Maria – die Mission im Herzen
Kardinal Schönborn
3. Katechese 2002/03 am 1. Dez. 2002

Wir feiern am 8. Dezember das Fest, wie es volkstümlich der "unbefleckten Empfängnis", der "ohne Erbsünde empfangenen Gottesmutter Maria". Was hat das mit der Mission zu tun? Das soll in dieser Katechese deutlich werden.
 

Wir haben Maria gegrüßt im Lied. Wir wollen heute Abend Maria betrachten. Ich habe dieser Katechese den Titel gegeben: „Maria – die Mission im Herzen“. Gleich zu Beginn sei die Frage gestellt: Was hat Maria denn mit der Mission zu tun? Sie war ja nicht direkt missionarisch aktiv, sie gehörte nicht zu den Missionaren, die durch die Lande gezogen sind. Was hat sie mit der Mission zu tun? Ich hoffe, dass sich das im Lauf der Katechese etwas erhellen und erklären wird.

I.

Lassen Sie mich mit einem Erlebnis beginnen. Im Jahr 1997 bin ich auf dem Flughafen von Buenos Aires in Argentinien angekommen. Da erwartete mich eine größere Gruppe aus einem sehr armen Viertel, aus den Vorstädten von Buenos Aires, aus La Ferrer, wo die Kleinen Schwestern vom Lamm eine Gemeinschaft haben. Für uns etwas ungewohnt hat diese Gruppe Leute, großteils Arme, da also lauthals gesungen mit Gitarre. Und vor allem hatten sie eine Muttergottesstatue mit, der galt offensichtlich die Freude und die Liebe dieser Armen: La Virgen de Itati. Itati ist eines der großen Marienheiligtümer von Argentinien. Sie ist mir dann in den drei Tagen meines Aufenthaltes in Buenos Aires noch oft begegnet. Ich habe von den Wallfahrten nach Itati gehört und vor allem habe ich die Freude gesehen, die diese Armen mit ihrer Virgen, ihrer Muttergottes hatten. Drei Jahre später, im Heiligen Jahr 2000, ist es mit vielen Spenden und viel Sparen gelungen, dass diese Gruppe von Armen zum Heiligen Jahr nach Rom reisen konnte. Die Freude war unbeschreiblich: nach Rom im Heiligen Jahr. Wenn man in La Ferrer lebt, dann kann man so etwas gar nicht träumen. Sie haben dann erzählt, in erfrischender Unbeschwertheit, wie sie im Flugzeug mit ihrer Muttergottesstatue überall herumgegangen sind und die Passagiere im Flugzeug missioniert haben mit ihrer kleinen Madonna: die Freude der Armen von La Ferrer. Auch in Rom haben sie überall diese Statue mitgetragen und wollten sie allen zeigen.
Nun kann man sagen: Das ist eben Südamerika, das ist die etwas überschwängliche Liebe der Lateinamerikaner zur Muttergottes. Tatsächlich: In welchem Land in Lateinamerika gibt es nicht ein großes Marienheiligtum? Aparecida in Brasilien, und alles überragend Guadalupe in Mexiko, Nuestra Señora de Guadalupe.
Was bedeutet Maria für die Mission? Die Geschichte Südamerikas, des Glaubens in Südamerika ist nicht vorstellbar ohne die Rolle Mariens. Der Heilige Vater hat Ende Juli dieses Jahres im Mexiko Juan Diego heiliggesprochen, den einfachen Indio, der im Jahr 1531, also wenige Jahre nach der Eroberung Mexikos durch die Spanier, diese so entscheidende Marienerscheinung hatte, vom 9. bis 12. Dezember 1531. Maria hat ihn angesprochen in seiner Sprache, und das Bild, das er bekommen hat auf seinen Poncho, auf seinen Mantel, es ist das bekannte Bild der Muttergottes von Guadalupe. Gerade in dieser Erscheinung von Mexiko, von Guadalupe, sehen wir, wie sehr Maria in jedem Volk und für alle Völker Mutter ist. Es fasziniert mich, zu beobachten, wie Maria in jedem Land, wo sie hinkommt, wirklich im Herzen dieses Landes ist. Ich konnte es in Sri Lanka sehen, Mardu, das Marienheiligtum von Sri Lanka, gerade an der Grenze zwischen den beiden Kriegsparteien, den Tamilen und den Singalesen, und immer wieder mitten im Konfliktfeld dieses hoffentlich nun zu Ende gehenden Bürgerkrieges, Maria ist dort wirklich zu Hause. Die Menschen haben während des Bürgerkrieges von beiden Seiten sich immer wieder in dieses Heiligtum geflüchtet. Man könnte nun alle Länder durchgehen. Es gibt, glaube ich, kein Land, das nicht ein Marienheiligtum oder mehrere hätte. Jedes Mal ist das Erstaunliche, dass Maria mitten in der Kultur, in der Sprache, in den Emotionen, in der Geschichte eines Landes zu Hause ist, und zwar so zu Hause, dass die Menschen sich in ihr wieder finden und bei ihr geborgen finden. Also Maria, Missionarin in allen Ländern – ist das vielleicht ein Hinweis darauf, dass sie uns die Herzensqualität der Mission zeigt, dass sie die Mission im Herzen hat? Wenn wir zurückschauen in der Kirchengeschichte, zu den ersten Anfängen: Maria ist von Anfang an da, verehrt, gesucht, geliebt. Das älteste Mariengebet, dass uns bekannt ist, das „Sub tuum praesidium“: „Unter deinen Schutz und Schirm fliehen wir, o heilige Gottesgebärerin“, datieren manche bis ins dritte oder vierte Jahrhundert. Die ältesten Marienbilder, wenn Sie im Katechismus nachschauen, das erste Bild im Katechismus der Katholischen Kirche, vor dem Credoteil, ist das wahrscheinlich älteste Marienbild, das uns überliefert ist, aus einer Katakombe in Rom, Ende des dritten Jahrhunderts datiert, eine Mutter mit einem Kind, eine römische Matrone mit einem Kind auf dem Schoß und darüber der Stern, der Stern von Betlehem (Mt 2,2) oder der Stern des Bileam, der in der Vision den Stern aufgehen sieht über Juda (Num 24,17). Und natürlich die ältesten Marienorte: Ephesus wäre zu nennen, wo eine Tradition sagt, dass Maria das Ende ihres irdischen Lebens verbracht hätte. Das ist alles nicht unbekannt aus der Geschichte.

II.

Es gibt natürlich einen ganz massiven Einwand: Ist dieser Marienkult von Anfang an nicht doch ein Versuch der Kirche, die heidnischen Bräuche zu „taufen“? Gerade wenn ich Ephesus nenne, da hat man immer wieder Einwände vorgebracht. Sie können das nachlesen in vielen Büchern, die das Christentum kritisieren und speziell die Marienverehrung kritisieren, über die große Göttin von Ephesus, die Artemis von Ephesus, Fruchtbarkeitsgöttin mit ihren zahlreichen Brüsten, die die Fruchtbarkeit symbolisieren. Paulus hat in Ephesus erlebt, welche Bedeutung dieser Kult der Artemis hatte, als die Silberschmiede um ihr Geschäft fürchteten, weil Paulus zu viele Leute bekehrt hat zum Glauben an Christus. Hat man nicht einfach diese heidnische Göttin Artemis mit Maria ersetzt? Ist nicht in Ephesus, in der Stadt des 3. Ökumenischen Konzils 431 Maria als Theotokos, als Gottesgebärerin verkündet und erklärt worden, sozusagen als Gegengewicht gegen die heidnische Göttin? Ist Maria nicht doch die „geheime Göttin“ der Christen? Wie oft kann man in kritischen Schriften, die sich gerade mit der Marienverehrung auseinandersetzen, lesen, dass diese Darstellung der Mutter mit dem Kind nichts anderes sei als die Übernahme eben der antiken heidnischen Darstellung der Göttin Isis, in Ägypten, mit dem Osiris auf ihrem Schoß, dem göttlichen Kind?
Nun werde ich sicher jetzt nicht in wenigen Worten auf diese kritischen Einwände eingehen können. Aber lassen Sie mich doch drei Bemerkungen dazu machen. 1. Dass es Ähnlichkeiten zwischen solchen ägyptischen Bildern und dem Marienbild gibt, ist nicht zu bestreiten. Aber wie soll man denn eine Mutter mit Kind darstellen? So wie es in Ägypten gemacht worden ist und so wie es im Christentum geschieht: eine Mutter, die ein Kind auf dem Schoß hat. So hat man Maria dargestellt, so sehen wir sie in dieser wahrscheinlich ältesten Mariendarstellung in der römischen Katakombe: eine Mutter mit dem Kind auf dem Schoß.
2. Ephesus, die heidnische, griechische Göttin Artemis ersetzt durch Maria – oder könnte es nicht vielmehr so sein, wie die Kirchenväter uns immer wieder sagen, dass das wie eine Vorahnung war für das, was uns in Maria offenbar geworden ist, nicht als Göttin, sondern als die, bei der alle Menschen Geborgenheit finden? Könnte es nicht so sein, dass die Göttermythen eine Ahnung dessen sind, was uns dann in der Wirklichkeit der Offenbarung begegnet? Maria ist kein Mythos, sie ist die Mutter Jesu, sie ist die Frau aus Nazaret, sie ist konkret, mit Fleisch und Blut, sie ist kein Mythos, sie ist keine Legende. Aber vielleicht waren die Mythen und Legenden eine Ahnung von dem, was so viele Menschen bei Maria finden.
3. Die Anziehungskraft Mariens ist ja noch nicht erklärt, wenn man sagt, das kommt aus den antiken Kulten, den Göttinnen-Kulten. Selbst wenn es so wäre, selbst wenn, wie manche sagen, dieser Marienkult im Grunde Klerikerschwindel und ein heidnisches Kuckucksei im Christentum wäre – wie erklärt man dann, dass Maria eine solche Anziehung hat? Das kann man nicht produzieren. Auch noch so schlaue Kleriker können nicht eine solche Anziehungskraft „erfinden“. Das produziert man nicht. Wenn wir schauen: Wie ist es denn in Lourdes gegangen? Da waren es nicht die Priester, da war es nicht die „Klerisei“, die das erfunden hat. Im Gegenteil. Pfarrer Peyramel, der wuchtige Pfarrer von Lourdes, hat Bernadette ganz schön weggeschickt und war äußerst skeptisch und kritisch gegenüber dem, was dieses vierzehnjährige Mädchen da erzählt hat. Und der Klerus im allgemeinem war äußerst skeptisch. Der Bischof von Tarbes hat das mit größter Vorsicht betrachtet. Wir verstehen das, wenn ein vierzehnjähriges Mädchen kommt und sagt, sie hat eine Frau gesehen, die ihr in einer Grotte erschienen ist. Wir verstehen, dass man da eher vorsichtig ist. Ist nicht gerade Lourdes ein klarer Hinweis, dass das nicht produziert sein kann, dass hier eine Initiative des Himmels vorliegt, eine überraschende, ich möchte fast sagen eine missionarische Initiative des Himmels, an einem Ort, den man sich sicher nicht ausgesucht hätte nach pastoralplanerischen Kriterien. Wir haben für die alten Marienorte oft nicht eine so genaue historische Dokumentation wie für Lourdes, wo wir äußerst genau bescheid wissen durch eine sehr genau überlieferte Quellenlage. Es liegt ja nicht so weit zurück. Aber wenn wir noch einmal Mexiko, Guadalupe nehmen: Es ist gut bezeugt und vor allem ist eindeutig, dass die Früchte sehr schnell sichtbar waren. Es hat sich dort etwas Entscheidendes ereignet. Menschen haben in der Nähe Mariens auch Schutz und Schirm gefunden, haben Stärkung im Glauben gefunden. Ob das unsere Maria Pócs-Ikone ist oder welches Marienheiligtum auch immer, die Menschen gehen dorthin, nicht weil man sie dorthin nötigt, nicht weil die Klerisei das erfunden hat, um die Leute am Gängelband zu führen, sondern offensichtlich gibt es da eine stärkere Initiative, die oft auch den Klerus überrascht. An so vielen Orten hat man Schutz und Schirm von Maria erfahren und tut es bis heute.
Ich möchte mich nicht zu Medjugorje vom Standpunkt eines kirchlichen Urteils her äußern. Aber ich kann nur eines feststellen, immer wieder und immer wieder, dass dies ein Platz ist, wo offensichtlich eine intensive Missionsstation des Himmels da ist, wo Zigtausende Menschen Gebet, Beichte, Umkehr, Versöhnung, Heilung, tieferen Glauben finden.
Lassen Sie mich noch eine Initiative nennen, die bei uns in der Erzdiözese beheimatet ist und die mich immer wieder zutiefst beeindruckt. Es ist die Initiative von einer der großen Priestergestalten unserer Diözese, unserer Zeit, Dr. Herbert Madinger. Gott vergelte ihm, was er in so vielen Jahren an Gutem gewirkt hat. Auf ihn geht die etwas überraschende Initiative der Wandermadonnen zurück. 4000 Muttergottes-Statuen wandern durch Österreich, von Haus zu Haus. Es ist ergreifend, erstaunlich, überraschend, bewegend, wenn man hört und liest, was sich da tut durch diese sehr einfache Initiative, über die man in den Medien, glaube ich, nicht hört, aber die vielen, vielen Menschen echte Mission bedeutet. Lassen Sie mich eine Anekdote erzählen, sie ist köstlich, aber auch das gehört zur Missionsmethode Mariens. In einer kleinen, sehr bescheidenen Wiener Wohnung lebt ein Ehepaar, und die Wandermadonna kommt dorthin. Es findet sich kein Platz für sie, weil alles vollgeräumt ist, daher stellt man sie auf den Kühlschrank. Der Mann hat eine starke Neigung zum Alkoholkonsum. Das ist eine der großen Sorgen. Nach einiger Zeit hören die, die die Wandermadonna betreuen: Der Mann hat ganz aufgehört zu trinken. Auf die Frage, wie das geschehen ist, hat er selber ganz ehrlich gesagt: „Wissen Sie, jedes Mal, wenn ich den Kühlschrank öffnen wollte, um mir ein Bier zu holen, da ist die Wandermadonna draufgestanden und ich habe mich geniert vor ihr.“ Sie ist wirklich die erste Missionarin.


III.

Schauen wir uns das ein wenig an. Ich möchte zurückgreifen auf die letzte Katechese, den Missionsauftrag Jesu selbst und was die Rolle Mariens in diesem Missionauftrag Jesu ist. Ich hatte die letzte Katechese betitelt: Jesus – Sohn Gottes in heikler Mission. Maria hat von Anfang an in dieser heiklen Mission einen ganz wesentlichen Platz. Was ist die „mission“, die Sendung, der Auftrag, den Jesus, den der Sohn Gottes mit seiner Sendung in die Welt bekommen hat? Es ist eine Befreiungsaktion, eine Rettungsaktion. – Verzeihung, wenn ich das etwas in Begriffen der Science Fiction letztes Mal formuliert habe, aber es ist sehr ansprechend und sagt sehr deutlich, worum es geht: eine Rettungsaktion. – Johannes, der Apostel, der Lieblingsjünger sagt es in seinem ersten Brief sehr nüchtern und sehr unverblümt: „Die ganze Welt steht unter der Macht des Bösen“ (1 Joh 5,19). „Des Bösen“ – das meint er hier im personalen Sinne: „des Widersachers“. Gott hat seinen Sohn in die Welt gesandt, um die Welt und jeden einzelnen aus der Macht des Bösen zu befreien. Wir haben gesehen, diese Mission Jesu ist nicht durch eine Gewalttat zu verwirklichen, sozusagen durch ein großes militärisches Aufgebot, auch nicht der himmlischen Armeen, sondern indem Gott seinen Sohn dorthin sendet, wo gewissermaßen die Machtzentrale des Bösen ist, denn dort soll Jesus den Bösen und das Böse besiegen, dort wo dessen Macht ansetzt.
Diese Macht setzt dort an, wir haben es letztes Mal in der Katechese betrachtet, wie auf der ersten Seite der Bibel gesagt wird, wo die Macht des Bösen herkommt, aus dem Ungehorsam gegen Gott, aus der falschen Verheißung: „Ihr werdet sein wie Gott“ (Gen 3,5), die die Schlange den Menschen gibt: „Ihr werdet sein wie Gott.“ Diese Verheißung, wir müssen uns kurz bei ihr aufhalten, ist, wie immer die Stimme des Lügners, zum Teil wahr. Das Dramatische an der Lüge ist ja, dass sie immer ein Element der Wahrheit enthält. Aber dadurch, dass es nur ein Element und nicht die ganze Wahrheit ist, ist es eine Verfälschung, eine Täuschung. Die halbe Wahrheit täuscht die ganze Wahrheit vor. Damit führt sie in die Irre. Es ist richtig: „Ihr werdet sein wie Gott.“ Aber was die Schlange nicht dazu gesagt hat: Wenn ihr diesen Schritt tut, dann werdet ihr sein wie Gott, aber ohne Gott und gegen Gott. Und ohne Gott und gegen Gott ist das Leben schrecklich, nur Verzweiflung. Durch diesen Irrtum, durch diese Täuschung, durch diese Lüge liegt die Menschheit in der Macht des Bösen. „Ihr werdet sein wie Gott“ ist eine verdrehte Wahrheit, denn auf der ersten Seite der Bibel heißt es bereits, dass Gott den Menschen nach seinem Bild geschaffen hat, also sind wir wie Gott als Geschöpfe, nämlich nach seinem Bild und Gleichnis (Gen 1,27). Nicht durch unsere Auflehnung werden wir Gott gleich, sondern Gott hat uns geschenkt, nach seinem Bild zu sein. Diese Würde, das ist christliche Grundbotschaft, haben wir, die brauchen wir uns nicht zu erkämpfen gegen Gott, gegen seinen Willen, sozusagen durch eine Emanzipation der Auflehnung gegen Gott, durch ein Nein gegen seinen Willen. Wir haben diese Würde. Jeder Mensch ist nach dem Bild und Gleichnis Gottes. Das ist überhaupt die Grundlage der Sicht der Menschenwürde, wie sie das Christentum vertritt. Sie kommt jedem Menschen zu, ob er in seinem Leben gut oder schlecht ist. Mag er noch so viel gefehlt haben, jeder von uns bleibt nach Gottes Bild und Gleichnis. Diese Würde hat Gott allen verliehen, die brauchen wir nicht zu erwerben, die kann uns auch nicht der Staat geben, auch nicht eine Partei und auch nicht unsere Leistung. Die haben wir.
Aber zugleich ist es richtig, und hier ist wieder eine Teilwahrheit in dem Wort der Schlange: Wir müssen werden, was wir sind: „Ihr werdet sein wie Gott.“ Gott will nämlich, dass wir ihm immer ähnlicher werden, dass sein Bild sich in uns ausprägt, ausgestaltet, dass wir ihm immer ähnlicher werden und damit immer freier, immer menschlicher und glücklicher, aber nicht gegen Gott und ohne Gott, sondern in Freundschaft mit ihm und nicht durch den irren Versuch, die Gottähnlichkeit von Gott rauben zu wollen, sich selber nehmen zu wollen, ohne ihn und an ihm vorbei. Das ist das Drama des Sündenfalls. Das ist die Urkatastrophe, von der die Bibel spricht, dass der Mensch versucht, Gott zu spielen. In der ganzen Menschheitsgeschichte kommt das immer wieder vor, die Versuchung, Gott zu spielen: der Kaiser, der sich als Gott verehren lässt; oder hier in diesem Dom, als Kardinal Innitzer am 7. Oktober 1938 gesagt hat: „Christus ist unser Führer“, da war das Grund genug, das Palais zu verwüsten durch die Hitlerjugend, das verträgt die sich selbst vergottende Macht nicht; oder in der Wissenschaft Gott zu spielen, die Versuchung, zu glauben, dass wissenschaftlicher Fortschritt uns gewissermaßen zu Göttern macht, oder in unseren Beziehungen, in unserem Miteinander, dass wir glauben, wir könnten das Leben in die Hand nehmen und nach unserem eigenen Gutdünken „modeln“. Wie Gott sein zu wollen auf eigene Faust, das ist das, was die Schlange dem Menschen am Anfang als Lüge, als irreführende Lüge suggeriert hat. Leid, Tod und Unfreiheit sind die Folge. Daraus sollte Christus uns befreien.

IV.

Nun steht bereits am Anfang der Bibel ein Wort, im Buch Genesis 3,15, man hat diesen Vers als erste Frohbotschaft bezeichnet, als Protoevangelium. Gott spricht da zur Schlange, die den Menschen mit Lüge und List getäuscht hat. Da heißt es: „Feindschaft setze ich zwischen dich und die Frau, zwischen deinen Nachwuchs und ihren Nachwuchs. Er trifft dich am Kopf, und du triffst ihn an der Ferse.“ Wir müssen ein wenig in diese rätselhafte Stelle hineinschauen.
In diesem rätselhaften Vers ist also die Rede von der Frau und von ihrem Nachkommen, eigenartig in der Einzahl, ihrem Nachkommen. Von diesem Nachkommen heißt es, er werde die Schlange am Kopf treffen, aber die Schlange werde ihn an der Ferse verletzen. Gott kündigt also einen Kampf an. Aber er kündigt an, dass der Kampf gut ausgehen wird, wenn auch mit Verwundungen. Er kündigt an, die Frau und ihr Nachwuchs werden die Schlange besiegen. In diesem Kampf spielt die Frau eine ganz entscheidende Rolle. Sie ist ja die Mutter des Nachkommen, sozusagen die Voraussetzung auch für seinen Sieg. Nun haben die Christen sehr früh schon diesen Vers Gen 3,15 auf Maria und ihr Kind gedeutet. Er ist der Nachkomme, sie ist die Frau. Er zertritt der Schlange den Kopf. Die lateinische Bibel hat da noch eine interessante Variante, die so genannte Vulgata, also die lateinische Übersetzung der hebräischen Bibel. Dort wird nämlich nicht vom männlichen Nachkommen gesagt, dass er den Kopf zertreten wird, sondern sie, die Frau, wird den Kopf der Schlange zertreten. Deshalb sehen wir in zahllosen Mariendarstellungen, vor allem wenn es um die Maria immaculata geht, sie oft mit dem Fuß auf dem Kopf der Schlange. Das geht auf diesen Vers in der lateinischen Fassung zurück. Im Glaubensbewusstsein der Kirche, das sehr stark geprägt ist durch diese Lesart, zertritt sie der Schlange den Kopf. Auch im Bewusstsein der Gläubigen ist dieses Gespür sehr stark gewachsen, dass Maria den Sieg über den Widersacher des Menschen in ganz besonderer Weise bewirkt.
Nun feiern wir am nächsten Sonntag dieses Besondere an Maria, diese besondere Ausrüstung, die Gott ihr gegeben hat, damit sie Siegerin sein kann, damit sie gewissermaßen ihre Mission erfüllen kann. Wir feiern am 8. Dezember, der dieses Jahr auf einen Sonntag fällt, das Fest, wie es volkstümlich heißt, der „unbefleckten Empfängnis“, der „ohne Erbsünde empfangenen Gottesmutter Maria“. Was hat das mit der Mission zu tun? Ich hoffe, es wird noch deutlicher werden.
Was heißt überhaupt „unbefleckte Empfängnis“, sehr missverständlich und oft missverstanden. Die Kirche feiert von zwei Menschen das Fest ihrer Empfängnis. Im Allgemeinen feiern wir nur den Geburtstag oder den Namenstag, das Fest der Empfängnis ist eigentlich nicht üblich. Es ist auch selten, dass die Eltern ihren Kindern den Tag der Empfängnis, so sie ihn genau wissen, auch anvertrauen. Es ist etwas sehr Behutsames und Diskretes, über das man ja nicht so leicht spricht. Aber von zwei Menschen feiern wir ausdrücklich das Fest der Empfängnis, nämlich neun Monate vor Weihnachten die Empfängnis Jesu durch Maria, am 25. März, und eben am 8. Dezember, neun Monate vor Maria Geburt am 8. September, das Fest ihrer Empfängnis. „Unbefleckte Empfängnis“ das heißt nicht, dass die Empfängnis Mariens, die wie jedes Menschenkind von ihren Eltern Joachim und Anna empfangen worden ist, dadurch befleckt ist, dass sie eine geschlechtliche Empfängnis ist. Das wäre ein völliges Missverständnis, leider ein sehr häufiges Missverständnis. „Unbefleckte Empfängnis“ heißt das Fest, im vollen, exakten Wortlaut: „Ohne Erbsünde empfangene Gottesmutter Maria“. Gott hat Maria vom ersten Moment ihrer Existenz an von dem, was wir Erbsünde nennen, dem Schaden, dem Makel, dem Defekt der Erbsünde, freigehalten. Lassen Sie mich das jetzt ein bisschen in der Sprache der letzten Katechese sagen, dass sozusagen in diesem Menschen vom ersten Moment der Empfängnis an kein Angriffspunkt für den Widersacher ist, keine Angriffsfläche, denn die Erbsünde heißt ja, dass in jedem Menschen eine Geneigtheit zum Bösen, eine Anfälligkeit für die Sünde, eine Verführbarkeit zur Sünde besteht. Gott wollte, dass es einen Menschen gibt, der ganz und gar frei ist von jeder Angriffsfläche, von jedem Angriffspunkt des Menschenfeindes. Maria sollte sozusagen mitten in der vom Bösen belagerten und besetzten Menschheit ein Brückenkopf für Gottes Rettungsplan sein. Verzeihung wenn die Sprache wieder etwas militärisch oder martialisch klingt. Aber ich glaube da verstehen wir, warum Maria eine so einzigartige Mission hat. Gott hat sie selber für diese Mission bereitet, in seiner souveränen Freiheit hat er sie erwählt unter allen Menschen sie, als gewissermaßen den „Landepunkt“ seines Reiches. In ihr, durch sie sollte Gottes Sohn seine Mission beginnen können.
Was ergibt sich daraus für die Mission? Zweierlei: 1. An Maria sehen wir, dass Gott absolut souverän, souverän frei ist in seinen Initiativen. Er setzt die entscheidenden Initiativen. So wie er die Welt erschaffen hat, wie wir glauben, im Credo bekennen, so glauben wir, dass er die Initiativen setzt, um uns zu retten. Die Befreiungsaktion ist seine Aktion. Er ist sozusagen der „Spielleiter“ der Mission. 2. Aber, und das ist ganz wichtig, Gott überfährt den Menschen nicht. Er hat uns die Freiheit gegeben und er will, dass unsere Freiheit aufs äußerste geachtet und respektiert wird. Wenn er den Menschen nach seinem Bild geschaffen hat, dann heißt das als freies Wesen, das er ansprechen kann, das er achtet und das er fördert.
Wenn wir die Empfängnis Jesu in Maria anschauen, das heißt das Evangelium von der Verkündigung (Lk 1,26-38), da sehen wir ja, Gott ist ganz souverän, er hat sie ausgesucht: „Du bist voll der Gnade“ (28-30). „Du wirst empfangen und einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben. Er wird … Sohn des Allerhöchsten genannt werden“ (31) – souveräne freie Erwählung Gottes, dass sie die Mutter seines Sohnes wird, aber nicht ohne ihre Zustimmung. Und nun das Wichtige: Maria will verstehen. Sie fragt, sie will nicht begreifen, aber sie will doch verstehen. Ihre Freiheit erfordert auch, dass sie innerlich mitgehen kann mit dem, was Gott ihr zumutet. Blinder Gehorsam wäre ein Widerspruch zur Freiheit, die Gott dem Menschen zugedacht, gegeben hat. Es ist deshalb kein Mangel an Vertrauen, wenn sie fragt: „Wie soll das geschehen?“ (34), wenn sie verstehen will. Auf dieser Grundlage kann sie dann völlig vertrauend vorbehaltlos ja sagen zum Plan Gottes. Auch in die Dunkelheit des Glaubens hinein, ohne genau zu wissen, wie das alles dann im einzelnen sein wird, aber doch so, dass ihre Freiheit voll angesprochen und einbezogen ist. Weil sie die immaculata, die ohne Erbsünde empfangene ist, ist sie ganz frei und offen und kann ohne den Widerstand der Sünde sich völlig auf Gottes Weg einlassen. Ich glaube, das ist etwas ganz Entscheidendes für das Verständnis der Mission: Die Initiative liegt bei Gott, aber er will, dass wir mitspielen, er will unsere Freiheit nicht überfahren. Deshalb darf die Mission auch nie die Freiheit des anderen überfahren. Sie darf kein Druck und erst recht nicht ein Zwang sein.
Und noch etwas sehen wir: Dieses Mitgehen der Freiheit Mariens macht sie unglaublich kreativ. Es ist ein Paradox, aber es ist so und die christliche Erfahrung bestätigt das: Je mehr wir uns auf den Willen Gottes einlassen, desto freier werden wir, nicht abhängiger, nicht unfreier sondern im Gegenteil freier und kreativer. Bei Maria sieht man das ganz besonders deutlich, wie kreativ, wie initiativ sie ist in ihrem Eingehen auf den Willen Gottes. Ich nenne zwei Beispiele: 1. Der Besuch bei Elisabeth (Lk 1,39-56). Maria hat empfangen, das Geheimnis ihrer Empfängnis vom Heiligen Geist nimmt in ihr Gestalt an. Sie erfährt leiblich das Wunder, das an ihr geschehen ist, und sie macht sich auf zu Elisabeth, die im sechsten Monat schwanger ist – fast möchte man sagen, die erste Missionsreise. Maria geht zu Elisabeth. Diese Initiative ist, wie immer bei Maria, ganz konkret. Sie will helfen, sie will da sein, sie will bei ihrer Verwandten sein. 2. Die Hochzeit von Kana (Joh 2,1-12), auch da die wache Aufmerksamkeit, ganz konkret auf die peinliche Situation der Gastgeber: „Sie haben keinen Wein mehr“ (3). Diese konkrete Aufmerksamkeit macht sie zur Missionarin, so sehr, dass sie Jesus sogar zuvorkommt. Eigentlich will Jesus sich noch nicht zeigen. „Es ist noch nicht meine Stunde. Frau, was willst du?“ (4). Aber Jesus zieht gewissermaßen die Stunde seines Handelns vor, weil Maria ihm zuvorgekommen ist mit ihrer Initiative.
Sicher ganz entscheidend ist die Kreuzesstunde. Da kann man sagen, dass in diesen Stunden beim Kreuz gewissermaßen die Mission in Maria ganz durchgebrochen, ganz aufgebrochen ist, nämlich in ihrem letzten und völligen Ja zum Opfer ihres Sohnes, zum Opfer Jesu, der sein Leben für alle Menschen gibt. Deshalb stimmt sie zu, für alle Menschen da zu sein. Wenn er sein Leben für alle gibt, dann ist sie für alle da. Im Katechismus der Katholischen Kirche steht der schöne Satz: „Sie ist überall Mutter, wo er Erlöser ist“ (KKK 973). Da er der Erlöser aller Menschen ist, ist sie die Mutter aller Menschen.

V.

Kommen wir zum Schluss. Der Heilige Vater nennt Maria oft den Stern der Evangelisierung. Inwiefern ist sie der Stern der Mission? Welchen Weg weist uns dieser Stern für die Mission? Wie sieht Mission aus, wenn man sie sozusagen mit den Augen Mariens ansieht? 1. Sie hat von Anfang an den Weg zu den Armen und Kleinen eingeschlagen – große Anfrage an uns, an die Kirche heute! Sie ist dem Vorbild Gottes hier einfach nachgefolgt, denn Gott ist zu den Armen gegangen, indem er selber als Armer Mensch geworden ist. Wenn wir schauen, wie sieht das in der ganzen Kirchengeschichte aus? Wohin geht Maria? An unbedeutende Orte, Lourdes, zu einer unbedeutenden Analphabetin, dieses vierzehnjährige Kind Bernadette, Maria Pócs, die Ikone, die geweint hat, eine einfache, nicht sehr künstlerische Ikone, vom ästhetischen Standpunkt her nicht besonders schöne Ikone, und doch so geliebt. Maria geniert sich nicht wie in Kevelaer ihre Gnaden zu schenken durch ein kleines Papierbildchen von Maria. Das ist das heilige Bild, das in Kevelaer verehrt wird. Oder die Mutter Gottes in Syrakus, wirklich kein ästhetisches Wunderwerk. Aber dort, im Armen, im Kleinen, im Bescheidenen spricht Maria, wirkt sie.
2. Ihre Mission geht immer zu Herzen. Sie spricht die Herzen an. Nichts Gewaltsames, kein Überwältigen, kein Zwang, kein Druck, sondern nur die Kraft des Herzens. Unvergleichlich ist ihre Gabe, die Herzen zu berühren. Was ist wichtiger in der Mission als das! Ich erinnere mich an einen Taxifahrer in Rom. Er hatte ein Bildchen von Padre Pio und ein Bildchen von der Muttergottes von Lourdes. Ich habe ihn gefragt, ob er schon in Lourdes war. Da sind ihm gleich die Tränen gekommen, ein ganz normaler Taxifahrer in Rom. Er hat gesagt: Es ist eigenartig, ich fahre jedes Jahr nach Lourdes, und immer wenn ich an Lourdes denke muss ich weinen. – Vielleicht ist das auch das südländische Temperament. Aber Maria spricht die Herzen an und sie kann die härtesten Herzen berühren und öffnen.
3. Interessant, wie sie die Orte der Mission auswählt, wo sie besonders wirkt. Schauen wir auf die Orte, an denen Maria besonders wirksam ist. Sie sind alle wie Nazaret. Das gibt uns schon zu denken auch für die Mission. Was heißt das für die Stadtmission? Drei Dinge zum Schluss: hinhören, wie Maria, mit dem Herzen erwägen, in Erinnerung bewahren, was Gott sagt und tut; betrachten, wie Maria wirkt, wo sie wirkt, für wen sie wirkt und das als Leitfaden für die Mission nehmen; sie zu bitten, dass sie uns zeigt, wie man so einfach, so unkompliziert, so kreativ, so initiativ Wege zu den Herzen der Menschen findet, wie sie es kann. Ich glaube, da ist sie wirklich auch der Leitstern für unsere Stadtmission.

 

(Kardinal Christoph Schönborn)

 
  









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