Herr, wir
loben dich und preisen dich und danken dir für diesen Tag, diesen
Sonntag, den Tag deiner Auferstehung. Wir bitten dich um deinen
Heiligen Geist, den du verheißen und geschenkt hast, dass er auch in
dieser Stunde uns begleite, uns das Herz öffne, dass wir deinen Weg
erkennen, dich suchen und finden und dass wir die Freude, dich zu
finden, weitersagen, weitergeben durch unser Wort, durch unser Leben.
Amen.
I.
Die heutige Katechese hat einen etwas seltsamen Titel: „Jesus – Sohn
Gottes in heikler Mission“. Das Wort „Mission“, ich habe es letztes
Mal schon angesprochen, löst Ängste, Befürchtungen aus: Es ist ein
Wort, das mit Zwang in Verbindung gebracht wird, Indoktrination,
Proselytismus (darunter versteht man, Menschen durch materielle
Anreize zur Bekehrung zu drängen oder gar zu nötigen). Heute sei
Dialog angesagt und nicht Mission, so ist oft zu hören. Aber wenn ich
den weltlichen, profanen Sprachgebrauch anschaue, dann stelle ich
fest, dass das Wort Mission sehr oft vorkommt, vor allem natürlich im
Englischen, aber auch im Deutschen. Ich erinnere mich an die Anfänge
der Weltraumfahrt, da sprach man von der Voyager-Mission, der
Explorer-Mission und ich weiß nicht, wie sie alle hießen, die
Missionen der Raumschiffe, der Sonden, der Satelliten. Ich bin kein
sehr erfolgreicher und fleißiger Krimileser, aber es gehört mit zu den
Grundfiguren eines Krimis oder eines Spionageromans, dass man auf
heikle Missionen mitgenommen wird. Ein Spion wird auf eine heikle
Mission geschickt, mit einer geheimen Botschaft, mit einem besonderen
Auftrag, in eine gefährliche Situation. Wenn alles gut gegangen ist,
dann kehrt er zurück – „Mission erfüllt“, und dann ist die Story zu
Ende. Geheime Missionen gehören zum Geschäft der Diplomaten, wie
überhaupt der Begriff Mission in der Diplomatensprache sehr häufig
vorkommt. Es gibt eine „Ständige Mission“ bei den Vereinten Nationen,
nicht nur des Heiligen Stuhls, sondern auch von anderen Staaten und
Institutionen. „Gesandtschaft“, das Wort ist ja nichts anderes als
„Mission“. Ein Gesandter ist ein „Emissär“ eines Staates oder einer
Organisation. Also ist das Wort Mission durchaus in unserem profanen
Sprachgebrauch reichlich vorhanden.
Was gehört zu einer Mission: ein Auftrag, ein Beauftragender, ein
Beauftragter, eine Vollmacht, um den Auftrag auszuführen, und
natürlich oft auch delikate, heikle Situationen, die es zu bewältigen
gilt und für die es vielleicht einen Sonderauftrag braucht, einen
geheimen oder einen öffentlichen Sonderauftrag. Es bedarf natürlich
auch des entsprechenden Mutes und der entsprechenden Ausrüstung des
Gesandten, dass er seine Mission wahrnehmen kann. Noch ein Kontext ist
mir eingefallen, in dem das Wort „Mission“ heute häufig vorkommt, vor
allem im angelsächsischen Raum. Jede Institution, die etwas auf sich
hält, entwickelt heute ein Leitbild, wir haben das auch in der
Erzdiözese gemacht, das gehört sozusagen zum guten Ton. Ministerien,
Institutionen, Spitäler, Sozialeinrichtungen, auch große Konzerne
haben ihre Leitbilder. Auf Englisch nennt man das Leitbild ein
„mission statement“, also eine Erklärung über die Ziele einer
Einrichtung. Man versucht zu formulieren: Was sind unsere Ziele? Was
sind unsere Mittel? Was sind unsere Prioritäten? Das ist nicht nur
eine Mode, sondern das hat durchaus auch zu tun mit dem Gespür dafür,
dass es gut tut und auch notwendig ist, eine gewisse
Betriebsphilosophie zu formulieren, Ziele, Aufgaben, Prioritäten,
Mittel, die eingesetzt werden.
Warum also sollen wir nicht von unserer Mission sprechen? Es ist kein
Missbrauch, wenn wir dieses Wort gebrauchen. Auch die Kirche hat einen
Auftrag, sie hat einen Auftraggeber, sie hat Beauftragte, sie hat
Ziele, sie hat Prioritäten, sie hat Mittel. Warum sollen wir nicht
unser „mission statement“ formulieren? Was ist also unser Ziel, was
sind unsere Mittel? – Keine Angst vor dem Wort Mission! Es wird uns
noch oft in diesem Jahr begleiten. Es geht also in diesen Katechesen
im Laufe des Jahres immer am ersten Sonntag des Monats (außer im
Jänner, da ist es der zweite), um „our mission“. Was ist our mission?
II.
Die Antwort ist sehr einfach. Our mission, unsere Mission haben wir
von Jesus erhalten. Heute geht also unser Blick auf die Mission Jesu:
Was ist seine mission und sein mission statement? – Man muss ja heute
alles, wenn man es anbringen will, auf Englisch sagen, dann klingt es
gleich besser. – Jesus hat selber sehr oft davon gesprochen, dass er
gesandt sei. Ich nenne ein paar Worte aus den Evangelien, sie sind
Ihnen vertraut, ich rufe sie nur in Erinnerung. Da gibt es ein Wort,
das in verschiedenen Varianten immer wieder vorkommt, etwa wenn Jesus
sagt: „Wer euch aufnimmt, der nimmt mich auf, und wer mich aufnimmt,
der nimmt den auf, der mich gesandt hat“ (Mt 10,40). Wir werden auf
das noch zurückkommen, immer wieder, denn es zeigt die Nähe unserer
Sendung zur Sendung Jesu. „Wer euch aufnimmt, der nimmt mich auf, und
wer mich aufnimmt, der nimmt den auf, der mich gesandt hat.“ Ein
andermal heißt es: „Wer dieses Kind in meinem Namen aufnimmt, der
nimmt mich auf, und wer mich aufnimmt, der nimmt den auf, der mich
gesandt hat“ (Lk 9,36). Jesus weiß sich also als Gesandter in einer
Mission. Noch anders lautet dieser Text: „Wer eines von solchen
Kindern in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf, und wer mich
aufnimmt, der nimmt nicht mich auf, sondern den, der mich gesandt
hat“, so heißt es im Evangelium des Markus (Mk 9,36). Bei Lukas lesen
wir dieses beachtliche, bewegende Wort: „Wer euch verachtet, verachtet
mich. Wer aber mich verachtet, verachtet den, der mich gesandt hat“
(Lk 10,16). Nun hat Jesus immer wieder auch davon gesprochen, dass
sein ganzer Weg eine Sendung ist, etwa wenn er sagt, ganz am Anfang
des Evangeliums: „Ich muss auch in andere Städte gehen, um die
Frohbotschaft zu verkünden, denn dazu bin ich gesandt“ (Lk 4,43). „Ich
bin“, sagt er der heidnischen, syro-phönizischen Frau, „nur zu den
verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt“ (Mt 15,24). Das ist
seine Mission.
Manchmal spricht Jesus auch davon, dass er gekommen ist, er ist dazu
gekommen, zum Beispiel, wenn er sagt: „Ich bin nicht gekommen,
Gerechte zu berufen, sondern Sünder“ (Mt 9,13). Da stellt sich die
Frage: Woher ist er denn gekommen? Er hat offensichtlich eine Sendung,
in deren Namen er kommt, und einen, der ihn gesandt hat. Wenn er am
Anfang der Bergpredigt sagt: „Ich bin nicht gekommen, das Gesetz
aufzuheben, sondern es zu erfüllen“ (Mt 5,17); einmal sagt er: „Ich
bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert“ (Mt
10,34); oder er sagt: „Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu werfen“
(Lk 12,49) – immer heißt es: „Ich bin gekommen …“ Wer ist der, der ihn
gesandt hat? Was ist sein mission statement, seine Aufgabe, die er
mitgebracht hat? Es wird noch deutlicher, wenn er sagt: „Der
Menschensohn ist gekommen, nicht um sich bedienen zu lassen, sondern
um zu dienen und sein Leben als Lösegeld für viele hinzugeben“ (Mt
20,28); oder wenn er sagt: „Ich bin gekommen, das Verlorene zu suchen
und zu retten“ (Lk 19,10). Und ganz besonders ausdrücklich ist es dann
im Johannesevangelium, wo Jesus an vielen Stellen davon spricht, dass
er vom Vater gekommen ist. Da sagt er es dann ganz ausdrücklich, er
verschweigt nicht, wer ihn gesandt hat. Jesus ist also ausgegangen,
gekommen, gesandt (Vgl. dazu H. U. v. Balthasar, Theodramatik II/2, S.
139-141).
Niemand sendet sich selber. Niemand gibt sich selber eine Mission. Wir
sprechen nicht von einer Mission, wenn jemand im eigenen Namen redet.
Wir setzen voraus, dass in einer Sendung auch ein Sendender und auch
ein besonderer Auftrag da ist. Versuchen wir also heute, den Ursprung
dieser Sendung, dieser mission Jesu etwas näher anzusehen. Ich habe in
einer früheren Katechese einmal schon das Gleichnis von den bösen
Winzern gebracht. Ich möchte es heute noch einmal besprechen, im
Markusevangelium, Kap. 12, weil da in einer ganz außerordentlich
starken Weise die Sendung Jesu von ihm selber formuliert ist: „Ein
Mann legte einen Weinberg an, zog ringsherum einen Zaun, hob eine
Kelter aus und baute einen Turm. Dann verpachtete er den Weinberg an
Winzer und reiste in ein anderes Land. Als nun die Zeit dafür gekommen
war, schickte er einen Knecht zu den Winzern, um bei ihnen seinen
Anteil an den Früchten des Weinbergs holen zu lassen. Sie aber packten
und prügelten ihn und jagten ihn mit leeren Händen fort. Darauf
schickte er einen anderen Knecht zu ihnen; auch ihn misshandelten und
beschimpften sie. Als er einen dritten schickte, brachten sie ihn um.
Ähnlich ging es vielen anderen; die einen wurden geprügelt, die andern
umgebracht.“
Jetzt der entscheidende Satz: „Schließlich blieb ihm nur
noch einer: sein geliebter Sohn. Ihn sandte er als letzten zu ihnen,
denn er dachte: Vor meinem Sohn werden sie Achtung haben. Die Winzer
aber sagten zueinander: Das ist der Erbe. Auf, wir wollen ihn töten,
dann gehört sein Erbgut uns. Und sie packten ihn und brachten ihn um
und warfen ihn aus dem Weinberg hinaus.“ (Mk 12,1-8) Zuletzt also
sandte er ihnen seinen geliebten Sohn. „Vor ihm werden sie Achtung
haben“, sagte sich der Vater. Hier kommt der zur Sprache, der gesendet
hat. In diesem Gleichnis spricht Jesus von sich und von dem, der ihn
gesandt hat. Gott hat Jesus als letzten gesandt. Er hat dabei einen
sehr hohen Einsatz riskiert. Nachdem er diese vielen schlechten
Erfahrungen gemacht hat mit den Knechten, denkt er sich: Ich riskiere
es, ich sende auch noch meinen Sohn. Damit hat Jesus in
unvergleichlich klarer Weise gesagt, wer er ist aber auch was seine
Sendung ist.
Nun stellt sich die Frage: Warum wagt Gott diesen
Einsatz? Ich möchte fast sagen: Warum hat sich Gott das angetan? Warum
hat Gott seinen Sohn in eine so heikle, so gefährliche Mission
geschickt? Sie endete ja tatsächlich, wie es Jesus vorausgesagt hat in
dem Gleichnis, damit, dass sie ihn umbringen.
Jesus hat dem Nikodemus, diesem Ratsherrn von Jerusalem, gegenüber in
einem langen Nachtgespräch ganz klar gesagt: Warum wagt Gott diesen
Einsatz? Ich erinnere an das, was im 3. Kapitel im Johannesevangelium
steht, wo Jesus zu Nikodemus sagt: „Gott hat die Welt so sehr geliebt,
daß er seinen einzigen Sohn dahingegeben hat, damit jeder, der an ihn
glaubt, nicht verloren geht, sondern das ewige Leben hat. Denn Gott
hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet,
sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird“ (Joh 3,16-17). In
diesem vertraulichen nächtlichen Gespräch hat Jesus dem Nikodemus drei
ganz entscheidende Worte gesagt:
1. Es geht um die Rettung der Welt,
nicht mehr und nicht weniger.
2. Es liegt offensichtlich Gott am
Herzen, dass die Welt gerettet wird, dass sie nicht zugrunde geht. Und
diese Haltung Gottes, dieses Verlangen Gottes nennt Jesus: „So sehr
hat Gott die Welt geliebt …“, so wichtig ist sie ihm.
3.
Offensichtlich erfordert diese Rettung einen enormen Einsatz. Gott
muss seinen eigenen Sohn riskieren.
III.
Schauen wir uns ein Wenig diese Aussagen näher an. Wenn Ihnen jetzt
Science-Fiction-Romane in den Sinn kommen, seien Sie nicht erschreckt
darüber, sie sprechen Situationen an, die durchaus auch etwas mit der
Heilsgeschichte zu tun haben, mit dem Drama, um das es hier geht. Es
geht um eine abenteuerliche Rettungsaktion. Es geht um eine wirkliche
Rettungsaktion. Offensichtlich ist die Welt in Gefahr. Wenn nicht
etwas geschieht, ist sie verloren. Das ist die Ausgangslage. So hat
Jesus die Lage der Welt gesehen. So hat Gott die Lage der Welt
gesehen. Weil er sie so gesehen hat und weil sie ihm wichtig war, hat
er alles darangesetzt, dass sie nicht verloren geht. Ausgangspunkt
also ist eine dramatische Situation: Es steht um die Welt schlecht.
Sie ist in höchster Gefahr. Damit sind nicht nur die aktuellen
Gefährdungen der Welt gemeint, die Tragödien, von denen wir Tag für
Tag hören.
– Ich habe dieser Tage einen Bischof aus Sudan zu Gast, aus
dem Südsudan, und ich hatte jetzt mehrere Tage die Gelegenheit ihm
zuzuhören über die Lage der Christen, die Lage der Bevölkerung im
Südsudan. Es ist eine unfassbare Tragödie, die sich unter den Augen
der Weltöffentlichkeit abspielt, ohne dass man einen Finger rührt.
Denn es geht um Öl, das ist wichtiger als Menschen. Christen werden
hier einfach preisgegeben, und die Christenheit des Westens rührt sich
nicht.
– Nein, es geht nicht nur um die aktuellen Tragödien, sondern
es geht um die Lage der Welt, sozusagen von Anfang an. Der alte
Apostel Johannes, der so viel von der Liebe sprach, war nicht
unbedingt ein Pessimist. Aber er sagt einmal, im ersten Brief: „Wir
wissen, dass die ganze Welt im Bösen liegt“ (1 Joh 5,19). Dieses
Wissen um die Lage der Welt ist verbunden mit dem Wissen um eine
Urkatastrophe. Wir nennen sie den Sündenfall. Die Welt ist in
Verstörung geraten. Sie ist in einem Zustand, der nicht der Zustand
ist, den Gott für die Welt wollte. Das hat er nicht gewollt. Das hätte
nicht geschehen dürfen, hätte nicht geschehen sollen. Die heikle
Mission des Sohnes Gottes ist erst durch diese Katastrophe überhaupt
notwendig geworden. Worin besteht sie? Die Katastrophe besteht darin –
ich gebrauche eine ganz biblische Sprache –, dass eine feindliche
Macht die Herrschaft über die Welt erlangt hat. Das ist nicht Science
Fiction, sondern das ist Licht der Offenbarung. Dass es in der Welt
nicht rosig zugeht, sieht, glaube ich, jeder, der in seine Umgebung,
ins eigene Herz und in die Weite Welt schaut. Das ist nicht zu
leugnen. Der desolate Zustand der Welt, über den sich niemand
hinwegtäuschen kann, wird aber erst durch das Licht der Offenbarung
wirklich erhellt. Erst wenn Gott sein Licht in die Welt leuchten
lässt, wird uns bewusst wie schwerwiegend die Lage der Welt ist. Die
Welt ist unter eine Fremdherrschaft geraten. Einer, der darauf kein
Anrecht hat, hat die Herrschaft über die Welt und die Menschen an sich
gerissen, usurpiert. Die Menschen haben ihm Raum gegeben. Sie haben
ihn hereingelassen. Wir haben ihm die Tür geöffnet. Er hat diese
Gelegenheit wahrgenommen, um die Herrschaft an sich zu reißen und die
Menschen zu Sklaven zu machen. Seither ist die Menschheit in
Knechtschaft. Die Instrumente dieser Versklavung, sagt uns die Bibel,
sind zwei: die Sünde und die Angst vor dem Tod.
Die Sünde, sie
täuscht. Sie verspricht uns Glück und Freiheit, aber sie macht unfrei
und unglücklich. Seit der Ursünde ist das die tragische Erfahrung der
Menschheit. Die Verstrickung ist umso tragischer, als es ja nie bei
einer Sünde bleibt, denn die Sünde zeugt weitere Sünden, lässt immer
eine Spur des Schadens zurück, oft nicht nur kleine Schaden, sondern
Verwüstungen. Sünden verfestigen sich und bilden, wie Paul VI. gesagt
hat, „sündige Strukturen“, Strukturen der Ungerechtigkeit, die ganze
Völker versklaven können, die ganze Menschengruppen in ungerechte
Situationen zwängen, Verhärtungen von Unrechtsformen, die aus
einzelnen Sünden entstanden sind. Wenn ein Land in der Korruption
versinkt, das sind Einzelsünden, die dann zu einem Ganzen von sündigen
Strukturen geworden sind, von Strukturen der Sünde. Ein Blick in die
tragische Situation im Heiligen Land zeigt uns, wie diese Verstrickung
in ein unlösbar völlig ausweglos scheinendes Böses vor sich gehen
kann.
Das zweite Herrschaftsinstrument dessen, der die Welt
beherrscht, ist die Angst vor dem Tod. Der Hebräerbrief spricht das
ganz ausdrücklich an, wenn er sagt, dass die Menschheit durch
Todesfurcht ihr ganzes Leben lang in Knechtschaft gehalten wird. Das
kommt daher, sagt der Hebräerbrief, dass der Teufel die Gewalt des
Todes habe (Hebr 2,15). Sünde, Tod und Teufel, das klingt nicht
ungeheuer zeitgemäß, aber es ist ganz und gar biblisch, sehr nüchtern
betrachtet.
Nun kann man fragen: Ist das nicht eine viel zu einseitige Betrachtung
der Welt? Es gibt doch so viel Gutes in der Welt. Muss man so
pessimistisch auf die Welt sehen? Aber diese Analyse, diese Sichtweise
ist nicht einfach das Resultat unserer Beobachtung. Die Bibel zeigt
uns eines sehr deutlich: Erst wenn Gott durch seine Offenbarung uns
das Licht seiner Weisheit schenkt, beginnen wir die Lage der Welt
wirklich klar zu sehen. Wir täuschen uns sehr leicht über uns selber,
über die Welt, wenn nicht das Licht Gottes sie erleuchtet. Erst in
diesem Licht der Offenbarung Gottes sehen wir, warum es diese geballte
und erdrückende Macht des Bösen und des Todes gibt. Wir können zwar
mit dem Licht unserer Vernunft vieles Einzelnes erkennen, Ursachen
sozialer, gesellschaftlicher, psychischer Übel.
Wir können vieles
verstehen, warum es so schlecht funktioniert und wie es vielleicht zu
verbessern ist. Aber diese tiefe Verstörtheit der Welt, die kann erst
erkannt werden, wenn Gottes Wort und Licht sie aufhellt. Das ist der
Grund, warum es einer besonderen mission bedurfte, um die feindliche
Herrschaft zu brechen. Erst durch die Sendung Jesu ist wirklich klar
geworden, wie es um die Welt steht. Erst als man gesehen hat, welchen
Einsatz es braucht, welchen Einsatz Gott riskiert hat, um uns zu
retten, erst dadurch wird uns bewusst, wie ernst die Lage war. Wenn
man bei einem Verkehrsunfall einen Hubschrauber sieht – das ist mir
neulich auf der Südautobahn passiert, wir sind in einem Stau gesteckt,
plötzlich kam ein Hubschrauber und auf der Pannenspur ein
Rettungswagen nach dem anderen – daraus schließt man: Das muss etwas
sehr ernstes sein. Der Einsatz an Rettungsmitteln zeigt uns, dass hier
offensichtlich etwas Ernstes geschehen ist. Wenn Gott so weit gehen
muss, dass er seinen Sohn schickt, dann muss es schon etwas sehr
Ernstes sein. Wenn das der Preis der Rettung der Welt ist, dann
bedurfte es offensichtlich wirklich einer dramatischen Rettungsaktion.
Gott allein hat wirklich gewusst, wie ernst die Lage ist.
Das Eigene der Sünde ist ja, dass sie uns auch täuscht, dass wir sie
verharmlosen, ihre Tragweite unterschätzen. Ich glaube, nur so
verstehen wir, warum Heilige oft so ein akutes, so scharfes
Sündenbewusstsein haben. Das ist nicht, weil sie besonders viel mehr
sündigen als wir. Die hl. Katharina von Siena hat am Ende ihres Lebens
von sich gesagt: „Ich bin schuld an allen Übeln der Welt.“ Fromme
Übertreibung, oder im Licht der Nähe Gottes die Einsicht, dass auch
die kleinste Sünde ein großes Gewicht hat, weil sie im Grunde als
Abwendung von Gott, als Abwendung von seinem Willen immer eine
Katastrophe ist?
Erst wenn wir im Licht Gottes sehen, welches Gewicht
die Sünde hat, dann begreifen wir, warum es eines so großen Einsatzes
bedurfte. Wir sind ein bisschen wie Wanderer über Gletscherspalten,
von denen wir nichts wissen oder die wir nur ahnen. Wir ahnen nicht,
wie gefährlich es ist. Es bedarf großer Klarsicht, vieler Erfahrung,
um zu wissen, in welche Gefahr man sich begibt. Wie oft sind die
Eltern in dieser Lage, dass sie sehen, in welchen Gefahren sich die
Kinder befinden. Die Kinder merken es nicht. Deshalb konnte auch nur
Gott selber den Rettungsplan ersinnen, denn er alleine wusste genau,
wo der wunde Punkt ist, wo es wirklich der Rettung bedurfte.
Ohne eine
genaue Kenntnis der Gefahr, ohne eine Durchsicht, eine Klarsicht über
die Ursachen einer Katastrophe ist Hilfe und Rettung gar nicht
möglich. Die Ärzte in Moskau konnten am Anfang – ich weiß nicht, ob es
inzwischen gelöst ist – gar nicht helfen, weil sie nicht wussten, was
für ein Giftgas die Opfer eingeatmet hatten. Man kann nur retten, wenn
man die Ursachen kennt. Und wer kennt sie besser, als Gott selber.
Im Rückblick können wir zugleich erschreckend und dankbar erkennen und
sagen: Wie ernst muss die Lage gewesen sein, dass Gott seinen eigenen
Sohn gewissermaßen ins Feuer geschickt hat, um uns zu retten.
Tatsächlich ging es so. Erst durch das Erfassen des Unfassbaren,
nämlich dass Gott seinen eigenen Sohn zu unserer Rettung gesandt hat,
wurde das ganze Ausmaß des Dramas bewusst. Wir können das ganz genau
in der Bibel verfolgen, wie erst durch das Licht Christi auch die
Wirklichkeit, die tragische Wirklichkeit der Ursünde, der Erbsünde und
ihrer Konsequenzen bewusst wurde. Christus ist nicht nur unser Retter,
er offenbart auch, wie dringend die Rettung war. Ich frage mich
manchmal: Ist es nicht so, dass wir erst durch das Finden Gottes, das
Finden Jesu auch darauf kommen, wie ernst die Lage war, aus der er uns
befreit hat durch die Umkehr zu ihm?
IV.
Wie sieht der Rettungsplan Gottes aus? Sicher ist es nicht nur einfach
eine „kosmetische“ Verbesserung, sondern eine radikale Rettung, die an
die Wurzel geht, das Übel bei der Wurzel fasst. Noch einmal der alte
Apostel, Evangelist Johannes, er schreibt: „Dazu ist der Sohn Gottes
gekommen, dass er die Werke des Teufels zerstöre“ (1 Joh 3,8). So
einfach, so radikal sagt es Johannes. Es ist uns aus der Offenbarung
klar: Gott hat seinen Sohn gesandt, um die Welt aus der Knechtschaft
zu befreien. Das ist die mission, die er aufgetragen bekommen hat.
Aber wie soll Jesus diese mission erfüllen? Davon hängt auch ab, wie
wir unsere mission erfüllen.
Was heißt für uns Mission? Eines ist
klar: Die Befreiungsaktion, um die es hier geht, kann nicht eine
Zwangsaktion sein, denn sie muss ja frei machen. Das heißt, sie muss
die Ursachen der Unfreiheit an der Wurzel packen und heilen. Im
Rückblick auf den Weg, den Gott gewählt hat, um uns zu befreien,
können wir nur staunend, dankend sagen, wie wunderbar er alles gefügt
hat, wie groß das Wagnis seiner Liebe ist. Er hat einen unerhörten,
einen unahnbaren Weg gewählt, um uns im innersten frei zu machen.
Gott
hat sich ganz auf unsere Situation eingelassen. „Gott hat seinen Sohn
gesandt in der Gestalt des Fleisches“, sagt die Bibel (Röm 8,3), das
heißt in Fleisch und Blut, als Mensch, wie wir. Ich kann mir denken,
ich weiß es nicht, aber ich glaube es doch, dass es für den
Beherrscher der Welt, den Jesus den „Fürst dieser Welt“ nennt (Joh
12,31; 14,30; 16,11), den Widersacher, den Menschenfeind, den Teufel,
völlig überraschend und schockierend gewesen sein muss, dass Gott
nicht imposant und mächtig, nicht mit der ganzen Schubkraft seiner
Allmacht gekommen ist, sondern, Paulus sagt es in einem Hymnus, in
einem Lied: „Er hat sich selbst entäußert“ (Phil 2,7), ganz wörtlich:
„Er hat sich selber leer gemacht“, in voller Freiheit, niemand hat ihn
dazu gezwungen. Seine mission bestand darin, dass er alles weggeben
hat. Er ist Knecht und Sklave geworden, um uns ganz gleich zu sein,
außer der Sünde, ganz und gar dem Vater gehorsam.
Seine mission war also: herabsteigen, sich klein machen, einer von uns
werden, ganz real. Deshalb, sagt der Hebräerbrief mehrmals, konnte er
mit uns fühlen. Er wurde in allem versucht wie wir, nur hat er nicht
gesündigt. Er hat wirklich Fleisch und Blut angenommen. Im
Hebräerbrief heißt es einmal: „Da nun die Menschenkinder Fleisch und
Blut gemeinsam haben, so hat auch er in gleicher Weise daran
teilgenommen“ (Hebr 2,14).
Der Rettungsplan war also: Er ist uns
gleich geworden. Die heikle Mission Jesu bestand darin, dass er
wirklich unser Bruder geworden ist und nicht gesündigt hat. Die
Rettungsaktion war also, ganz in unsere Lage einzusteigen, mit allen
Mühen und Leiden wirklich unter uns zu leben, einer von uns zu sein.
Das heißt, ich sage es jetzt bewusst so: Es hat ihm nicht gegraust vor
uns. „Non horuisti“, heißt es im Te Deum, im Großer Gott, wir loben
dich: „Du hast uns nicht verabscheut.“ Trotz aller Schäbigkeit und
allen Elends dieser Welt: Du hast uns nicht verachtet. Du, der
Heilige, bist mitten unter uns Sünder gekommen.
Wenn man schaut: Wo sind mission statements Jesu, sozusagen das
Leitbild Jesu?, fällt einem vieles ein. Ich möchte nur zwei nennen.
Als Jesus an den Jordan ging mit dreißig Jahren, als er Nazaret
verlassen hat, nachdem er dreißig Jahre lang ein verborgenes Leben
gelebt hat mitten unter uns, mit der Arbeit, mit dem Alltag, da hat er
noch einen weiteren Schritt getan. Am Jordan, bei Johannes dem Täufer,
wo die Menschen kommen um eine Bußtaufe zu empfangen, ihre Sünden zu
bekennen, da ist plötzlich Jesus mitten unter ihnen, steht er mitten
unter ihnen, wie ein Sünder (Mt 3,13-17).
Das ist sein mission
statement, sein Leitbild, da ist sein Platz, das ist seine Strategie,
seine Rettungsstrategie, mitten unter uns Sündern. Ein zweites
Leitbild, als Jesus den Matthäus, den Levi berufen hatte, den Zöllner
von der Zollschranke weg, hat er sich mit ihm und seinen Freunden an
einen Tisch gesetzt, mit Zöllnern und Sündern (Mt 9,9-13) – Leitbild,
dem wir folgen sollen, weil du uns Herr gesandt hast, diesen Weg dir
nachzugehen.
V.
Aber das war noch nicht der ganze Rettungsplan. Das war nur die
Vorbereitungsphase. Der entscheidende Schritt des Rettungsplanes war,
gewissermaßen die Machtzentrale des Feindes zu finden, dort, wo er
seine Herrschaft ausgeübt hat, diese Stelle zu finden und ihn dort
auszuschalten. Nur er wusste, wo diese Machtzentrale wirklich war, von
wo aus diese feindliche Herrschaft ihre Macht aufgebaut hatte.
Die
Jünger Jesu waren entsetzt, als er den Weg zu dieser Machtzentrale
beschritt, als er allmählich begann, ihnen seinen Plan zu enthüllen.
Sie hielten ihn für wahnsinnig. Petrus nimmt ihn beiseite und sagt
ihm: Das darf dir niemals passieren, dass du nach Jerusalem gehst, um
zu leiden. Petrus will seinen Plan durchkreuzen, seinen Rettungsplan.
Und nie hat Jesus so scharf reagiert, wie in dem Moment, als er sich
umdreht und zu Petrus sagt: „Hinweg, hinter mich, Satan“, nennt er
ihn, denn „du denkst nicht dem Plan Gottes entsprechend, sondern nach
Menschenart“ (Mt 16,23). Der Plan Gottes führt ihn in den Knotenpunkt
der Katastrophe. Keine militärische Aktion, sondern die Sünde der Welt
hinweg nehmen. Das ist der Kernpunkt, die zentrale mission, die Jesus
aufgetragen bekommen hat. Das hat der Täufer schon früh geahnt, als er
Jesus am Anfang seines Wirkens sah am Jordan und seine Jüngern,
Schülern sagte: „Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinweg
nimmt“ (Joh 1,29.36).
Aber wie konnte Jesus das machen? Wie kann er das ganze Gewicht der
Sünde aufheben? Wo ist gewissermaßen der archimedische Punkt, von dem
aus er sozusagen mit einem Griff das ganze Gewicht der menschlichen
Sünde, das ganze Katastrophenpotential der menschlichen Geschichte
aufheben kann? Es ist ein Wort: Es ist dein Wille, nicht meiner –
Gehorsam. Wie groß dieses Gewicht ist, ahnen wir, wenn wir nach
Getsemani schauen, als Jesus flehentlich den Vater bittet, dass dieser
Kelch vorübergehe. Dann sagt er: „Abba, Vater, alles ist dir möglich.
Lass diesen Kelch an mir vorübergehen. Doch nicht wie ich will,
sondern wie du willst“ (Mt 26,39).
Das ist die heikle Mission: „Wie du
willst“, sozusagen mitten in die Höhle des Löwen, dort wo das Unglück
passiert ist, dort hinein ist Jesus gegangen. Wie du willst, nicht wie
ich will. Da musste er den Versucher, den Verführer besiegen, denn der
Versucher hat dem Menschen von Anfang an geraten: Wie du willst, nicht
wie Gott will. Mach deinen Willen, nicht den Willen Gottes! Auf diese
Weise hat er uns dazu gebracht, dass wir seinen Willen tun, den des
Widersachers, dass wir Sklaven seines Willens werden, dass wir das
Joch der Sünde tragen und nicht die Freiheit des Willens Gottes.
Diesen Rettungsplan hat Jesus durchgezogen bis zuletzt, bis zum Tod.
So könnten wir sagen, als er am Kreuz sagt: „Es ist vollbracht“ (Joh
19,30), Mission vollendet. Er hat die Mission vollendet.
Aber, wir können gleichzeitig sagen: Mission vollendet – Mission
beginnt. Hier beginnt die neue Mission, hier beginnt es erst richtig.
Von jetzt an kann die Befreiungsaktion wirklich beginnen. Den ersten,
den Jesus befreit, das ist der andere, der neben ihm am Kreuz hängt
auf der rechten Seite: „Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“
(Lk 23,43). Mission vollendet – Mission beginnt. Jesus hat das Tor
geöffnet, die Gefangenen können heraus, der Sklavenhalter ist
gefesselt, seine Herrschaft ist gebrochen, jetzt kann Mission
beginnen. Durch die Tür, die Jesus geöffnet hat, können Menschen in
die Freiheit gelangen. Er selber ist diese Tür, und er will, dass
möglichst viele mit ihm daran arbeiten, dass viele durch diese Tür
gehen. Wenn Jesus Missionare aussucht, ausbildet, dann bildet er sie
dazu aus, dass sie handeln im Wissen um die Rettungsaktion, die Gott
in Jesus durchgeführt hat, dass diese Rettungsaktion jetzt möglich ist
und dass wir mitspielen dürfen, sollen, müssen.
Deshalb möchte ich in
den beiden nächsten Katechesen darüber sprechen: Wie geschieht das
eigentlich, dass jetzt für uns Mission beginnt? Ich möchte am 1.
Dezember 2002 damit beginnen, dass ich auf die Frau schaue, die das in
einzigartiger Weise gemacht hat, die Mutter Jesu. Sie ist mehr als
alle anderen die, die in die Freiheit führt, die den Weg Jesu kennt,
wie kein anderer. So wird also die Katechese am 1. Dezember über Maria
und die Mission sein und am 12. Jänner 2003 dann über die Frage: Und
wie können wir mitwirken an der Rettungsaktion Gottes, an seiner
mission und an seinem mission statement.
(Kardinal Christoph Schönborn) |