Kultur, sie bewahrt Erinnerungen an oft tragische
Ereignisse, ihre Seiten sind nicht selten mit Blut und Gewalt
befleckt, in ihrem Innern hallt das Lachen des Menschen wider
und fließen die Tränen, so wie sich das Gebet der Unglücklichen
und der Jubel der Verliebten erhebt. Wegen dieser „fleischlichen“
Dimension erfordert sie eine historische und literarische
Analyse, die durch die verschiedenen von Bibelexegese
angebotenen Methoden und Annäherungsweisen verwirklicht wird.
Jeder Leser der Heiligen Schriften, auch der einfachste, muss
eine angemessene Kenntnis des heiligen Textes haben und sich
klar machen, dass das Wort in konkrete Wörter gekleidet ist,
denen es sich ausliefert und anpasst, um für die Menschheit
hörbar und verständlich zu sein.
Dies ist eine unausweichliche Aufgabe: Wenn man sie ausschließt,
kann man in den Fundamentalismus abgleiten, der praktisch die
Fleischwerdung des göttlichen Wortes in der Geschichte verneint,
nicht anerkennt, dass jenes Wort sich in der Bibel ausdrückt im
Sinne einer menschlichen Sprache, die entziffert, studiert und
verstanden werden muss, und ignoriert, dass die göttliche
Inspiration nicht die historische Identität und die der
Persönlichkeit der menschlichen Autoren ausgelöscht hat. Die
Bibel ist jedoch auch das ewige und göttliche Wort und erfordert
deshalb ein anderes Verständnis, das vom Heiligen Geist gegeben
wird, der die transzendente Dimension des Gotteswortes enthüllt,
das in den menschlichen Worten gegenwärtig ist.
6. Hier sind also die „lebendige Überlieferung der Gesamtkirche“
(DV 12) und der Glaube notwendig, um im einzigen und vollen Sinn
die Heiligen Schriften zu verstehen. Wenn man bei dem bloßen
“Buchstaben” stehen bleibt, bleibt die Bibel nur ein feierliches
Dokument der Vergangenheit, ein edles ethisches und kulturelles
Zeugnis. Wenn man jedoch die Inkarnation ausschließt, kann man
in das Missverständnis des Fundamentalismus verfallen oder einen
vagen Spiritualismus oder Psychologismus. Die exegetische
Kenntnis muss folglich unauflösbar mit der spirituellen und
theologischen Tradition verbunden sein, damit die göttlich-menschliche
Einheit Jesu Christi und der Heiligen Schriften nicht zerbrochen
wird.
In dieser wieder gewonnen Harmonie wird das Antlitz Christi in
seiner Gänze wieder erstrahlen und uns helfen, eine andere
Einheit zu entdecken, jene tiefe und innere Einheit der Heiligen
Schiften, ihr Wesen, 73 Bücher, aber zusammengefasst zu einem
einzigen „Kanon“, zu einem einzigen Dialog zwischen Gott und der
Menschheit, zu einem einzigen Heilsplan. „Viele Male und auf
vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch
die Propheten; in dieser Endzeit aber hat er zu uns gesprochen
durch den Sohn“ (Hebr 1, 1-2). Christus wirft auf diese Weise im
Nachhinein sein Licht auf den gesamten Weg der Heilsgeschichte
und enthüllt deren Folgerichtigkeit, Bedeutung und Richtung.
Er ist das Siegel, „das Alpha und das Omega“ (Apg 1, 8) eines
Dialoges zwischen Gott und seinen Geschöpfen durch die Zeit
hindurch und in der Bibel bezeugt. Im Licht dieser endgültigen
Besiegelung erhalten die Worte des Mose und der Propheten ihren
„vollen Sinn“, wie Jesus selbst an jenem frühlingshaften
Nachmittag angedeutet hatte, während er von Jerusalem nach
Emmaus unterwegs war und mit Kleopas und seinem Freund sprach,
und „ihnen darlegte, was in der gesamten Schrift über ihn
geschrieben steht“ (Lk 24, 27).
Eben gerade weil im Zentrum der Offenbarung das göttliche Wort
steht, das ein Antlitz hat, ist das letzte Ziel der Kenntnis der
Bibel „nicht ein ethischer Entschluss oder eine große Idee,
sondern die Begegnung mit einem Ereignis, mit einer Person, die
unserem Leben einen neuen Horizont und damit seine entscheidende
Richtung gibt“ (Deus caritas est, 1).
III. DAS HAUS DES WORTES: DIE KIRCHE
Wie sich die göttliche Weisheit im Alten Testament ihr von
sieben Säulen gestütztes Haus (vgl. Spr 9, 1) in der Stadt der
Männer und Frauen errichtet hatte, so hat auch das Wort Gottes
sein Haus im Neuen Testament: Es ist die Kirche, die ihr Vorbild
in der Urgemeinde von Jerusalem hat, die auf Petrus und die
Apostel gegründet ist (LG 13) und heute durch die Bischöfe, die
um den Nachfolger Petri versammelt sind, führt die Aufgabe
weiter, Hüterin, Verkündigerin und Interpretin des Wortes zu
sein. In der Apostelgeschichte (2, 42) zeichnet Lukas ihre
Architektur nach, die auf vier ideellen Säulen ruht. Sie werden
auch heute noch von den verschiedenen Formen kirchlicher
Gemeinschaft bezeugt: „Sie hielten an der Lehre der Apostel fest
und an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und an den
Gebeten“.
7. Vor allem ist da die apostolische didaché, das heißt die
Verkündigung des Wortes Gottes. Der Apostel Paulus ermahnt uns
in der Tat, dass „der Glaube in der Botschaft gründet, die
Botschaft im Wort Christi“ (Röm 10, 17). Aus der Kirche erhebt
sich die Stimme des Boten, der allen das kérygma vorlegt oder
die erste und grundlegende Verkündigung, die Jesus selbst am
Beginn seines öffentlichen Wirkens ausgesprochen hatte: „Die
Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und
glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1, 15). Die Apostel verkünden den
Anbruch des Reiches Gottes und damit den entscheidenden
göttlichen Eingriff in die menschliche Geschichte, indem sie Tod
und Auferstehung Christi verkünden: „Und in keinem anderen ist
das Heil zu finden. Denn es ist uns Menschen kein anderer Name
unter dem Himmel gegeben, durch den wir gerettet werden sollen“
(Apg 4, 12).
Der Christ gibt von dieser seiner Hoffnung „bescheiden,
ehrfürchtig und mit reinem Gewissen“ Zeugnis; er flieht nicht
vor dem Sturm der Zurückweisung oder Verfolgung, auch wenn er
vielleicht von ihm überrollt wird, denn er ist sich bewusst,
dass „es besser ist, für gute Taten zu leiden als für böse“ (vgl.
1 Petr 3, 16-17).
In der Kirche erklingt dann die Katechese: sie ist dazu bestimmt,
im Christen „das Geheimnis Christi im Licht der Heiligen Schrift“
zu vertiefen, „damit der ganze Mensch hiervon geprägt wird“
(Johannes Paul II., Catechesi tradendae, 20). Aber der Höhepunkt
der Verkündigung ist die Predigt, die auch heute noch für viele
Christen der wichtigste Moment der Begegnung mit dem Wort Gottes
ist. Wenn er predigt, sollte der Priester auch Prophet sein.
Denn er muss nicht nur mit Autorität und in klar verständlicher,
einprägsamer und gehaltvoller Sprache die „Wundertaten Gottes in
der Geschichte des Heils“ (SC, 35) verkünden - zunächst in einer
deutlichen und lebendigen Darbietung des von der Liturgie
vorgesehenen biblischen Textes -, sondern er muss sie auch im
Hinblick auf die von den Zuhörern erlebten Zeiten und
Situationen aktualisieren und in ihrem Herzen die Frage der
Bekehrung und des Engagements in ihrem Leben aufkommen lassen: „Was
sollen wir tun?“ (Apg 2, 37).
Verkündigung, Katechese und Homilie setzen also Lesen und
Verstehen, Erklären und Auslegen, Einbeziehung von Herz und
Verstand voraus. In der Predigt vollzieht sich so eine zweifache
Bewegung. Mit der ersten geht man zurück zur Wurzel der heiligen
Texte, der Ereignisse, der Heilsgeschichte bewirkenden Worte, um
ihre Bedeutung und Botschaft zu verstehen. Mit der zweiten
Bewegung kehrt man wieder in die Gegenwart zurück, dem gelebten
Heute dessen, der hört und liest, immer im Licht Christi, der
wie eine leuchtende Spur die Schriften eint. Es ist das, was
Jesus selbst - wie schon erwähnt - in Begleitung zweier seiner
Jünger auf dem Weg von Jerusalem nach Emmaus getan hat. Und
dasselbe wird der Diakon Philippus auf dem Weg von Jerusalem
nach Gaza tun, als er mit dem äthiopischen Hofbeamten jenen
emblematischen Dialog beginnt: „Verstehst du auch, was du liest?
... Wie könnte ich es, wenn mich niemand anleitet?“ (Apg 8,
30-31). Und das Ziel wird die vollkommene Begegnung mit Christus
im Sakrament sein. So stellt sich die zweite Säule dar, die die
Kirche trägt, das Haus des göttlichen Wortes.
8. Es ist das Brechen des Brotes. Die Szene von Emmaus (Lk 24,
13-35) ist erneut beispielhaft und stellt das dar, was jeden Tag
in unseren Kirchen geschieht: Der Predigt Jesu über Mose und die
Propheten folgt das Brechen des eucharistischen Brotes am Tisch.
Das ist der Augenblick eines vertrauten Dialogs Gottes mit
seinem Volk, es ist der Akt des im Blut Christi besiegelten
Neuen Bundes (Lk 22, 20), es ist das höchste Werk des göttlichen
Wortes, das sich in seinem geopferten Leib als Speise darbietet
und die Quelle und der Höhepunkt des Lebens und der Mission der
Kirche.
Der Evangelienbericht vom Letzten Abendmahl, Gedächtnis des
Opfers Christi, wird Ereignis und Sakrament, wenn er unter
Anrufung des Heiligen Geistes in der Eucharistiefeier verkündet
wird. Deshalb hat das Zweite Vatikanische Konzil in einem
Abschnitt von eindringlicher Intensität erklärt: „Die Kirche hat
die Heiligen Schriften immer verehrt wie den Herrenleib selbst,
weil sie, vor allem in der heiligen Liturgie, vom Tisch des
Wortes Gottes wie des Leibes Christi ohne Unterlaß das Brot des
Lebens nimmt und den Gläubigen reicht“ (DV 21). Deshalb sollte
man in den Mittelpunkt des christlichen Lebens „Wortgottesdienst
und Eucharistiefeier“ stellen, die „so eng miteinander verbunden
sind, dass sie einen einzigen Kultakt ausmachen“ (SC 56).
9. Die dritte Säule des geistlichen Gebäudes der Kirche, dem
Haus des Wortes, besteht aus den Gebeten, die - wie der heilige
Paulus erinnerte - durchflochten sind von „Psalmen, Hymnen und
Liedern“ (Kol 3, 16). Eine privilegierte Stelle nimmt sicherlich
das Stundengebet ein, das Gebet der Kirche schlechthin, dazu
bestimmt, den Tagen und Zeiten des christlichen Jahres seinen
Rhythmus zu verleihen und besonders durch den Psalter dem
Gläubigen die tägliche geistliche Nahrung anzubieten. Daneben
und neben den gemeinschaftlichen Wort-Gottes-Feiern hat die
Tradition die Praxis der Lectio divina eingeführt, die betende
Lesung im Heiligen Geist, die fähig ist, dem Gläubigen den
Schatz des Wortes Gottes zu eröffnen, aber auch Begegnung mit
Christus, dem lebendigen göttlichen Wort, zu bewirken.
Sie beginnt mit der Lektüre (lectio) des Textes, die eine Frage
der echten Kenntnis seines wirklichen Inhalts hervorruft: Was
sagt der biblische Text an sich? Es folgt die Meditation (meditatio),
bei der die Frage lautet: Was sagt uns der biblische Text? So
get man zum Gebet (oratio), das eine weitere Frage voraussetzt:
Was sagen wir zum Herrn als Antwort auf sein Wort? Und sie
schließt mit der Kontemplation (contemplatio), während der wir
als Geschenk Gottes die Realität mit seinem Blick betrachten und
uns fragen: Um welche Bekehrung des Geistes, des Herzens und des
Lebens bittet der Herr uns?
Vor dem betenden Leser des Wortes Gottes steht im Geist die
Gestalt Marias, der Mutter des Herrn, die „alles, was geschehen
war in ihrem Herzen bewahrte und darüber nachdachte“ (Lk 2, 19;
vgl. 2, 51), das heißt - wie es das griechische Original
ausdrückt - sie fand den tiefen Kern, welcher scheinbar
unverbundene Ereignisse, Taten und Dinge im großen Plan Gottes
verbindet. Vor den Augen des Gläubigen, der die Bibel liest,
könnte auch Maria, die Schwester Martas stehen, die sich im
Hören auf sein Wort zu Füßen des Herrn niederlässt und nicht
zulässt, dass die äußere Unruhe die Seele vollkommen gefangen
nimmt und so auch den für das “Bessere” freien Raum erfüllt, der
uns nicht genommen werden darf (vgl. Lk 10, 38-42).
10. Schließlich stehen wir vor der letzten Säule, die die Kirche,
das Haus des Wortes, stützt: die koinonía, die brüderliche
Gemeinschaft, ein anderes Wort für agápe, das heißt für die
christliche Liebe. Denn es ist so, wie Jesus uns sagt: Um seine
Brüder und Schwestern zu werden, muss man unter denen sein, „die
das Wort Gottes hören und danach handeln“ (Lk 8, 21). Echtes
Hören heißt zu gehorchen und zu handeln, es heißt im Leben
Gerechtigkeit und Liebe walten zu lassen, in der eigenen
Existenz und in der Gesellschaft ein Zeugnis zu geben, das mit
dem Ruf der Propheten übereinstimmt, der beständig Wort Gottes
und Leben, Glaube und Gerechtigkeit, Kult und sozialen Einsatz
vereint hat. Und dies hat auch Jesus mehrmals wiederholt,
angefangen von der berühmten Ermahnung der Bergpredigt: „Nicht
jeder, der zu mir sagt, Herr! Herr!, wird in das Himmelreich
kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel
erfüllt“ (Mt 7, 21). In diesem Satz scheint das von Jesaja
widergegebene Gotteswort anzuklingen: „Dieses Volk nähert sich
mir nur mit Worten und ehrt mich bloß mit den Lippen, sein Herz
hält es aber fern von mir“ (29, 13). Diese Mahnungen gelten auch
den Kirchen, wenn sie dem gehorsamen Hören des Wortes Gottes
nicht treu sind.
Dieses muss also schon im Antlitz und den Händen des Gläubigen
sichtbar und ablesbar sein, wie der heilige Gregor der Große
bemerkt, der im heiligen Benedikt und in den anderen großen
Gottesmännern Zeugen der Gemeinschaft mit Gott und mit den
Brüdern sah, das lebendige Wort Gottes. Der Gerechte und Treue
“erklärt” nicht nur die Schriften, sonder er “entfaltet” sie vor
allen als eine lebendige und gelebte Realität. Deshalb gilt:
viva lectio, vita bonorum, das Leben der Gerechten ist eine
lebendige Lektüre des göttlichen Wortes. Schon der heilige
Johannes Chrysostomus weist darauf hin, dass die Apostel vom
Berg in Galiläa, wo sie dem Auferstandenen begegnet waren, im
Gegensatz zu Mose ohne beschriebene Steintafeln hinabstiegen:
ihr eigenes Leben sollte von diesem Augenblick an lebendiges
Evangelium werden.
Im Haus des göttlichen Wortes begegnen wir auch Brüdern und
Schwestern anderer Kirchen und kirchlicher Gemeinschaften, die
trotz der noch existierenden Trennungen die Verehrung und die
Liebe zum Wort Gottes mit uns gemeinsam haben, Ursprung und
Quelle einer ersten und wirklichen, wenn auch nicht vollen
Einheit. Dieses Band muss stets durch gemeinsame
Bibelübersetzungen gestärkt werden sowie durch die Verbreitung
des heiligen Textes, das ökumenische Bibelgebet, den
exegetischen Dialog, das Studium und die Diskussion der
verschiedenen Interpretationen der Heiligen Schrift, den
Austausch der in den verschiedenen geistlichen Traditionen
enthaltenen Werte, die Verkündigung und das gemeinsame Zeugnis
des Wortes Gottes in einer säkularisierten Welt.
IV. DIE WEGE DES WORTES: DIE MISSION
„Denn von Zion kommt die Weisung des Herrn, aus Jerusalem sein
Wort“ (Jes 2, 3). Das personifizierte Wort Gottes “tritt heraus”
aus seinem Haus, dem Tempel, und begibt sich auf die Wege der
Welt, um der großen Pilgerschaft zu begegnen, die die Völker der
Erde unternommen haben in der Suche nach Wahrheit, Gerechtigkeit
und Frieden. Denn es gibt auch in der modernen säkularisierten
Stadt, auf ihren Straßen und Plätzen - wo Unglaube und
Gleichgültigkeit vorzuherrschen scheinen, wo das Böse über das
Gute zu siegen scheint und so der Eindruck eines Sieges von
Babylon über Jerusalem entsteht - eine verborgene Sehnsucht,
eine aufkeimende Hoffnung, ein erwartungsvolles Beben. So wie im
Buch des Propheten Amos zu lesen ist: „Seht, es kommen Tage, da
schicke ich den Hunger ins Land, nicht den Hunger nach Brot,
nicht Durst nach Wasser, sondern nach einem Wort des Herrn“ (8,
11). Auf diesen Hunger will der Evangelisierungsauftrag der
Kirche antworten.
Auch die zögernden Apostel ruft der Auferstandene auf, die
schützenden Grenzen ihres Horizonts zu verlassen: „Darum geht zu
allen Völkern, und macht alle Menschen zu meinen Jüngern ... und
lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe“ (Mt 28,
19-20). Die Bibel ist überall durchsetzt mit Aufrufen, “nicht zu
schweigen”, “kraftvoll zu rufen” und “das Wort gelegen oder
ungelegen zu verkünden”, Wächter zu sein, die das Schweigen der
Gleichgültigkeit zerreißen. Die sich vor uns eröffnenden Wege
sind nicht nur die, die der heilige Paulus oder die ersten
Verkünder des Evangeliums und nach ihnen alle Missionare
gegangen sind, die bis zu Völkern in weit entfernten Ländern
vorgedrungen sind.
11. Die Kommunikation breitet heute ein Netz aus, das den
gesamten Globus umfasst, und der Aufruf Christi erhält neue
Bedeutung: „Was ich euch im Dunkeln sage, davon redet am hellen
Tag, und was man euch ins Ohr flüstert, das verkündet von den
Dächern“ (Mt 10, 27). Sicher muss das göttliche Wort eine erste
Transparenz und Verbreitung durch den gedruckten Text erhalten,
mit Übersetzungen in die reiche Vielzahl der Sprachen unseres
Planeten. Aber die Stimme des göttlichen Wortes muss auch im
Radio erklingen, in den Informationskanälen des Internet, der
virtuellen Verbreitung on line, den CDs, DVDs, den ipods und so
weiter; es muss auf den Fernsehschirmen und Kinoleinwänden
sichtbar sein, in der Presse, in den kulturellen und
gesellschaftlichen Ereignissen.
Diese neue Kommunikation hat im Vergleich mit der herkömmlichen
eine eigene Ausdrucksweise angenommen, und deshalb ist es
notwendig, nicht nur technisch, sondern auch kulturell für
dieses Unternehmen ausgerüstet zu sein. In der heutigen vom Bild
beherrschten Zeit, das vor allem über das alles beherrschende
Medium des Fernsehens vermittelt wird, ist die von Christus
bevorzugte Form der Kommunikation immer noch bedeutsam und
faszinierend. Er griff auf Symbole zurück, die Erzählung, das
Beispiel, die tägliche Erfahrung und Gleichnisse: „Und er sprach
e zu ihnen in Form von Gleichnissen ... er redete nur in
Gleichnissen zu ihnen“ (Mt 13, 3.34). In seiner Verkündigung des
Reiches Gottes sprach Jesus nie über die Köpfe seiner Zuhörer
hinweg in einer vagen, abstrakten und ätherischen Sprache,
sondern er ergriff sie von der Erde aus, auf der sie mit beiden
Füßen standen, um sie von der Alltäglichkeit zum Himmelreich zu
führen. In diesem Zusammenhang erhält die von Johannes
berichtete Episode besondere Bedeutung: „Einige von ihnen
wollten ihn festnehmen; aber keiner wagte ihn anzufassen. Als
die Gerichtsdiener zu den Hohenpriestern und den Pharisäern
zurückkamen, fragten diese: Warum habt ihr ihn nicht hergebracht?
Die Gerichtsdiener antworteten: Noch nie hat ein Mensch so
gesprochen“ (7, 44-46).
12. Christus geht auf den Wegen unserer Welt und verweilt vor
den Türen unserer Häuser: „Ich stehe vor der Tür und klopfe an.
Wer meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich
eintreten und wir werden Mahl halten, ich mit ihm und er mit mir“
(Offb 3, 20). Die Familie, die mit ihren freudigen und
dramatischen Erfahrungen hinter den Mauern dieser Häuser lebt,
ist ein wichtiger Raum, in den das Wort Gottes Eingang finden
muss. Die Bibel ist voll von kleinen und großen
Familiengeschichten, und der Psalmist stellt sehr lebendig das
friedliche Bild eines Vaters dar, der bei Tisch sitzt, umgeben
von der Ehefrau, die einem fruchtbaren Weinstock gleicht, und
von den Kindern, die „wie junge Ölbäume“ sind (Ps 128). Die
ersten Christen feierten Gottesdienst in der alltäglichen
Atmosphäre ihrer Häuser, so wie Israel die Feier des
Paschafestes der Familie anvertraute (vgl. Ex 12, 21-27). Die
Vermittlung des Wortes Gottes erfolgt eben gerade auf dieser
Ebene der Generationen, bei der die Eltern zu den „ersten
Glaubensboten“ gehören (LG 11). Der Psalmist wiederum rief uns
in Erinnerung: „Was wir hörten und erfuhren, was uns die Väter
erzählten, das wollen wir unseren Kindern nicht verbergen,
sondern dem kommenden Geschlecht erzählen: die ruhmreichen Taten
und die Stärke des Herrn, die Wunder, die er getan hat ... sie
sollten aufstehen und es weitergeben an ihre Kinder“ (Ps 78,
3-4.6).
In jedem Haus sollte es daher eine Bibel geben, die in würdiger
Weise an einem besonderen Ort aufbewahrt, gelesen und zum Beten
verwendet wird. Die Familie sollte Formen und Modelle der
Erziehung im Gebet, in der Katechese und der Didaktik im
Hinblick auf die Verwendung der Heiligen Schrift vorschlagen,
damit „die jungen Männer und auch die Mädchen, die Alten mit den
Jungen“ (Ps 148, 12) das Wort Gottes hören, verstehen, preisen
und leben. Vor allem die jungen Generationen, die Kinder und die
jungen Menschen, müssen die Adressaten einer angemessenen und
spezifischen Pädagogik sein, die sie dazu anleitet, die
Faszination der Gestalt Christi zu verspüren. Durch die
Begegnung und das authentische Zeugnis der Erwachsenen, den
positiven Einfluss der Freunde und die große Gemeinschaft der
Kirche sollen die Tore ihrer Intelligenz und ihres Herzen
geöffnet werden.
13. Jesus erinnert uns im Gleichnis vom Sämann daran, dass es
trockenen, felsigen und von Dornen zugewucherten Boden gibt (vgl.
Mt 13, 3-7). Wer sich auf die Straßen der Welt begibt, entdeckt
auch die Untiefen, in denen Leid und Armut angesiedelt sind,
Erniedrigung und Unterdrückung, Ausgrenzung und Elend,
körperliche und seelische Krankheiten und Einsamkeit. Oft ist
der Boden der Straßen durch Kriege und Gewalttaten mit Blut
befleckt, in den Palästen der Macht sind Korruption und
Ungerechtigkeit eng miteinander verflochten. Es erhebt sich der
Schrei der Verfolgten, die treu ihrem Gewissen oder ihrem
Glauben folgen. Viele Menschen sind überwältigt von
Existenzkrisen und tragen nichts im Herzen, was ihrem Leben Sinn
und Wert verleihen könnte. „Wie ein Schatten“ gehen diese
Menschen einher und „um ein nichts machen sie Lärm“ (Ps 39, 7).
Viele spüren auch auf sich das Schweigen Gottes lasten, seine
scheinbare Abwesenheit und Gleichgültigkeit: „Wie e noch, Herr,
vergisst du mich ganz? Wie e noch verbirgst du dein Gesicht vor
mir?“ (Ps 13, 2). Und am Ende erhebt sich vor allen das
Geheimnis des Todes.
Dieses gewaltige, leiderfüllte Seufzen, das von der Erde zum
Himmel aufsteigt, wird unaufhörlich von der Bibel zum Ausdruck
gebracht, die einen geschichtlichen und fleischgewordenen
Glauben vorschlägt. Es mag genügen, an die von Gewalt und
Unterdrückung gezeichneten Seiten zu denken; an den heftigen und
ständigen Schrei von Ijob; an die eindringlichen Bitten in den
Psalmen; an die ergreifende innere Krise, die Qohelet durchlebt;
an die kraftvollen prophetischen Anklagen der sozialen
Ungerechtigkeit. Völlig schonungslos ist ferner die Anklage der
tiefverwurzelten Sünde, die in ihrer ganzen zerstörerischen
Kraft von den Anfängen der Menschheit an in dem grundlegenden
Text der Genesis vorkommt (Kap. 3). In der Tat ist das
“mysterium iniquitatis”, das „Geheimnis des Bösen“ in der
Geschichte gegenwärtig und am Werk, aber es wird entlarvt vom
Wort Gottes, das in Christus den Sieg des Guten über das Böse
zusichert.
Die Schriften werden aber vor allem beherrscht von der Person
Christi, der sein öffentliches Wirken mit einer Botschaft der
Hoffnung für die Geringsten der Erde beginnt: „Der Geist des
Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich
gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit
ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das
Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und
ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe“ (Lk 4, 18-19). Seine Hände
legen sich immer wieder auf krankes oder infiziertes Fleisch,
seine Worte verkünden die Gerechtigkeit, flößen den
Unglücklichen Mut ein, schenken den Sündern Vergebung. Am Ende
begibt er sich selbst auf die tiefste Ebene, „er entäußerte sich“
seiner Herrlichkeit „und wurde wie ein Sklave und den Menschen
gleich... , er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod,
bis zum Tod am Kreuz“ (Phil 2, 7-8).
So verspürt er die Angst vor dem Sterben („Vater, alles ist dir
möglich. Nimm diesen Kelch von mir!“), er verspürt die
Einsamkeit aufgrund des Verlassenseins und des Verrats der
Freunde, er dringt bei der Kreuzigung ein in die Dunkelheit des
grausamsten physischen Schmerzes und sogar in die Dunkelheit des
Schweigens seines Vaters („Mein Gott, mein Gott, warum hast du
mich verlassen?“), und er get an den tiefsten Abgrund jedes
Menschen, nämlich den Tod („Er schrie laut auf. Dann hauchte er
seinen Geist aus“). Auf ihn lässt sich wirklich die Definition
anwenden, die Jesaja für den Gottesknecht verwendet: „ein Mann
voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut“ (53, 3).
Und doch hört er auch in diesem äußersten Moment nicht auf, der
Sohn Gottes zu sein: in seiner von Liebe erfüllten Solidarität
und durch das Opfer seiner selbst legt er in die Grenzbereiche
und in das Böser der Welt den Samen des Göttlichen, das heißt
ein Prinzip der Befreiung und des Heiles. Indem er sich uns
hinschenkt, erfüllt er den Schmerz und den Tod, die er selbst
auf sich genommen und durchlebt hat, mit Erlösung, und er
eröffnet auch uns die Morgenröte der Auferstehung. Der Christ
hat somit den Auftrag, dieses göttliche Wort der Hoffnung zu
verkünden, durch seine Nähe zu den Armen und Leidenden, durch
das Zeugnis seines Glaubens an das Reich der Wahrheit und des
Lebens, der Heiligkeit und Gnade, der Gerechtigkeit, der Liebe
und des Friedens, durch die liebevolle Nähe, die nicht richtet
und nicht verurteilt, sondern aufbaut, erleuchtet, tröstet und
verzeiht gemäß den Worten Jesu: „Kommt alle zu mir, die ihr euch
plagt und schwere Lasten zu tragen habt.“ (Mt 11, 28).
14. Auf den Wegen der Welt bewirkt das göttliche Wort für uns
Christen eine die intensive Begegnung mit dem jüdischen Volk,
dem wir zutiefst verbunden sind durch die gemeinsame Anerkennung
und Liebe zu den Schriften des Alten Testaments, und zudem
entstammt Christus „dem Fleisch nach“ dem Volk Israel (Röm 9,
5). Alle Heiligen Schriften des Judentums erhellen das Geheimnis
Gottes und des Menschen, sie enthüllen Schätze des Denkens und
der Moral, bezeichnen den en Weg der Heilsgeschichte bis zu
ihrer vollkommenen Erfüllung und veranschaulichen eindrücklich
die Fleischwerdung des göttlichen Wortes in den menschlichen
Wechselfällen. Sie erlauben uns, in Fülle die Person Christi zu
erkennen, der erklärt hatte, er sei nicht gekommen, „um das
Gesetz und die Propheten aufzuheben, sondern um sie zu erfüllen“
(Mt 5, 17); sie sind Weg des Dialogs mit dem auserwählten Volk,
das von Gott all dies erhalten hat: „die Sohnschaft, die
Herrlichkeit, die Bundesordnungen, ihnen ist das Gesetz gegeben,
der Gottesdienst und die Verheißungen“ (Röm 9,4). Ferner
ermöglichen sie uns, unsere Auslegung der Heiligen Schrift mit
den fruchtbaren Schätzen der jüdischen exegetischen Tradition zu
bereichern.
„Gesegnet ist Ägypten, mein Volk, und Assur, das Werk meiner
Hände, und Israel, mein Erbbesitz“ (Jes 19, 25). Der Herr
breitet also den Schutzmantel seines Segens über alle Völker der
Erde aus, erfüllt von der Sehnsucht, dass „alle Menschen zur
Erkenntnis der Wahrheit geen“ (1 Tim 2, 4). Auch wir Christen
sind auf den Wegen der Welt dazu eingeladen - ohne in einen
Synkretismus zu fallen, der die eigene geistliche Identität
verzerrt oder erniedrigt -, voll Respekt in Dialog zu treten mit
den Männern und Frauen der anderen Religionen, die treu die
Richtlinien ihrer Heiligen Bücher hören und befolgen, angefangen
beim Islam, der in seiner Tradition zahllose Personen, Symbole
und Themen aus der Bibel aufgreift und uns das Zeugnis eines
aufrichtigen Glaubens an den einen, mitleidsvollen und
barmherzigen Gott bietet, den Schöpfer allen Seins und Richter
der Menschheit.
Der Christ findet außerdem Gemeinsamkeiten mit den großen
religiösen Traditionen des Ostens, die uns in ihren Schriften
die Achtung vor dem Leben, die Kontemplation, das Schweigen, die
Einfachheit, die Entsagung lehren, wie dies etwa beim Buddhismus
der Fall ist. Im Hinduismus wird der Sinn für das Sakrale, das
Opfer, die Pilgerfahrt, das Fasten und die heiligen Zeichen
verherrlicht. Im Konfuzianismus werden die Weisheit und die
Werte der Familie und der Gesellschaft gelehrt. Auch den
traditionellen Religionen mit ihren geistlichen Werten, die in
den mündlichen Riten und Kulturen zum Ausdruck kommen, wollen
wir unsere herzliche Aufmerksamkeit schenken und mit ihnen einen
respektvollen Dialog pflegen. Auch mit jenen, die nicht an Gott
glauben, aber danach streben „Recht zu tun, Güte und Treue zu
lieben, in Ehrfurcht den Weg mit Gott gehen“ (Mi 6, 8), müssen
wir für eine gerechtere und friedlichere Welt zusammenarbeiten
und im Dialog unser aufrichtiges Zeugnis für das Wort Gottes
anbieten, das ihnen neue und weitere Horizonte der Wahrheit und
Liebe offenbaren kann.
15. In seinem Brief an die Künstler (1999) erinnerte Johannes
Paul II. daran, dass „die Heilige Schrift zu einer Art
gewaltigem Wörterbuch (Paul Claudel) und einem ikonographischen
Atlas (Marc Chagall) geworden ist, aus denen die christliche
Kultur und Kunst geschöpft haben“ (Nr. 5). Goethe war der
Überzeugung, dass das Evangelium die „Muttersprache Europas“ sei.
Die Bibel ist, wie man mittlerweile zu sagen pflegt, der „große
Kodex“ der universalen Kultur: die Künstler haben in geistiger
Weise ihren Pinsel eingetaucht in jenes farbenfrohe Alphabet von
Geschichten, Zeichen, Personen, die sich auf den Seiten der
Bibel finden; die Musiker haben auf Grundlage der Heiligen
Schriften, vor allem der Psalmen, ihre Harmonien geschaffen; die
Schriftsteller haben Jahrhunderte jene alten Erzählungen
wiederaufgenommen, die zu existentiellen Gleichnissen wurden;
die Dichter haben sich Fragen gestellt über das Geheimnis des
Geistes, über das Unendliche, über das Böse, über die Liebe,
über den Tod und über das Leben, wobei sie die poetische
Begeisterung einfingen, von der die Seiten der Bibel beseelt
sind. Die Denker, die Wissenschaftler und die Gesellschaft
selbst wählten oft die geistlichen und ethischen Auffassungen
der Bibel (man denke nur etwa an die Zehn Gebote) als
Bezugspunkt oder auch als gegensätzliche Position. Auch wenn die
in der Heiligen Schrift vorkommende Person oder Idee verzerrt
dargestellt wurde, erkannte man doch, dass sie für unsere
Zivilisation unersetzlich und von maßgebender Bedeutung war.
Und gerade deshalb ist die Bibel - die uns auch die via
pulchritudinis lehrt, das heißt den Weg der Schönheit, um Gott
zu erkennen und zu ihm zu geen („Singt unserem Gott ein
festliches Lied“, lädt uns Psalm 47, 8 ein) - nicht nur für den
Gläubigen notwendig, sondern für alle, um die wahre Bedeutung
der verschiedenen kulturellen Ausdrucksformen wiederzuentdecken
und vor allem um unsere eigene historische, zivile, menschliche
und geistliche Identität wiederzufinden. In ihr liegt die Wurzel
unserer Größe und dank ihrer können wir uns ohne
Minderwertigkeitsgefühle den anderen Zivilisationen und Kulturen
mit unserem edlen Erbe vorstellen. Die Bibel sollte daher von
allen gekannt und studiert werden, unter diesem
außergewöhnlichen Aspekt der Schönheit und der menschlichen und
kulturellen Fruchtbarkeit.
Dennoch ist das Wort Gottes - um ein eindrucksvolles
paulinisches Bild zu verwenden – „nicht gefesselt“ (2 Tim 2, 9)
an eine Kultur; es strebt vielmehr danach, die Grenzen zu
überschreiten, und gerade der Apostel war ein außergewöhnlicher
Baumeister der Inkulturation der biblischen Botschaft innerhalb
der neuen kulturellen Koordinaten. Die Kirche ist dazu gerufen,
auch heute genau dies zu tun in einem delikaten aber notwendigen
Prozess, der durch das Lehramt von Papst Benedikt XVI. einen
kräftigen Impuls erhalten hat. Sie muss dafür sorgen, dass das
Wort Gottes die Vielfalt der Kulturen durchdringen und es durch
ihre Sprachen, ihre Auffassungen, Zeichen und religiösen
Traditionen zum Ausdruck bringen kann. Sie muss jedoch stets
fähig sein, die wahre Substanz seiner Inhalte zu bewahren, indem
sie über die Gefahr von Verzerrungen wacht.
Die Kirche muss somit die Werte zur Geltung bringen, die das
Wort Gottes den anderen Kulturen anbietet, damit sie gereinigt
und befruchtet werden. Johannes Paul II. hat den Bischöfen aus
Kenia im Rahmen seiner Afrika-Reise 1980 gesagt, dass „die
Inkulturation wirklich ein Widerschein der Fleischwerdung des
Wortes sein wird, wenn eine Kultur, die vom Evangelium
verwandelt und neu geschaffen wurde, in ihrer eigenen Tradition
ursprüngliche Ausdrucksformen des Lebens, des Feierns und des
christlichen Denkens hervorbringt“.
SCHLUSSBEMERKUNG
„Und die Stimme aus dem Himmel, die ich gehört hatte, sprach
noch einmal zu mir: Geh, nimm das Buch, das der Engel ...
aufgeschlagen in der Hand hält ... Und der Engel sagte zu mir:
Nimm und iss es! In deinem Magen wird es bitter sein, in deinem
Mund aber süß wie Honig. Da nahm ich das kleine Buch aus der
Hand des Engels und aß es. In meinem Mund war es süß wie Honig.
Als ich es aber gegessen hatte, wurde mein Magen bitter“ (Offb
10, 8-11).
Brüder und Schwestern auf der ganzen Welt, nehmen auch wir diese
Einladung an! Treten wir heran zum Tisch des Wortes Gottes, so
dass wir uns nähren und leben „nicht nur vom Brot, sondern von
allem, was der Mund des Herrn spricht“ (Dtn 8, 3; Mt 4, 4)! Die
Heilige Schrift hat - wie eine große Gestalt der christlichen
Kultur sagte – „geeignete Mittel, um in allen menschlichen Lagen
Trost zu spenden, und geeignete Mittel, um in allen Lebenslagen
Furcht zu erwecken“ (B. Pascal, Pensées, Nr. 532, ed.
Brunschvicg).
Das Wort Gottes ist „süßer als Honig, als Honig aus Waben (Ps
19, 11), es ist ,,meinem Fuß eine Leuchte, ein Licht für meine
Pfade“ (Ps 119, 105), aber es ist auch „wie Feuer und wie ein
Hammer, der Felsen zerschmettert“ (Jer 23, 29). Es ist wie Regen,
der das Land bewässert, es fruchtbar macht und aufblühen lässt,
und auf diese Weise bringt es auch die Trockenheit unserer
geistlichen Wüsten zum Blühen (vgl. Jes 55, 10-11). Es ist auch
„lebendig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert; es
dringt durch bis zur Scheidung von Seele und Geist, von Gelenk
und Mark; es richtet über die Regungen und Gedanken des Herzens“
(Hebr 4, 12).
Unser Blick richtet sich voll Zuneigung auch auf die
Wissenschaftler, die Katecheten und alle weiteren Diener des
Wortes Gottes, denen wir unseren tiefempfundenen und herzlichen
Dank für ihren wertvollen und wichtigen Dienst aussprechen
wollen. Wir wenden uns dabei auch an unsere Brüder und
Schwestern, die Verfolgungen erleiden oder die aufgrund des
Wortes Gottes und aufgrund des für Jesus, den Herrn, abgelegten
Zeugnisses zum Tod verurteilt wurden (vgl. Offb 6, 9): Wie viele
Zeugen und Märtyrer erzählen uns von der „Kraft des Wortes“ (Röm
1, 16), dem Urgrund ihres Glaubens, ihrer Hoffnung und ihrer
Liebe zu Gott und zu den Menschen.
Wir wollen nun in Stille verweilen, um andächtig das Wort des
Herrn zu hören. Bewahren wir diese Stille auch nach dem Hören,
damit es auch weiterhin unter uns wohnt und lebt und zu uns
spricht. Lassen wir es zu Beginn des Tages erklingen, auf dass
Gott das erste Wort habe, und lassen wir es am Abend in uns
widerhallen, auf dass Gott auch das letzte Wort habe.
Liebe Brüder und Schwestern „es grüßen euch alle, die bei uns
sind. Grüßt alle, die uns durch den Glauben in Liebe verbunden
sind. Die Gnade sei mit euch allen!“ (Tit 3, 15).
Auf dass Gott
jeden Tag
das erste
und das
letzte Wort habe
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