Vierte Predigt
„Der Buchstabe tötet, der Geist schenkt Leben“
Quelle der Wahrheit und
geschichtlicher Raum
Die geistliche Lesung der Bibel
P. R. Cantalamessa 0.M.CAP.
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1. Die von Gott eingegebene Schrift
Im zweiten Brief an Timotheus ist die berühmte Aussage zu finden: „Jede von Gott eingegebene Schrift ist auch nützlich zur Belehrung, zur Widerlegung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit.“ Der Ausdruck, der mit „von Gott eingegeben“ oder „göttlich inspiriert“ übersetzt wird, besteht in der Originalsprache aus einem einzigen Wort, theopneustos, das in einem die Worte Gott (theos) und Geist (pneuma) enthält. Dieses Wort hat zwei grundlegende Bedeutungen: eine sehr bekannte und eine weitere, die hingegen gewöhnlich vernachlässigt wird, obwohl sie nicht weniger wichtig ist als die erste.
Die bekannteste Bedeutung ist jene passive, die in allen modernen Übersetzungen auftritt: die Schrift ist „von Gott eingegeben“. Ein anderer Abschnitt des Neuen Testaments erklärt diese Bedeutung so: „Vom Heiligen Geist getrieben haben Menschen im Auftrag Gottes geredet“ (2 Petr 1,21). Es handelt sich um die klassische Lehre der göttlichen Eingebung der Schrift, jene, die wir als Glaubensartikel im Glaubensbekenntnis verkünden, wenn wir sagen, dass der Heilige Geist „gesprochen hat durch die Propheten“.
Wir können uns mit menschlichen Bildern dieses an sich geheimnisvolle Ereignis der Eingebung vorstellen: Gott „berührt“ mit seinem göttlichen Finger – das heißt mit seiner lebendigen Energie, die der Heilige Geist ist – jenen verborgenen Punkt, an dem der Geist des Menschen sich dem Unendlichen öffnet, und von dort aus verbreitet sich jene Berührung, die an sich sehr leicht und so augenblicklich ist wie der sie erzeugende Gott wie eine klangvolle Vibration in allen Fähigkeiten des Menschen – in Wille, Verstand, Phantasie, Herz – und setzt sich dabei in Begriffe, Bilder und Worte um.
Das Ergebnis ist, dass auf diese Weise eine „theandrische“, das heißt eine völlig göttliche und eine völlig menschliche Wirklichkeit erreicht wird: die beiden Bereiche sind zuinnerst verschmolzen, wenngleich nicht „vermischt“. Das Lehramt der Kirche – Enzykliken wie „Providentissimus Deus“ von Leo XIII. und „Divino afflante Spiritu“ von Pius XII. – sagt uns, dass die beiden Gegebenheiten, die göttliche und die menschliche, intakt erhalten sind. Gott ist der erste Urheber, da er die Verantwortung für das übernimmt, was geschrieben steht, und den Inhalt mit dem Wirken des Heiligen Geistes bestimmt; nichtsdestoweniger ist der heilige Schriftstellert auch selbst Urheber, im vollen Sinne des Wortes, da er zuinnerst an diesem Wirken durch eine normale menschliche Tätigkeit mitgearbeitet hat, deren Gott sich als Instrument bedient hat. Gott – so sagten die Päpste – ist wie der Musiker, der mit seiner Berührung die Saiten der Leier vibrieren lässt; der Klang ist ganz Werk der Musikers, es gäbe ihn jedoch nicht ohne die Saiten der Leier.
Von diesem wunderbaren Werk Gottes wird in der Regel fast nur dessen Wirkung ins Licht gesetzt: die „Irrtumsfreiheit“ der Bibel, das heißt, dass die Bibel keine Irrtümer enthält, wenn wir unter „Irrtum“ korrekt die Abwesenheit einer in einem bestimmten kulturellen Kontext menschlich möglichen Wahrheit verstehen und dabei das benutzte und somit vom Schreiber einforderbare literarische Genus beachten. Die biblische Eingebung aber begründet sehr viel mehr als eine einfache Irrtumsfreiheit des Wortes Gottes (was etwas Negatives ist); sie gründet im positiven Sinne seine Unerschöpflichkeit, seine Kraft und göttliche Lebendigkeit und das, was Augustinus die mira profunditas, die wunderbare Tiefe genannt hat.(1)
So sind wir darauf vorbereitet, eine nunmehr andere Bedeutung der biblischen Eingebung zu entdecken. Für sich genommen ist grammatikalisch theopneustos ein aktives und kein passives Partizip. Die Tradition hat es verstanden, in gewissen Momenten diese aktive Bedeutung aufzunehmen. Die Schrift, so sagte der hl. Ambrosius, ist theopneustos nicht nur, weil sie von „Gott inspiriert“ ist, sondern weil sie auch „Gott atmet“, weil Gott weht! (2)
Wenn der hl. Augustinus von der Schöpfung spricht, sagt er, dass Gott nicht die Dinge schuf und dann wegging, sondern dass „diese von ihm gekommen sind und in ihm bleiben“. (3) So ist es mit den Worten Gottes: sie sind von Gott gekommen und bleiben in ihm und er in ihnen. Nachdem er die Heilige Schrift diktiert hatte, hat sich der Heilige Geist nicht in ihr verschlossen, er lebt in ihr und er belebt sie ohne Unterlass mit seinem göttlichem Hauch. Heidegger hat gesagt, dass „das Wort das Haus des Seins“ ist, wir können sagen, dass das WORT das Haus des Geistes ist.
Auch die Konstitution http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_19651118_dei-verbum_ge.htmlDei verbum des II. Vatikanischen Konzils (21) nimmt diesen Faden der Tradition auf, wenn sie sagt: „In (den Heiligen Schriften) zusammen mit der Heiligen Überlieferung sah (die Kirche) immer und sieht sie die höchste Richtschnur ihres Glaubens, weil sie, von Gott eingegeben (passive Eingebung!) und ein für alle Male niedergeschrieben, das Wort Gottes selbst unwandelbar vermitteln und in den Worten der Propheten und der Apostel die Stimme des Heiligen Geistes (aktive Eingebung) vernehmen lassen“.
2. Biblischer Doketismus und Ebionismus
Jetzt aber müssen wir ein heikleres Problem berühren: wie soll man sich der Schrift annähern, damit diese wirklich in uns den Geist „freisetzt“, den sie enthält? Ich habe gesagt, dass die Schrift eine „theandrische“, das heißt eine gott-menschliche Wirklichkeit ist. Nun besteht das Gesetz aller theandrischen Wirklichkeiten (wie zum Beispiel Christus und die Kirche) darin, dass in ihnen das Göttliche nur durch das Menschliche entdeckt werden kann. Man kann die Göttlichkeit in Christus nur durch seine konkrete Menschlichkeit entdecken.
Jene, die im Altertum den Anspruch erhoben, anders zu handeln, verfielen dem Doketismus. Indem sie den Leib und die menschlichen Merkmale Christi als einfachen „Schein“ (dokein) missachteten, ging ihnen auch seine tiefe Wirklichkeit verloren, und anstelle eines Mensch gewordenen Gottes hielten sie eine verformte Idee von Gott in Händen. In gleicher Weise kann in der Schrift der Geist nur durch das Wort entdeckt werden, das heißt durch die konkrete menschliche Einkleidung, die das Wort Gottes in den verschiedenen Büchern und inspirierten Autoren angenommen hat. In ihnen kann die göttliche Bedeutung nur entdeckt werden, wenn man von der menschlichen Beutung ausgeht, von jener, die der menschliche Autor beabsichtigte: Jesajas, Jeremias, Lukas, Paulus usw. Darin findet die unendliche Anstrengung des Studiums und der Forschung, die das Buch der Schrift umgibt, ihre volle Rechtfertigung.
Dies aber ist nicht die einzige Gefahr, der die Bibelexegese ausgesetzt ist. Angesichts der Person Jesu gab es nicht nur die Gefahr des Doketismus, das heißt der Vernachlässigung des Menschlichen; es gab auch die Gefahr, bei ihm stehen zu bleiben, in ihm nur das Menschliche zu sehen und nicht die göttliche Dimension des Gottessohnes zu entdecken. Es gab die Gefahr des Ebionismus. Für die Ebioniten (die Judenchristen waren) war Jesus wohl ein großer Prophet, aber nicht mehr. Die Väter nannten sie „Ebioniten“ (von ebionim, die Armen), um zum Ausdruck zu bringen, dass sie arm an Glauben waren.
So geschieht es auch bei der Schrift. Es gibt einen biblischen Ebionismus, das heißt die Tendenz, beim Buchstaben stehen zu bleiben und die Bibel als ein herausragendes Buch zu betrachten, das herausragendste unter den menschlichen Bücher sozusagen, aber ein rein menschliches Buch. Leider stehen wir vor der Gefahr, die Schrift auf eine einzige Dimension zu reduzieren. Der Bruch des Gleichgewichts geht heute nicht in Richtung eines Doketismus, sondern in Richtung eines Ebionismus.
Die Bibel wird von vielen Gelehrten willentlich allein durch die historisch-kritische Methode erklärt. Ich spreche nicht von den nichtgläubigen Gelehrten, für die dies normal ist, sondern von Gelehrten, die sich als gläubig erklären. Die Säkularisierung des Heiligen hat sich in keinem Fall derart brisant erwiesen wie in der Säkularisierung des heiligen Buches. Nun, der Anspruch, die Schrift erschöpfend zu verstehen, indem sie allein mit dem Instrument der historisch-philologischen Analyse studiert wird, kommt dem Anspruch gleich, das Geheimnis der Realpräsenz Christi in der Eucharistie zu entdecken, indem man sich auf eine chemische Analyse der konsekrierten Hostie basiert! Die historisch-kritische Analyse stellte auch dann, wenn sie zur maximalen Perfektion vordringt, in Wirklichkeit nichts anderes dar als die erste Stufe der Erkenntnis der Bibel, jene, die den Buchstaben betrifft.
Jesus erklärt feierlich im Evangelium, dass Abraham „seinen Tag sah“ (vgl. Joh 8,56), dass Moses „von ihm geschrieben“ hatte (vgl. Joh 5,46), dass Jesajas „seine Herrlichkeit gesehen und von ihm gesprochen hatte“ (vgl. Joh 12,41) und dass die Propheten, die Psalmen, die ganze Schrift von ihm sprechen (vgl. Lk 24,27.44; Joh 5,39). Heutzutage aber zögert eine gewisse wissenschaftliche Exegese, von Christus zu sprechen, sie macht ihn praktisch in keinem Abschnitt des Alten Testaments mehr aus, oder sie hat wenigstens Angst, ihn auszumachen – aus Angst, sich „wissenschaftlich“ zu disqualifizieren.
Das ernsthafteste Problem einer gewissen ausschließlich wissenschaftlichen Exegese besteht darin, dass sie völlig die Beziehung zwischen dem Exegeten und dem Wort Gottes ändert. Die Bibel wird ein Forschungsgegenstand, den der Professor „beherrschen“ muss und angesichts dessen er, wie es sich für einen jeden Mann der Wissenschaft ziemt, „neutral“ bleiben muss. In diesem einzigartigen Fall aber ist es nicht gestattet, „neutral“ zu bleiben, und es ist einem nicht gegeben, die Materie zu „beherrschen“; man muss sich vielmehr von ihr beherrschen lassen. Von einem Gelehrten der Schrift zu sagen, dass er das Wort Gottes „beherrscht“, kommt bei näherem Hinsehen sozusagen einem Fluch gleich.
Die Folge von all dem ist, dass sich die Schrift in sich selbst verschließt und sich in sich selbst „verquickt“; sie wird erneut zum „versiegelten“ Buch, zum „verhüllten“ Buch, denn, so sagt der hl. Paulus, jene Hülle wird in Christus entfernt, sobald sich einer „dem Herrn zuwendet“, das heißt wenn man Christus in den Seiten der Schrift erkennt (vgl. 2 Kor 3, 15-16). Es geschieht mit der Bibel wie bei gewissen sehr sensiblen Pflanzen, die ihre Blätter zusammenrollen, sobald sie von Fremdkörpern berührt werden, oder wie bei gewissen Muscheln, die ihre Schalen schließen, um die Perle zu schützen, die in ihnen ist. Die Perle der Schrift ist Christus.
Anders würden sich die vielen Glaubenskrisen bei den Bibelforschern nicht erklären. Wenn man sich nach dem Warum der Armut und der geistlichen Trockenheit fragt, die in einigen Seminaren und Bildungsorten herrschen, so entdeckt man sogleich, dass einer der Hauptgründe in der Art und Weise besteht, wie in ihnen die Schrift gelehrt wird. Die Kirche lebte und lebt aus der geistlichen Lesung der Bibel; wird der Kanal abgegraben, der das Leben der Frömmigkeit, den Eifer, den Glauben wässert, so trocknet alles aus und stirbt. Man versteht die Liturgie nicht mehr, die im Ganzen auf einem geistlichen Gebrauch der Schrift aufgebaut ist, oder sie wird als ein von der wahren persönlichen Bildung getrenntes Moment gelebt und von dem geleugnet, was man einen Tag vorher in der Vorlesung gehört hat.
4. Der Geist schenkt das Leben
Es ist ein Zeichen großer Hoffnung, dass die Notwendigkeit einer geistlichen und aus dem Glauben kommenden Lesung der Schrift nunmehr gerade von einigen eminenten Exegeten wahrgenommen wird. Einer von ihnen hat geschrieben: „Es ist dringend, dass alle, die die Schrift studieren und interpretieren, sich wieder für die Exegese der Väter interessieren, um jenseits ihrer Methoden den Geist zu entdecken, der sie beseelte, die tiefe Seele, die ihre Exegese inspirierte; in ihrer Schule müssen wir lernen, die Schrift zu interpretieren, nicht nur unter einem historisch-kritischen Gesichtspunkt, sondern gleichzeitig in der der Kirche und für die Kirche“ (I. de la Lotterie). P. Henri de Lubac hat in seiner monumentalen Geschichte der mittelalterlichen Exegese die Kohärenz, die Solidität und die außerordentliche Fruchtbarkeit der geistlichen Exegese auseinandergesetzt, welche die antiken und mittelalterlichen Väter praktizierten.
Man muss aber sagen, dass die Väter in diesem Bereich nichts anderes tun, als die reine und einfache Lehre des Neuen Testaments anzuwenden (mit den unvollkommen Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen); mit anderen Worten sind sie nicht die Initiatoren, sondern die Fortsetzer einer Tradition, die unter ihren Gründern Johannes, Paulus und Jesus selbst gehabt hat. Diese haben nicht nur die ganze Zeit eine geistliche Lesung der Schrift praktiziert, das heißt eine Lesung in Bezug auf Christus, sondern sie haben auch eine Rechtfertigung einer derartigen Lesung gegeben und erklärt, dass die ganze Schrift von Christus spricht (vgl. Joh 5,39), dass in ihr schon der „Geist Christi“ am Werk war und sich durch die Propheten ausdrückte (vgl. 1 Petr 1,11), dass alles im Alten Testament „allegorisch“ gesagt ist, das heißt in Bezug auf die Kirche (vgl. Gal 4,24) oder „uns zur Warnung“ (1 Kor 10,11).
Spricht man somit von einer „geistlichen“ Lesung der Bibel, so ist damit keine erbauliche, mystische, subjektive oder – schlimmer noch – phantastische Lesung im Gegensatz zur wissenschaftlichen Lesung gemeint, die demgegenüber objektiv wäre. Sie ist im Gegenteil die objektivste Lesung, die es gibt, da sie auf dem Geist Gottes und nicht auf dem Geist des Menschen beruht. Die subjektive Lesung der Schrift (die auf der freien Forschung beruht) machte sich gerade in dem Moment breit, als die geistliche Lesung aufgegeben worden war, und an dem Ort, wo dies am klarsten der Fall war.
Die geistliche Lesung ist also etwas sehr genaues und objektives; sie ist die Lesung, die unter der Führung oder dem Licht des Heiligen Geistes geschieht, der die Schrift eingegeben hat. Sie gründet auf einem historischen Ereignis: auf dem Erlösungswerk Christi, der mit seinem Tod und durch seine Auferstehung den Heilsplan erfüllt, alle Bilder und Prophezeiungen verwirklicht, alle verborgenen Geheimnisse enthüllt und den wahren Schlüssel zur Lesung der gesamten Bibel liefert. Die Offenbarung des Johannes bringt all dies mit dem Bild des Opferlammes aus, das das Buch in die Hand nimmt und dessen sieben Siegel bricht (vgl. Offb 5,1ff.)
Wer nach ihm die Schrift weiterhin in Absehung von dieser Tat lesen will, würde einem ähneln, der eine Partitur im G-Schlüssel weiter lesen würde, nachdem der Komponist in das Stück den C-Schlüssel eingeführt hat: jede einzelne Note gäbe dabei einen falschen Misston. Nun nennt das Neue Testament den neuen Schlüssel „Geist“, während es den alten Schlüssel als „Buchstabe“ definiert und sagt: der Buchstabe tötet, der Geist aber schenkt das Leben (vgl. 2 Kor 3,6).
„Buchstabe“ und „Geist“ einander entgegenzusetzen heißt nicht, Altes und Neues Testament einander entgegenzusetzen, als stehe ersteres nur für den Buchstaben und das zweite nur für den Geist. Es bedeutet vielmehr, einander zwei verschiedene Lesarten sowohl des Alten als auch des Neuen Testaments entgegenzusetzen: die Art, die von Christus absieht, und jene, die hingegen alles im Licht Christi beurteilt. Aus diesem Grund kann die Kirche sowohl das eine als auch das andere Testament in seinem Wert erkennen: beide nämlich sprechen zu ihr von Christus.
5. Was der Geist der Kirche sagt
Die geistliche Lesung betrifft nicht nur das Alte Testament; in einem anderen Sinn betrifft sie auch das Neue Testament. Auch dieses muss geistlich gelesen werden. Eine geistliche Lesung des Neuen Testaments bedeutet eine Lesung im Licht des Heiligen Geistes, der der Kirche an Pfingsten geschenkt wurde, um sie zur ganzen Wahrheit zu führen, das heißt zum vollen Verstehen und zur vollen Verwirklichung des Evangeliums.
Jesus selbst hat im Vorhinein das Verhältnis zwischen seinem Wort und dem Geist erklärt, den er entsenden würde (auch wenn wir nicht denken dürfen, dass er es gerade in den Begriffen getan hat, die das Johannesevangelium diesbezüglich benutzt). Der Geist – so ist in Johannes zu lesen – wird alles, was Jesus gesagt hat, „lehren und erinnern“ (vgl. Joh 14,25f), das heißt er wird es gründlich in all seinen Implikationen verstehen lassen. Er „wird nicht aus sich selbst herausreden“, das heißt er wird keine neuen Dingen sagen, sondern – wie Jesus selbst erklärt – „er wird von dem, was mein ist, nehmen und wird es euch verkünden“ (vgl. Joh 16,13-15).
Darin kann gesehen werden, wie die geistliche Lesung die wissenschaftliche Lesung integriert und überschreitet. Die wissenschaftliche Lesung kennt eine einzige Richtung: die der Geschichte; sie erklärt das Nachherkommende im Licht des Vorhergehenden; sie erklärt das Neue Testament im Licht des Alten Testaments, das ihm vorangeht, und sie erklärt die Kirche im Licht des Neuen Testaments. Ein großer Teil der kritischen Anstrengung bezüglich der Schrift besteht in der Illustration der Lehren des Evangeliums im Licht der alttestamentlichen Traditionen, der rabbinischen Exegese usw., er besteht also in der Suche nach den Quellen (auf diesem Prinzip basieren der „Kittel“ und viele andere Bücher zur Bibel).
Die geistliche Lesung anerkennt gänzlich die Gültigkeit dieser Forschungsrichtung, sie fügt ihr jedoch eine andere umgekehrte hinzu. Sie besteht darin, das Vorhergehende im Licht des Nachkommenden zu erklären, die Prophezeiung im Licht deren Verwirklichung, das Alte Testament im Licht des Neuen Testaments und das Neue Testament im Licht der Tradition der Kirche. Darin findet die geistliche Lesung der Bibel eine einzigartige Bestätigung im hermeneutischen Prinzip Gadamers der „Wirkungsgeschichte“. Entsprechend diesem Prinzip ist es für das Verständnis eines Textes notwendig, der Wirkungen Rechnung zu tragen, die dieser in der Geschichte hervorgebracht hat, indem man sich in diese Geschichte hineinbegibt und mit ihr in einen Dialog tritt. (4)
Nur nachdem Gott seinen Plan verwirklicht hat, versteht man den Sinn dessen, was ihn vorbereitet und vorhergesehen hat. Wenn jeder Baum an seinen Fürchten zu erkennen ist, wie Jesus sagt, so kann auch das Wort Gottes nicht in Fülle erkannt werden, bevor man die Früchte sieht, die es hervorgebracht hat. Das Studium der Schrift im Licht der Tradition ist, als kenne man den Baum an seinen Früchten. Deshalb sagte Origenes, dass „der geistliche Sinn der ist, den der Geist der Kirche gibt“. (5) Er identifiziert sich mit der kirchlichen Lesart oder sogar mit der Tradition selbst, wenn wir unter dem Begriff Tradition nicht nur die feierlichen Erklärungen des Lehramts verstehen (die im übrigen sehr wenige Texte aus der Bibel betreffen), sondern auch die Erfahrung der Lehre und der Heiligkeit, in der das Wort Gottes gleichsam erneut Fleisch angenommen und sich im Lauf der Jahrhunderte durch den Heiligen Geist „ent-faltet“ hat.
Wessen es bedarf, ist also keine geistliche Lesung, die an die Stelle der aktuellen wissenschaftlichen Exegese verbunden mit einer mechanischen Rückkehr zur Exegese der Väter tritt. Es geht vielmehr um eine neue geistliche Lesung, die dem enormen Fortschritt entspricht, den das Studium der „Buchstabens“ verzeichnen kann. Eine Lesung also, die die Lebendigkeit und den Glauben der Väter und gleichzeitig die Konsistenz und Ernsthaftigkeit der modernen Bibelwissenschaft hat.
6. Der Geist, der von allen Richtungen weht
Aus der Ebene, die mit vertrockneten Gebeinen übersät war, hörte der Prophet Ezechiel die Frage: „Können diese Gebeine wieder lebendig werden?“ (Ez 37,3). Dieselbe Frage stellen wir uns heute: wird die von einem lang andauernden Exzess an Philologismus ausgetrocknete Exegese erneut den Schwung und das Leben finden können, die sie in anderen Augenblicken der Geschichte der Kirche hatte? Nachdem P. de Lubac die lange Geschichte der christlichen Exegese studiert hatte, zieht er einen ziemlich traurigen Schluss und sagt, dass den Modernen die Voraussetzungen fehlen, um eine geistliche Lesung wie jene der Väter neu erstehen zu lassen; es fehlt an jenem schwungvollen Glauben, an jenem Sinn für die Fülle und die Einheit, die sie hatten; wollte man also heute ihren Wagemut nachahmen, so käme dies gleichsam einer Profanierung gleich, da uns der Geist fehlt, aus dem jene Dinge hervorgingen. (6)
Dennoch verschließt er der Hoffnung nicht gänzlich die Tür und sagt: „Will man etwas von dem wieder finden, was in den ersten Jahrhunderten der Kirche die geistliche Lesung der Schrift war, muss man vor allem eine geistliche Bewegung neu herstellen“. (7) Im Abstand von einigen Jahrzehnten, mit dem II. Vatikanischen Konzil dazwischen, scheint es mir, in diesen letzten Worten eine Prophezeiung ausmachen zu können. Jene „geistliche Bewegung“ und jener „Schwung“ haben begonnen sich einzustellen, nicht aber weil sie von Menschen programmiert oder vorhergesehen worden wären, sondern weil der Geist unerwartet erneut aus allen Himmelsichtungen über die ausgetrockneten Gebeine zu wehen begonnen hat. Gleichzeitig mit dem Auftreten von Charismen ist auch eine erneuerte geistliche Lesung der Bibel zu vermerken, und auch dies ist eine der köstlichsten Früchte des Geistes.
Wenn ich an Bibel- und Gebetstreffen teilnehme, so erstaunen mich so manches Mal die Gedanken zum Wort Gottes, die – wenn auch in einer einfacheren Sprache – gänzlich jenen ähneln, die zu ihrer Zeit Origenes, Augustinus oder Gregor der Große vorbrachten. Die Worte über den Tempel, über das „Zelt Davids“, über das zerstörte und nach dem Exil neu errichtete Jerusalem werden in aller Einfachheit und mit Sachbezug auf die Kirche, auf Maria, auf die eigene Gemeinschaft oder das persönliche Leben angewandt. Was von den Persönlichkeiten des Alten Testaments erzählt wird, führt dazu, in Analogie oder als Antithese an Jesus zu denken, und was von Jesus erzählt wird, wird in Bezug auf die Kirche und die einzelnen Gläubigen angewandt und aktualisiert.
Einige Ratlosigkeit gegenüber der geistlichen Lesung der Bibel entsteht dadurch, dass die Unterscheidung zwischen Erklärung und Anwendung nicht berücksichtigt wird. Mehr als zu beanspruchen, den Text zu erklären und ihm dabei einen Sinn zuzuweisen, der der Absicht des heiligen Autors fern steht, geht es in der geistlichen Lesung im Allgemeinen darum, den Text anzuwenden oder zu analysieren. Das ist es, was wir schon im Neuen Testament gegenüber den Worten Jesu sehen. Manchmal ist zu bemerken, dass ein Gleichnis Jesu in den Synoptikern verschiedene Anwendungen findet, je nach den Bedürfnissen und Problemen der Gemeinschaft, für die jeweils geschrieben wird.
Die Anwendungen der Väter und die heutigen besitzen, wie offensichtlich ist, nicht den kanonischen Charakter jener ursprünglichen Anwendungen, aber der Prozess, der zu ihnen führt, ist derselbe und gründet auf der Tatsache, dass die Worte Gottes keine toten Worte sind, „die unter Öl aufzubewahren wären“, würde Péguy sagen. Es sind „lebendige“ und „aktive“ Worte, die fähig sind, verborgene Sinne und Möglichkeiten entspringen zu lassen, als Antwort auf neue Fragen und Situationen. Es ist dies eine Folge dessen, was ich „die aktive Eingebung“ der Schrift genannt habe, das heißt der Tatsache, dass sie nicht nur vom „Geist eingegeben“ ist, sondern dass auch den Geist „atmet“ und ihn ständig atmet, wenn sie mit Glauben gelesen wird. „Die Schrift – so sagte der hl. Gregor der Große – cum legentibus crescit, sie wächst zusammen mit denen, die sie lesen“. (8) Sie wächst und bleibt dabei unversehrt.
Ich ende mit einem Gebet, das ich einmal von einer Frau hörte, nachdem die Episode von Elijas verlesen worden war, der beim Aufstieg in den Himmel dem Elischa zwei Anteile seines Geistes lässt. Es ist dies ein Beispiel von geistlicher Lesung in dem Sinn, den ich soeben erklärt habe: „Danke, Jesus, dass du uns bei Deiner Himmelfahrt nicht nur zwei Anteile deines Geistes, sondern deinen ganzen Geist hinterlassen hast! Danke, dass du ihn nicht einem einzigen Jünger, sondern allen Menschen hinterlassen hast!“
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(1) Texte in H. de Lubac, Histoire de l’exégése médiévale, I,1, Paris,Aubier 1959, S. 119 ff.
(2) Hl. Ambrosius, De Spiritu Sancto, III, 112.
(3) Hl. Augustinus, Conf . IV, 12, 18.
(4) Vgl. H.G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960.
(5) Origenes, In Lev. hom. V, 5.
(6) H. de Lubac, Exégèse médiévale, II, 2, S. 79.
(7) H. de Lubac, Storia e spirito, Rom 1971, S. 587.
(8) Gregor der Große, Moralischer Kommentar zu Hijob, 20,1 (CC 143A, S.