Wir haben Maria gegrüßt im Lied. Wir
wollen heute Abend Maria betrachten. Ich habe dieser Katechese den
Titel gegeben: „Maria – die Mission im Herzen“. Gleich zu Beginn sei
die Frage gestellt: Was hat Maria denn mit der Mission zu tun? Sie war
ja nicht direkt missionarisch aktiv, sie gehörte nicht zu den
Missionaren, die durch die Lande gezogen sind. Was hat sie mit der
Mission zu tun? Ich hoffe, dass sich das im Lauf der Katechese etwas
erhellen und erklären wird.
I.
Lassen Sie mich mit einem Erlebnis beginnen. Im Jahr 1997 bin ich auf
dem Flughafen von Buenos Aires in Argentinien angekommen. Da erwartete
mich eine größere Gruppe aus einem sehr armen Viertel, aus den
Vorstädten von Buenos Aires, aus La Ferrer, wo die Kleinen Schwestern
vom Lamm eine Gemeinschaft haben. Für uns etwas ungewohnt hat diese
Gruppe Leute, großteils Arme, da also lauthals gesungen mit Gitarre.
Und vor allem hatten sie eine Muttergottesstatue mit, der galt
offensichtlich die Freude und die Liebe dieser Armen: La Virgen de
Itati. Itati ist eines der großen Marienheiligtümer von Argentinien.
Sie ist mir dann in den drei Tagen meines Aufenthaltes in Buenos Aires
noch oft begegnet. Ich habe von den Wallfahrten nach Itati gehört und
vor allem habe ich die Freude gesehen, die diese Armen mit ihrer
Virgen, ihrer Muttergottes hatten. Drei Jahre später, im Heiligen Jahr
2000, ist es mit vielen Spenden und viel Sparen gelungen, dass diese
Gruppe von Armen zum Heiligen Jahr nach Rom reisen konnte. Die Freude
war unbeschreiblich: nach Rom im Heiligen Jahr. Wenn man in La Ferrer
lebt, dann kann man so etwas gar nicht träumen. Sie haben dann
erzählt, in erfrischender Unbeschwertheit, wie sie im Flugzeug mit
ihrer Muttergottesstatue überall herumgegangen sind und die Passagiere
im Flugzeug missioniert haben mit ihrer kleinen Madonna: die Freude
der Armen von La Ferrer. Auch in Rom haben sie überall diese Statue
mitgetragen und wollten sie allen zeigen.
Nun kann man sagen: Das ist eben Südamerika, das ist die etwas
überschwängliche Liebe der Lateinamerikaner zur Muttergottes.
Tatsächlich: In welchem Land in Lateinamerika gibt es nicht ein großes
Marienheiligtum? Aparecida in Brasilien, und alles überragend
Guadalupe in Mexiko, Nuestra Señora de Guadalupe.
Was bedeutet Maria für die Mission? Die Geschichte Südamerikas, des
Glaubens in Südamerika ist nicht vorstellbar ohne die Rolle Mariens.
Der Heilige Vater hat Ende Juli dieses Jahres im Mexiko Juan Diego
heiliggesprochen, den einfachen Indio, der im Jahr 1531, also wenige
Jahre nach der Eroberung Mexikos durch die Spanier, diese so
entscheidende Marienerscheinung hatte, vom 9. bis 12. Dezember 1531.
Maria hat ihn angesprochen in seiner Sprache, und das Bild, das er
bekommen hat auf seinen Poncho, auf seinen Mantel, es ist das bekannte
Bild der Muttergottes von Guadalupe. Gerade in dieser Erscheinung von
Mexiko, von Guadalupe, sehen wir, wie sehr Maria in jedem Volk und für
alle Völker Mutter ist. Es fasziniert mich, zu beobachten, wie Maria
in jedem Land, wo sie hinkommt, wirklich im Herzen dieses Landes ist.
Ich konnte es in Sri Lanka sehen, Mardu, das Marienheiligtum von Sri
Lanka, gerade an der Grenze zwischen den beiden Kriegsparteien, den
Tamilen und den Singalesen, und immer wieder mitten im Konfliktfeld
dieses hoffentlich nun zu Ende gehenden Bürgerkrieges, Maria ist dort
wirklich zu Hause. Die Menschen haben während des Bürgerkrieges von
beiden Seiten sich immer wieder in dieses Heiligtum geflüchtet. Man
könnte nun alle Länder durchgehen. Es gibt, glaube ich, kein Land, das
nicht ein Marienheiligtum oder mehrere hätte. Jedes Mal ist das
Erstaunliche, dass Maria mitten in der Kultur, in der Sprache, in den
Emotionen, in der Geschichte eines Landes zu Hause ist, und zwar so zu
Hause, dass die Menschen sich in ihr wieder finden und bei ihr
geborgen finden. Also Maria, Missionarin in allen Ländern – ist das
vielleicht ein Hinweis darauf, dass sie uns die Herzensqualität der
Mission zeigt, dass sie die Mission im Herzen hat? Wenn wir
zurückschauen in der Kirchengeschichte, zu den ersten Anfängen: Maria
ist von Anfang an da, verehrt, gesucht, geliebt. Das älteste
Mariengebet, dass uns bekannt ist, das „Sub tuum praesidium“: „Unter
deinen Schutz und Schirm fliehen wir, o heilige Gottesgebärerin“,
datieren manche bis ins dritte oder vierte Jahrhundert. Die ältesten
Marienbilder, wenn Sie im Katechismus nachschauen, das erste Bild im
Katechismus der Katholischen Kirche, vor dem Credoteil, ist das
wahrscheinlich älteste Marienbild, das uns überliefert ist, aus einer
Katakombe in Rom, Ende des dritten Jahrhunderts datiert, eine Mutter
mit einem Kind, eine römische Matrone mit einem Kind auf dem Schoß und
darüber der Stern, der Stern von Betlehem (Mt 2,2) oder der Stern des
Bileam, der in der Vision den Stern aufgehen sieht über Juda (Num
24,17). Und natürlich die ältesten Marienorte: Ephesus wäre zu nennen,
wo eine Tradition sagt, dass Maria das Ende ihres irdischen Lebens
verbracht hätte. Das ist alles nicht unbekannt aus der Geschichte.
II.
Es gibt natürlich einen ganz massiven Einwand: Ist dieser Marienkult
von Anfang an nicht doch ein Versuch der Kirche, die heidnischen
Bräuche zu „taufen“? Gerade wenn ich Ephesus nenne, da hat man immer
wieder Einwände vorgebracht. Sie können das nachlesen in vielen
Büchern, die das Christentum kritisieren und speziell die
Marienverehrung kritisieren, über die große Göttin von Ephesus, die
Artemis von Ephesus, Fruchtbarkeitsgöttin mit ihren zahlreichen
Brüsten, die die Fruchtbarkeit symbolisieren. Paulus hat in Ephesus
erlebt, welche Bedeutung dieser Kult der Artemis hatte, als die
Silberschmiede um ihr Geschäft fürchteten, weil Paulus zu viele Leute
bekehrt hat zum Glauben an Christus. Hat man nicht einfach diese
heidnische Göttin Artemis mit Maria ersetzt? Ist nicht in Ephesus, in
der Stadt des 3. Ökumenischen Konzils 431 Maria als Theotokos, als
Gottesgebärerin verkündet und erklärt worden, sozusagen als
Gegengewicht gegen die heidnische Göttin? Ist Maria nicht doch die
„geheime Göttin“ der Christen? Wie oft kann man in kritischen
Schriften, die sich gerade mit der Marienverehrung auseinandersetzen,
lesen, dass diese Darstellung der Mutter mit dem Kind nichts anderes
sei als die Übernahme eben der antiken heidnischen Darstellung der
Göttin Isis, in Ägypten, mit dem Osiris auf ihrem Schoß, dem
göttlichen Kind?
Nun werde ich sicher jetzt nicht in wenigen Worten auf diese
kritischen Einwände eingehen können. Aber lassen Sie mich doch drei
Bemerkungen dazu machen. 1. Dass es Ähnlichkeiten zwischen solchen
ägyptischen Bildern und dem Marienbild gibt, ist nicht zu bestreiten.
Aber wie soll man denn eine Mutter mit Kind darstellen? So wie es in
Ägypten gemacht worden ist und so wie es im Christentum geschieht:
eine Mutter, die ein Kind auf dem Schoß hat. So hat man Maria
dargestellt, so sehen wir sie in dieser wahrscheinlich ältesten
Mariendarstellung in der römischen Katakombe: eine Mutter mit dem Kind
auf dem Schoß.
2. Ephesus, die heidnische, griechische Göttin Artemis ersetzt durch
Maria – oder könnte es nicht vielmehr so sein, wie die Kirchenväter
uns immer wieder sagen, dass das wie eine Vorahnung war für das, was
uns in Maria offenbar geworden ist, nicht als Göttin, sondern als die,
bei der alle Menschen Geborgenheit finden? Könnte es nicht so sein,
dass die Göttermythen eine Ahnung dessen sind, was uns dann in der
Wirklichkeit der Offenbarung begegnet? Maria ist kein Mythos, sie ist
die Mutter Jesu, sie ist die Frau aus Nazaret, sie ist konkret, mit
Fleisch und Blut, sie ist kein Mythos, sie ist keine Legende. Aber
vielleicht waren die Mythen und Legenden eine Ahnung von dem, was so
viele Menschen bei Maria finden.
3. Die Anziehungskraft Mariens ist ja noch nicht erklärt, wenn man
sagt, das kommt aus den antiken Kulten, den Göttinnen-Kulten. Selbst
wenn es so wäre, selbst wenn, wie manche sagen, dieser Marienkult im
Grunde Klerikerschwindel und ein heidnisches Kuckucksei im Christentum
wäre – wie erklärt man dann, dass Maria eine solche Anziehung hat? Das
kann man nicht produzieren. Auch noch so schlaue Kleriker können nicht
eine solche Anziehungskraft „erfinden“. Das produziert man nicht. Wenn
wir schauen: Wie ist es denn in Lourdes gegangen? Da waren es nicht
die Priester, da war es nicht die „Klerisei“, die das erfunden hat. Im
Gegenteil. Pfarrer Peyramel, der wuchtige Pfarrer von Lourdes, hat
Bernadette ganz schön weggeschickt und war äußerst skeptisch und
kritisch gegenüber dem, was dieses vierzehnjährige Mädchen da erzählt
hat. Und der Klerus im allgemeinem war äußerst skeptisch. Der Bischof
von Tarbes hat das mit größter Vorsicht betrachtet. Wir verstehen das,
wenn ein vierzehnjähriges Mädchen kommt und sagt, sie hat eine Frau
gesehen, die ihr in einer Grotte erschienen ist. Wir verstehen, dass
man da eher vorsichtig ist. Ist nicht gerade Lourdes ein klarer
Hinweis, dass das nicht produziert sein kann, dass hier eine
Initiative des Himmels vorliegt, eine überraschende, ich möchte fast
sagen eine missionarische Initiative des Himmels, an einem Ort, den
man sich sicher nicht ausgesucht hätte nach pastoralplanerischen
Kriterien. Wir haben für die alten Marienorte oft nicht eine so genaue
historische Dokumentation wie für Lourdes, wo wir äußerst genau
bescheid wissen durch eine sehr genau überlieferte Quellenlage. Es
liegt ja nicht so weit zurück. Aber wenn wir noch einmal Mexiko,
Guadalupe nehmen: Es ist gut bezeugt und vor allem ist eindeutig, dass
die Früchte sehr schnell sichtbar waren. Es hat sich dort etwas
Entscheidendes ereignet. Menschen haben in der Nähe Mariens auch
Schutz und Schirm gefunden, haben Stärkung im Glauben gefunden. Ob das
unsere Maria Pócs-Ikone ist oder welches Marienheiligtum auch immer,
die Menschen gehen dorthin, nicht weil man sie dorthin nötigt, nicht
weil die Klerisei das erfunden hat, um die Leute am Gängelband zu
führen, sondern offensichtlich gibt es da eine stärkere Initiative,
die oft auch den Klerus überrascht. An so vielen Orten hat man Schutz
und Schirm von Maria erfahren und tut es bis heute.
Ich möchte mich nicht zu Medjugorje vom Standpunkt eines kirchlichen
Urteils her äußern. Aber ich kann nur eines feststellen, immer wieder
und immer wieder, dass dies ein Platz ist, wo offensichtlich eine
intensive Missionsstation des Himmels da ist, wo Zigtausende Menschen
Gebet, Beichte, Umkehr, Versöhnung, Heilung, tieferen Glauben finden.
Lassen Sie mich noch eine Initiative nennen, die bei uns in der
Erzdiözese beheimatet ist und die mich immer wieder zutiefst
beeindruckt. Es ist die Initiative von einer der großen
Priestergestalten unserer Diözese, unserer Zeit, Dr. Herbert Madinger.
Gott vergelte ihm, was er in so vielen Jahren an Gutem gewirkt hat.
Auf ihn geht die etwas überraschende Initiative der Wandermadonnen
zurück. 4000 Muttergottes-Statuen wandern durch Österreich, von Haus
zu Haus. Es ist ergreifend, erstaunlich, überraschend, bewegend, wenn
man hört und liest, was sich da tut durch diese sehr einfache
Initiative, über die man in den Medien, glaube ich, nicht hört, aber
die vielen, vielen Menschen echte Mission bedeutet. Lassen Sie mich
eine Anekdote erzählen, sie ist köstlich, aber auch das gehört zur
Missionsmethode Mariens. In einer kleinen, sehr bescheidenen Wiener
Wohnung lebt ein Ehepaar, und die Wandermadonna kommt dorthin. Es
findet sich kein Platz für sie, weil alles vollgeräumt ist, daher
stellt man sie auf den Kühlschrank. Der Mann hat eine starke Neigung
zum Alkoholkonsum. Das ist eine der großen Sorgen. Nach einiger Zeit
hören die, die die Wandermadonna betreuen: Der Mann hat ganz aufgehört
zu trinken. Auf die Frage, wie das geschehen ist, hat er selber ganz
ehrlich gesagt: „Wissen Sie, jedes Mal, wenn ich den Kühlschrank
öffnen wollte, um mir ein Bier zu holen, da ist die Wandermadonna
draufgestanden und ich habe mich geniert vor ihr.“ Sie ist wirklich
die erste Missionarin.
III.
Schauen wir uns das ein wenig an. Ich möchte zurückgreifen auf die
letzte Katechese, den Missionsauftrag Jesu selbst und was die Rolle
Mariens in diesem Missionauftrag Jesu ist. Ich hatte die letzte
Katechese betitelt: Jesus – Sohn Gottes in heikler Mission. Maria hat
von Anfang an in dieser heiklen Mission einen ganz wesentlichen Platz.
Was ist die „mission“, die Sendung, der Auftrag, den Jesus, den der
Sohn Gottes mit seiner Sendung in die Welt bekommen hat? Es ist eine
Befreiungsaktion, eine Rettungsaktion. – Verzeihung, wenn ich das
etwas in Begriffen der Science Fiction letztes Mal formuliert habe,
aber es ist sehr ansprechend und sagt sehr deutlich, worum es geht:
eine Rettungsaktion. – Johannes, der Apostel, der Lieblingsjünger sagt
es in seinem ersten Brief sehr nüchtern und sehr unverblümt: „Die
ganze Welt steht unter der Macht des Bösen“ (1 Joh 5,19). „Des Bösen“
– das meint er hier im personalen Sinne: „des Widersachers“. Gott hat
seinen Sohn in die Welt gesandt, um die Welt und jeden einzelnen aus
der Macht des Bösen zu befreien. Wir haben gesehen, diese Mission Jesu
ist nicht durch eine Gewalttat zu verwirklichen, sozusagen durch ein
großes militärisches Aufgebot, auch nicht der himmlischen Armeen,
sondern indem Gott seinen Sohn dorthin sendet, wo gewissermaßen die
Machtzentrale des Bösen ist, denn dort soll Jesus den Bösen und das
Böse besiegen, dort wo dessen Macht ansetzt.
Diese Macht setzt dort an, wir haben es letztes Mal in der Katechese
betrachtet, wie auf der ersten Seite der Bibel gesagt wird, wo die
Macht des Bösen herkommt, aus dem Ungehorsam gegen Gott, aus der
falschen Verheißung: „Ihr werdet sein wie Gott“ (Gen 3,5), die die
Schlange den Menschen gibt: „Ihr werdet sein wie Gott.“ Diese
Verheißung, wir müssen uns kurz bei ihr aufhalten, ist, wie immer die
Stimme des Lügners, zum Teil wahr. Das Dramatische an der Lüge ist ja,
dass sie immer ein Element der Wahrheit enthält. Aber dadurch, dass es
nur ein Element und nicht die ganze Wahrheit ist, ist es eine
Verfälschung, eine Täuschung. Die halbe Wahrheit täuscht die ganze
Wahrheit vor. Damit führt sie in die Irre. Es ist richtig: „Ihr werdet
sein wie Gott.“ Aber was die Schlange nicht dazu gesagt hat: Wenn ihr
diesen Schritt tut, dann werdet ihr sein wie Gott, aber ohne Gott und
gegen Gott. Und ohne Gott und gegen Gott ist das Leben schrecklich,
nur Verzweiflung. Durch diesen Irrtum, durch diese Täuschung, durch
diese Lüge liegt die Menschheit in der Macht des Bösen. „Ihr werdet
sein wie Gott“ ist eine verdrehte Wahrheit, denn auf der ersten Seite
der Bibel heißt es bereits, dass Gott den Menschen nach seinem Bild
geschaffen hat, also sind wir wie Gott als Geschöpfe, nämlich nach
seinem Bild und Gleichnis (Gen 1,27). Nicht durch unsere Auflehnung
werden wir Gott gleich, sondern Gott hat uns geschenkt, nach seinem
Bild zu sein. Diese Würde, das ist christliche Grundbotschaft, haben
wir, die brauchen wir uns nicht zu erkämpfen gegen Gott, gegen seinen
Willen, sozusagen durch eine Emanzipation der Auflehnung gegen Gott,
durch ein Nein gegen seinen Willen. Wir haben diese Würde. Jeder
Mensch ist nach dem Bild und Gleichnis Gottes. Das ist überhaupt die
Grundlage der Sicht der Menschenwürde, wie sie das Christentum
vertritt. Sie kommt jedem Menschen zu, ob er in seinem Leben gut oder
schlecht ist. Mag er noch so viel gefehlt haben, jeder von uns bleibt
nach Gottes Bild und Gleichnis. Diese Würde hat Gott allen verliehen,
die brauchen wir nicht zu erwerben, die kann uns auch nicht der Staat
geben, auch nicht eine Partei und auch nicht unsere Leistung. Die
haben wir.
Aber zugleich ist es richtig, und hier ist wieder eine Teilwahrheit in
dem Wort der Schlange: Wir müssen werden, was wir sind: „Ihr werdet
sein wie Gott.“ Gott will nämlich, dass wir ihm immer ähnlicher
werden, dass sein Bild sich in uns ausprägt, ausgestaltet, dass wir
ihm immer ähnlicher werden und damit immer freier, immer menschlicher
und glücklicher, aber nicht gegen Gott und ohne Gott, sondern in
Freundschaft mit ihm und nicht durch den irren Versuch, die
Gottähnlichkeit von Gott rauben zu wollen, sich selber nehmen zu
wollen, ohne ihn und an ihm vorbei. Das ist das Drama des Sündenfalls.
Das ist die Urkatastrophe, von der die Bibel spricht, dass der Mensch
versucht, Gott zu spielen. In der ganzen Menschheitsgeschichte kommt
das immer wieder vor, die Versuchung, Gott zu spielen: der Kaiser, der
sich als Gott verehren lässt; oder hier in diesem Dom, als Kardinal
Innitzer am 7. Oktober 1938 gesagt hat: „Christus ist unser Führer“,
da war das Grund genug, das Palais zu verwüsten durch die
Hitlerjugend, das verträgt die sich selbst vergottende Macht nicht;
oder in der Wissenschaft Gott zu spielen, die Versuchung, zu glauben,
dass wissenschaftlicher Fortschritt uns gewissermaßen zu Göttern
macht, oder in unseren Beziehungen, in unserem Miteinander, dass wir
glauben, wir könnten das Leben in die Hand nehmen und nach unserem
eigenen Gutdünken „modeln“. Wie Gott sein zu wollen auf eigene Faust,
das ist das, was die Schlange dem Menschen am Anfang als Lüge, als
irreführende Lüge suggeriert hat. Leid, Tod und Unfreiheit sind die
Folge. Daraus sollte Christus uns befreien.
IV.
Nun steht bereits am Anfang der Bibel ein Wort, im Buch Genesis 3,15,
man hat diesen Vers als erste Frohbotschaft bezeichnet, als
Protoevangelium. Gott spricht da zur Schlange, die den Menschen mit
Lüge und List getäuscht hat. Da heißt es: „Feindschaft setze ich
zwischen dich und die Frau, zwischen deinen Nachwuchs und ihren
Nachwuchs. Er trifft dich am Kopf, und du triffst ihn an der Ferse.“
Wir müssen ein wenig in diese rätselhafte Stelle hineinschauen.
In diesem rätselhaften Vers ist also die Rede von der Frau und von
ihrem Nachkommen, eigenartig in der Einzahl, ihrem Nachkommen. Von
diesem Nachkommen heißt es, er werde die Schlange am Kopf treffen,
aber die Schlange werde ihn an der Ferse verletzen. Gott kündigt also
einen Kampf an. Aber er kündigt an, dass der Kampf gut ausgehen wird,
wenn auch mit Verwundungen. Er kündigt an, die Frau und ihr Nachwuchs
werden die Schlange besiegen. In diesem Kampf spielt die Frau eine
ganz entscheidende Rolle. Sie ist ja die Mutter des Nachkommen,
sozusagen die Voraussetzung auch für seinen Sieg. Nun haben die
Christen sehr früh schon diesen Vers Gen 3,15 auf Maria und ihr Kind
gedeutet. Er ist der Nachkomme, sie ist die Frau. Er zertritt der
Schlange den Kopf. Die lateinische Bibel hat da noch eine interessante
Variante, die so genannte Vulgata, also die lateinische Übersetzung
der hebräischen Bibel. Dort wird nämlich nicht vom männlichen
Nachkommen gesagt, dass er den Kopf zertreten wird, sondern sie, die
Frau, wird den Kopf der Schlange zertreten. Deshalb sehen wir in
zahllosen Mariendarstellungen, vor allem wenn es um die Maria
immaculata geht, sie oft mit dem Fuß auf dem Kopf der Schlange. Das
geht auf diesen Vers in der lateinischen Fassung zurück. Im
Glaubensbewusstsein der Kirche, das sehr stark geprägt ist durch diese
Lesart, zertritt sie der Schlange den Kopf. Auch im Bewusstsein der
Gläubigen ist dieses Gespür sehr stark gewachsen, dass Maria den Sieg
über den Widersacher des Menschen in ganz besonderer Weise bewirkt.
Nun feiern wir am nächsten Sonntag dieses Besondere an Maria, diese
besondere Ausrüstung, die Gott ihr gegeben hat, damit sie Siegerin
sein kann, damit sie gewissermaßen ihre Mission erfüllen kann. Wir
feiern am 8. Dezember, der dieses Jahr auf einen Sonntag fällt, das
Fest, wie es volkstümlich heißt, der „unbefleckten Empfängnis“, der
„ohne Erbsünde empfangenen Gottesmutter Maria“. Was hat das mit der
Mission zu tun? Ich hoffe, es wird noch deutlicher werden.
Was heißt überhaupt „unbefleckte Empfängnis“, sehr missverständlich
und oft missverstanden. Die Kirche feiert von zwei Menschen das Fest
ihrer Empfängnis. Im Allgemeinen feiern wir nur den Geburtstag oder
den Namenstag, das Fest der Empfängnis ist eigentlich nicht üblich. Es
ist auch selten, dass die Eltern ihren Kindern den Tag der Empfängnis,
so sie ihn genau wissen, auch anvertrauen. Es ist etwas sehr
Behutsames und Diskretes, über das man ja nicht so leicht spricht.
Aber von zwei Menschen feiern wir ausdrücklich das Fest der
Empfängnis, nämlich neun Monate vor Weihnachten die Empfängnis Jesu
durch Maria, am 25. März, und eben am 8. Dezember, neun Monate vor
Maria Geburt am 8. September, das Fest ihrer Empfängnis. „Unbefleckte
Empfängnis“ das heißt nicht, dass die Empfängnis Mariens, die wie
jedes Menschenkind von ihren Eltern Joachim und Anna empfangen worden
ist, dadurch befleckt ist, dass sie eine geschlechtliche Empfängnis
ist. Das wäre ein völliges Missverständnis, leider ein sehr häufiges
Missverständnis. „Unbefleckte Empfängnis“ heißt das Fest, im vollen,
exakten Wortlaut: „Ohne Erbsünde empfangene Gottesmutter Maria“. Gott
hat Maria vom ersten Moment ihrer Existenz an von dem, was wir
Erbsünde nennen, dem Schaden, dem Makel, dem Defekt der Erbsünde,
freigehalten. Lassen Sie mich das jetzt ein bisschen in der Sprache
der letzten Katechese sagen, dass sozusagen in diesem Menschen vom
ersten Moment der Empfängnis an kein Angriffspunkt für den Widersacher
ist, keine Angriffsfläche, denn die Erbsünde heißt ja, dass in jedem
Menschen eine Geneigtheit zum Bösen, eine Anfälligkeit für die Sünde,
eine Verführbarkeit zur Sünde besteht. Gott wollte, dass es einen
Menschen gibt, der ganz und gar frei ist von jeder Angriffsfläche, von
jedem Angriffspunkt des Menschenfeindes. Maria sollte sozusagen mitten
in der vom Bösen belagerten und besetzten Menschheit ein Brückenkopf
für Gottes Rettungsplan sein. Verzeihung wenn die Sprache wieder etwas
militärisch oder martialisch klingt. Aber ich glaube da verstehen wir,
warum Maria eine so einzigartige Mission hat. Gott hat sie selber für
diese Mission bereitet, in seiner souveränen Freiheit hat er sie
erwählt unter allen Menschen sie, als gewissermaßen den „Landepunkt“
seines Reiches. In ihr, durch sie sollte Gottes Sohn seine Mission
beginnen können.
Was ergibt sich daraus für die Mission? Zweierlei: 1. An Maria sehen
wir, dass Gott absolut souverän, souverän frei ist in seinen
Initiativen. Er setzt die entscheidenden Initiativen. So wie er die
Welt erschaffen hat, wie wir glauben, im Credo bekennen, so glauben
wir, dass er die Initiativen setzt, um uns zu retten. Die
Befreiungsaktion ist seine Aktion. Er ist sozusagen der „Spielleiter“
der Mission. 2. Aber, und das ist ganz wichtig, Gott überfährt den
Menschen nicht. Er hat uns die Freiheit gegeben und er will, dass
unsere Freiheit aufs äußerste geachtet und respektiert wird. Wenn er
den Menschen nach seinem Bild geschaffen hat, dann heißt das als
freies Wesen, das er ansprechen kann, das er achtet und das er
fördert.
Wenn wir die Empfängnis Jesu in Maria anschauen, das heißt das
Evangelium von der Verkündigung (Lk 1,26-38), da sehen wir ja, Gott
ist ganz souverän, er hat sie ausgesucht: „Du bist voll der Gnade“
(28-30). „Du wirst empfangen und einen Sohn gebären, dem sollst du den
Namen Jesus geben. Er wird … Sohn des Allerhöchsten genannt werden“
(31) – souveräne freie Erwählung Gottes, dass sie die Mutter seines
Sohnes wird, aber nicht ohne ihre Zustimmung. Und nun das Wichtige:
Maria will verstehen. Sie fragt, sie will nicht begreifen, aber sie
will doch verstehen. Ihre Freiheit erfordert auch, dass sie innerlich
mitgehen kann mit dem, was Gott ihr zumutet. Blinder Gehorsam wäre ein
Widerspruch zur Freiheit, die Gott dem Menschen zugedacht, gegeben
hat. Es ist deshalb kein Mangel an Vertrauen, wenn sie fragt: „Wie
soll das geschehen?“ (34), wenn sie verstehen will. Auf dieser
Grundlage kann sie dann völlig vertrauend vorbehaltlos ja sagen zum
Plan Gottes. Auch in die Dunkelheit des Glaubens hinein, ohne genau zu
wissen, wie das alles dann im einzelnen sein wird, aber doch so, dass
ihre Freiheit voll angesprochen und einbezogen ist. Weil sie die
immaculata, die ohne Erbsünde empfangene ist, ist sie ganz frei und
offen und kann ohne den Widerstand der Sünde sich völlig auf Gottes
Weg einlassen. Ich glaube, das ist etwas ganz Entscheidendes für das
Verständnis der Mission: Die Initiative liegt bei Gott, aber er will,
dass wir mitspielen, er will unsere Freiheit nicht überfahren. Deshalb
darf die Mission auch nie die Freiheit des anderen überfahren. Sie
darf kein Druck und erst recht nicht ein Zwang sein.
Und noch etwas sehen wir: Dieses Mitgehen der Freiheit Mariens macht
sie unglaublich kreativ. Es ist ein Paradox, aber es ist so und die
christliche Erfahrung bestätigt das: Je mehr wir uns auf den Willen
Gottes einlassen, desto freier werden wir, nicht abhängiger, nicht
unfreier sondern im Gegenteil freier und kreativer. Bei Maria sieht
man das ganz besonders deutlich, wie kreativ, wie initiativ sie ist in
ihrem Eingehen auf den Willen Gottes. Ich nenne zwei Beispiele: 1. Der
Besuch bei Elisabeth (Lk 1,39-56). Maria hat empfangen, das Geheimnis
ihrer Empfängnis vom Heiligen Geist nimmt in ihr Gestalt an. Sie
erfährt leiblich das Wunder, das an ihr geschehen ist, und sie macht
sich auf zu Elisabeth, die im sechsten Monat schwanger ist – fast
möchte man sagen, die erste Missionsreise. Maria geht zu Elisabeth.
Diese Initiative ist, wie immer bei Maria, ganz konkret. Sie will
helfen, sie will da sein, sie will bei ihrer Verwandten sein. 2. Die
Hochzeit von Kana (Joh 2,1-12), auch da die wache Aufmerksamkeit, ganz
konkret auf die peinliche Situation der Gastgeber: „Sie haben keinen
Wein mehr“ (3). Diese konkrete Aufmerksamkeit macht sie zur
Missionarin, so sehr, dass sie Jesus sogar zuvorkommt. Eigentlich will
Jesus sich noch nicht zeigen. „Es ist noch nicht meine Stunde. Frau,
was willst du?“ (4). Aber Jesus zieht gewissermaßen die Stunde seines
Handelns vor, weil Maria ihm zuvorgekommen ist mit ihrer Initiative.
Sicher ganz entscheidend ist die Kreuzesstunde. Da kann man sagen,
dass in diesen Stunden beim Kreuz gewissermaßen die Mission in Maria
ganz durchgebrochen, ganz aufgebrochen ist, nämlich in ihrem letzten
und völligen Ja zum Opfer ihres Sohnes, zum Opfer Jesu, der sein Leben
für alle Menschen gibt. Deshalb stimmt sie zu, für alle Menschen da zu
sein. Wenn er sein Leben für alle gibt, dann ist sie für alle da. Im
Katechismus der Katholischen Kirche steht der schöne Satz: „Sie ist
überall Mutter, wo er Erlöser ist“ (KKK 973). Da er der Erlöser aller
Menschen ist, ist sie die Mutter aller Menschen.
V.
Kommen wir zum Schluss. Der Heilige Vater nennt Maria oft den Stern
der Evangelisierung. Inwiefern ist sie der Stern der Mission? Welchen
Weg weist uns dieser Stern für die Mission? Wie sieht Mission aus,
wenn man sie sozusagen mit den Augen Mariens ansieht? 1. Sie hat von
Anfang an den Weg zu den Armen und Kleinen eingeschlagen – große
Anfrage an uns, an die Kirche heute! Sie ist dem Vorbild Gottes hier
einfach nachgefolgt, denn Gott ist zu den Armen gegangen, indem er
selber als Armer Mensch geworden ist. Wenn wir schauen, wie sieht das
in der ganzen Kirchengeschichte aus? Wohin geht Maria? An unbedeutende
Orte, Lourdes, zu einer unbedeutenden Analphabetin, dieses
vierzehnjährige Kind Bernadette, Maria Pócs, die Ikone, die geweint
hat, eine einfache, nicht sehr künstlerische Ikone, vom ästhetischen
Standpunkt her nicht besonders schöne Ikone, und doch so geliebt.
Maria geniert sich nicht wie in Kevelaer ihre Gnaden zu schenken durch
ein kleines Papierbildchen von Maria. Das ist das heilige Bild, das in
Kevelaer verehrt wird. Oder die Mutter Gottes in Syrakus, wirklich
kein ästhetisches Wunderwerk. Aber dort, im Armen, im Kleinen, im
Bescheidenen spricht Maria, wirkt sie.
2. Ihre Mission geht immer zu Herzen. Sie spricht die Herzen an.
Nichts Gewaltsames, kein Überwältigen, kein Zwang, kein Druck, sondern
nur die Kraft des Herzens. Unvergleichlich ist ihre Gabe, die Herzen
zu berühren. Was ist wichtiger in der Mission als das! Ich erinnere
mich an einen Taxifahrer in Rom. Er hatte ein Bildchen von Padre Pio
und ein Bildchen von der Muttergottes von Lourdes. Ich habe ihn
gefragt, ob er schon in Lourdes war. Da sind ihm gleich die Tränen
gekommen, ein ganz normaler Taxifahrer in Rom. Er hat gesagt: Es ist
eigenartig, ich fahre jedes Jahr nach Lourdes, und immer wenn ich an
Lourdes denke muss ich weinen. – Vielleicht ist das auch das
südländische Temperament. Aber Maria spricht die Herzen an und sie
kann die härtesten Herzen berühren und öffnen.
3. Interessant, wie sie die Orte der Mission auswählt, wo sie
besonders wirkt. Schauen wir auf die Orte, an denen Maria besonders
wirksam ist. Sie sind alle wie Nazaret. Das gibt uns schon zu denken
auch für die Mission. Was heißt das für die Stadtmission? Drei Dinge
zum Schluss: hinhören, wie Maria, mit dem Herzen erwägen, in
Erinnerung bewahren, was Gott sagt und tut; betrachten, wie Maria
wirkt, wo sie wirkt, für wen sie wirkt und das als Leitfaden für die
Mission nehmen; sie zu bitten, dass sie uns zeigt, wie man so einfach,
so unkompliziert, so kreativ, so initiativ Wege zu den Herzen der
Menschen findet, wie sie es kann. Ich glaube, da ist sie wirklich auch
der Leitstern für unsere Stadtmission.
(Kardinal Christoph Schönborn) |