Am 14. Dezember 1927, ziemlich genau 30
Jahre nach ihrem Tod, hat Papst Pius XI. Thérèse von Lisieux zur
Patronin der Missionen in der ganzen Welt ernannt. Thérèse wäre damals
54 Jahre alt gewesen, heute würden wir sagen kein Alter. Sie ist am
30. September 1897 mit 24 Jahren gestorben. Papst Pius XI., der sie
zuerst selig- und dann zwei Jahre später heiliggesprochen hat, hat sie
als den „Stern seines Pontifikats“ bezeichnet. Was hat ihn bewogen,
diese Karmelitin, die mit 24 Jahren gestorben ist, die seit ihrem
Eintritt nie aus ihrem Kloster herausgekommen ist, zusammen mit dem
hl. Franz Xaver, dem großen Jesuitenmissionar, der den ganzen Orient
durchreist hat, zur Patronin der Weltmission zu bestimmen? Eine
Karmelitin und die Mission.
Heute möchte ich fragen: Was kann uns Thérèse über die Stadtmission
sagen, über das, was das Innerste und Wichtigste bei der Mission ist?
Der Heilige Vater hat sie am 19. Oktober 1997 zur Kirchenlehrerin
ernannt, 100 Jahre nach ihrem Tod. Es gibt heute in Afrika, so sagte
mir Weihbischof Guy Gaucher von Lisieux, über 40
Schwesternkongregationen, die Thérèse als ihre Gründerin, als ihre
Patronin betrachten. Was hat Thérèse mit der Mission zu tun? Wenn wir
an Paulus zurückdenken, in den letzten beiden Katechesen, was hat sie
mit ihm gemeinsam? Was unterscheidet sie? Was hat sie uns Wesentliches
über die Mission zu sagen? Ich möchte wieder in drei Schritten
vorgehen, zuerst einen kurzen Blick auf ihr Leben werrfen, das ist den
meisten bekannt, ich sage da wohl kaum etwas Neues, dann zweitens
einige Schlüsseltexte vorstellen, sie wird heute vor allem selber zu
Wort kommen, und schließlich die Frage: Was ist das Geheimnis ihrer
missionarischen Wirksamkeit heute? Offensichtlich ist sie nach wie vor
voll und ganz am Werk. Wir wollen um ihre Fürbitte, ihren Schutz für
die Stadtmission auch bitten.
I.
Ihr Vater war Uhrmacher, die Mutter war Dentellière, sie hat Spitzen
gemacht, wie das in der Normandie üblich ist. Beide wollten eigentlich
ein gottgeweihtes Leben, ein eheloses Leben führen in der
Ordenskonsekration an Gott, aber der Wille Gottes war offensichtlich
ein anderer. Sie hatten neun Kinder, zwei Söhne und zwei Töchter sind
schon als Kinder gestorben. Thérèse war die jüngste, die neunte, am 2.
Jänner 1873 geboren. Schon mit zwei Jahren sagt sie: „Je serai
religieuse.“ Was hat sie sich darunter vorgestellt? „Ich werde
Ordensschwester werden.“ Thérèse ist erst vier Jahre alt, als die
Mutter stirbt. Dieser schwere Einschnitt in ihrem Leben hat wohl auch
entscheidend dazu beigetragen, dass sie jahrelang unter allen
möglichen Krankheitsphänomenen gelitten hat, besonders empfindsam war.
Pauline, ihre ältere Schwester, tritt 1882 in den Karmel ein, und
Thérèse sagt gleich: „Auch ich werde Karmelitin sein“, aber „pour
Jésus seul“ – „für Jesus allein“. Ihre erste heilige Kommunion ist ein
unvergesslicher, tiefer Moment der völligen Verbindung, der
Verschmelzung, wie sie sogar sagt, mit Jesus. Ihre wohl auch
psychosomatischen Krankheiten steigern sich, und sie ist in
Lebensgefahr. Sie erlebt die Heilung durch das Lächeln der
Muttergottesstatue in ihrem Zimmer, „La Vierge du Sourire“ – „die
Jungfrau des Lächelns“. Maria hilft ihr. Es kommt zu dieser
entscheidenden Gnade, von der ich noch sprechen werde, der
Weihnachtsgnade 1886, in der sie von ihren Skrupeln, ihren Ängsten
geheilt wird. Zu den ersten prägenden Erfahrungen gehört nach dieser
Weihnachtsgnade die Geschichte mit Pranzini, dem mehrfachen Mörder,
der zum Tod verurteilt war. Auch davon werde ich noch reden. Mit
fünfzehn ist Thérèse schon ungeduldig, sie will Karmelitin werden und
auf einer Wallfahrt nach Rom, die einen Monat lang dauert, wagt sie
es, sich dem greisen Papst Leo XIII. zu Füßen zu werfen und ihn zu
bestürmen, dass er ihr erlaubt, Karmelitin zu werden. Am 9. April 1888
tritt sie in den Karmel ein, und sie sagt: „um Seelen zu retten und um
für die Priester zu beten“, über beides werden wir noch sprechen.
Alles ist in ihrem Leben auf Jesus zentriert. Es ist eigenartig, man
kann ihre Schriften durchsehen, das kann man jetzt alles mit dem
Computer machen, es gibt sie auf CD-ROM, man kann mit Knopfdruck sich
auch alle Wortstatistiken ausgeben lassen. Der Name Jesu kommt etwa
1600mal vor, Christus ungefähr 20mal. Immer ist es Jesus. Er ist ihre
einzige Liebe, „Jésus mon unique amour“ – „Jesus, meine einzige
Liebe“. Wenn es einen Sinn in ihrem Leben gibt, das wird auch der
ganze Sinn ihrer Mission sein, wir kommen dann vor allem im dritten
Punkt darauf: „L’Aimer [Jésus] et Le faire aimer“ – „Ihn lieben und
dazu arbeiten, dass die anderen ihn lieben“, dass möglichst viele
Menschen Jesus lieben (Brief 220). Aber sie selber hat die ganz
bescheidene Zielvorstellung, sie möchte Jesus so lieben, wie er noch
nie geliebt worden ist, ganz bescheiden. Aber das gehört zu ihrem Weg,
zu ihrem Leben. Sie spricht immer von „de désir infini“ – „unendlichem
Verlangen“. Sie hat ein unendliches, durch nichts zu begrenzendes
Verlangen, Jesus zu lieben. Freilich, ihr Leben ist ganz unscheinbar.
Eine Schwester im Kloster sagte, als sie schon sehr krank war und man
absehen konnte, dass sie bald sterben wird: Was wird man wohl im
Nachruf über diese kleine Schwester schreiben können? Gibt es da
überhaupt etwas zu berichten?
Etwas was die beiden letzten Jahre ihres Lebens besonders prägt, ist
die Brieffreundschaft, ja die geistliche Freundschaft mit zwei
Priestern, zwei Missionaren, einer in Afrika und einer in China, Abbé
Bellière und P. Roulland. Sie hatte sich immer einen Bruder gewünscht,
sie hatte nur die beiden kleinen, früh gestorbenen Brüder im Himmel,
und ihre Eltern hatten sich gewünscht, dass einer ihrer Söhne Priester
und Missionar wird. Sie sagt einmal: „Priester kann ich nicht werden,
aber Missionar.“ Sie ist es geworden.
Sie stirbt am 30. September 1897 an Tuberkulose, die sie hingerafft
hat. Die letzten Monate ihres Lebens lebt sie in einer, wie sie selber
sagt, „dichten Finsternis“, einer unvorstellbaren Glaubensprüfung.
Alles Spürbare Wahrnehmen der Nähe Gottes ist weg, sie geht durch eine
tiefe Dunkelheit im bloßen, im nackten Glauben bis zum Schluss.
II.
Fragen wir jetzt nach diesem kurzen Überblick über dieses kurze Leben
und dieses so dramatische Sterben: Was sind die Schlüssel ihrer
missionarischen Tätigkeit? Ich möchte drei sehr bekannte Stellen
herausgreifen, die in ihren autobiographischen Schriften im ersten
Heft, wo sie von ihrer Zeit vor dem Ordenseintritt spricht, hinter
einander stehen. Es sind drei Erlebnisse mit vierzehn Jahren. Thérèse
ist höchst wach und intelligent, sie hat eine ganz schnelle und
lebendige Auffassungsgabe und vielfältige Begabungen.
1. Die erste dieser entscheidenden Erfahrungen ist die
„Weihnachtsgnade“. Ich darf sie einfach selber zu Wort kommen lassen:
„Es war am 25. Dezember 1886, da mir die Gnade zuteil wurde, der
Kindheit zu entwachsen, kurz, die Gnade meiner vollständigen
Bekehrung. – Wir kamen von der Mitternachtsmesse heim, wo ich das
Glück hatte, den starken und mächtigen Gott zu empfangen.“ – Das heißt
die Kommunion zu empfangen. – „Als wir in den Buissonnets anlangten,
freute ich mich darauf, meine Schuhe aus dem Kamin zu holen.“ – In
Frankreich gab es damals keinen Christbaum, sondern man hat die Schuhe
in den Kamin gestellt, da waren dann vom Christkind Geschenke drin.
Sehr viel Platz hat es nicht in den Schuhen, es können nur kleine
Freuden sein. – „Dieser alte Brauch hatte uns in unserer Kindheit
soviel Freude bereitet, dass Céline damit fortfahren wollte, mich wie
ein kleines Kind zu behandeln, da ich nun einmal die Jüngste der
Familie war... Papa freute sich, mein Glück zu sehen und meine
Jubelrufe zu hören bei jeder Überraschung, die ich aus den
verzauberten Schuhen zog […] Aber Jesus wollte mir zeigen, dass ich
mich von den Fehlern der Kindheit befreien sollte und entzog mir auch
deren unschuldige Freuden; er ließ es zu, dass Papa, ermüdet von der
Mitternachtsmesse, ärgerlich wurde, als er meine Schuhe im Kamin
stehen sah, und Worte sagte, die mir das Herz durchbohrten: «Nun,
gottlob ist es das letzte Jahr! ...» […] Céline, die meine
Empfindsamkeit kannte und Tränen in meinen Augen schimmern sah, hätte
am liebsten auch welche vergossen, [...] «Ach! Thérèse!» sagte sie,
«geh nicht hinunter, es wäre zu schmerzlich für dich, jetzt gleich in
deine Schuhe zu schauen.» Aber Thérèse war nicht mehr die gleiche.
Jesus hatte ihr Herz umgewandelt! Ich drängte meine Tränen zurück und
eilte die Treppe hinunter; mein Herzklopfen unterdrückend, nahm ich
meine Schuhe, stellte sie vor Papa hin und zog fröhlich alle
Gegenstände hervor, glücklich ausschauend wie eine Königin. Papa
lachte, auch er war wieder fröhlich, und Céline glaubte zu träumen!...
Zum Glück aber war es süße Wirklichkeit, die kleine Thérèse hatte ihre
Seelenstärke wiedergefunden, die sie im Alter von viereinhalb Jahren
verloren hatte, und die sie sich nunmehr für immer bewahren sollte!...
In dieser lichtstrahlenden Nacht begann mein dritter Lebensabschnitt,
der schönste von allen, der am reichsten mit himmlischen Gnaden
erfüllte... In einem Augenblick hatte Jesus vollbracht was mir in
zehnjähriger Anstrengung nicht gelungen war, er begnügte sich mit
meinem guten Willen, an dem es mir nie fehlte.“ – Jetzt achten Sie auf
ihre wunderbare Art, die Heilige Schrift in ihr Leben herein zu ziehen
und aus dem Evangelium, aus der Heiligen Schrift ihr Leben zu deuten:
„Wie die Apostel konnte ich ihm sagen: «Herr, ich habe die ganze Nacht
gefischt und nichts gefangen» (Lk 5,5). Noch barmherziger gegen mich
als gegen seine Jünger nahm Jesus selbst das Netz, warf es aus und zog
es gefüllt mit Fischen wieder ein...“ – Unglaublich gewagt, wie sie
das Evangelium, diese Stelle: „Werft die Netze noch einmal aus!“ (Lk
5,4), das Motto, das Kardinal Groër für sein Bischofsamt genommen
hatte: „Auf dein Wort hin“ (Lk 5,5) werfen die Apostel, wirft Petrus
noch einmal das Netz aus. Hier sagt Thérèse: Jesus selber hat es
ausgeworfen und gefüllt mit Fischen wieder eingeholt. Sie sagt weiter:
„Er machte mich zum Seelenfischer.“ – Jesus sagt zu den Aposteln: „Von
jetzt an werdet ihr Menschen fangen“ (Lk 5,10). – „Ich spürte ein
großes Verlangen, an der Bekehrung der Sünder zu arbeiten, ein
Verlangen, das ich vorher nicht so lebhaft empfunden hatte... Ja, ich
fühlte die Liebe in mein Herz einziehen, das Bedürfnis, mich selbst zu
vergessen, um Freude zu machen, und von da an war ich glücklich! ...“
(Selbstbiographische Schriften 95-97).
Das ist also die Gnade der Weihnacht, diese plötzliche, ihr Leben
umkehrende Gnade, die sie mit vierzehn Jahren erfährt. Was ist diese
Gnade? Sich selbst zu vergessen, um Freude zu machen, das heißt die
Befreiung aus der Gefangenheit in die eigene Empfindsamkeit, in die
Selbstbezogenheit, diese Überempfindlichkeit, unter der sie und ihre
Geschwister so gelitten haben. Von jetzt an wird nichts mehr sie
aufhalten. Sie wird sich nicht mehr bei sich selber aufhalten, sie
wird nicht mehr auf ihre Schwächen schauen, im Gegenteil, ihre
Schwächen werden Anlass, nicht bei sich selber hängen zu bleiben. Sie
wird ganz fähig zur Zuwendung: „Ich fühlte die Liebe in mein Herz
einziehen.“ Sie wird fähig zu dieser unglaublichen Zuwendung,
Aufmerksamkeit, Wachheit, die ihr Leben von jetzt an bestimmt. Ihr
Blick ist nicht mehr auf sich selber gerichtet, auf ihr Leid, ihre
Schwächen, sondern auf Jesus. „Jésus, mon unique amour“ – „Jesus,
meine einzige Liebe“, das ist jetzt ihre Lebensorientierung. Deshalb
kann sie von sich selber sagen, in aller Bescheidenheit aber in der
Bescheidenheit eines Wissens um die Gaben, die ihr geschenkt sind: Von
jetzt an war ihr Leben „une course de géant“ – „der Lauf eines
Riesen“, das ist ein Psalmwort, das sie hier gebraucht. Der Psalm sagt
es von der Sonne, die wie ein Held über den Himmel zieht (Ps 19,6) –
„une course de géant“. So sieht sie ihr eigenes Leben.
2. Dieses Freiwerden von sich selber und sich Zuwenden zu Christus,
seiner Leidenschaft, seiner Liebe zu den Menschen, das ist das
Geheimnis ihrer Missionskarriere. Das sieht man gleich in der zweiten
Schlüsselerfahrung, die unmittelbar anschließt: „Als ich eines
Sonntags die Photographie unseres Herrn am Kreuz betrachtete, ward ich
betroffen vom Blute, das aus einer seiner Göttlichen Hände floss. Ich
empfand tiefen Schmerz beim Gedanken, dass dies Blut zur Erde fiel,
ohne dass jemand herzueilte, es aufzufangen. Ich beschloss, im Geiste
meinen Standort am Fuße des Kreuzes zu nehmen, um den ihm
entfließenden Göttlichen Tau aufzufangen, und begriff, dass ich ihn
nachher über die Seelen ausgießen müsse... Der Schrei Jesu am Kreuz
widerhallte ununterbrochen in meiner Seele: «Mich dürstet!» (Joh
19,28). Diese Worte entfachten in mir ein unbekanntes, heftiges
Feuer... Ich wollte meinem Viel-Geliebten zu trinken geben und ich
fühlte mich selbst vom Durst nach Seelen verzehrt...“
(Selbstbiographische Schriften 97).
Es ist wirklich ein erstaunlicher Text, machtvoll. Thérèse ist ganz
wach geworden, ihr Herz kann mitleiden, sie sieht den Herrn am Kreuz.
Sie sieht das Blut aus seinen Wunden. Aber es ist nicht nur Mitleid
mit seinem physischen, körperlichen Leid, es ist die Erschütterung
darüber, dass das für uns vergossene Blut so unbeachtet bleibt, dass,
wie Franziskus sagt, die Liebe nicht geliebt wird. Dieser Schmerz
trifft sie. Das ist das tiefste Mitleid mit dem Heilswillen Jesu.
Warum wird Jesu Liebe nicht mehr angenommen? Da beschließt Thérèse,
wieder unglaublich gewagt, sich beim Kreuz aufzuhalten, „de me tenir
en esprit au pied de la Croix“ – „im Geist mich am Fuß des Kreuzes
aufzuhalten“, dort meinen Platz zu finden, dort, wo Maria, Johannes
und Maria von Magdala standen, aber nicht passiv, sondern aktiv, um
das göttliche Blut aufzufangen. Mich fasziniert immer wieder an
Thérèse dieses Gewagte, dieses unglaublich eigentlich alle ängstlichen
Maße Sprengende: „Ich begriff, dass ich es nachher über die Seelen
ausgießen müsse.“ Sie hat eine Heilsaufgabe. – Ich erwähne nur in
Klammer, man müsste es sich näher anschauen, die erstaunliche
Parallele zum so genannten dritten Geheimnis von Fatima, wo es eine
ganz ähnliche Passage gibt. – Es ist eine direkte, mit Christus
verbundene Mission, die schon damals im Grunde grenzenlos ist. Wenn
Christus sein Blut für alle vergossen hat, so will Thérèse immer
entschiedener das Heil aller, weil es Jesu Wille ist. Sie will deshalb
Jesu Durst stillen, ihr Mitleid mit ihm wird zum Durst, an seinem Werk
teilzunehmen. Ihr Durst wird sein Durst nach Seelen. Sie zeichnet dann
ein kleines Bild, ein Kreuzesbild, auf das sie diese beiden Worte
zusammen schreibt: „Mich dürstet“, Jesu Wort am Kreuz (Joh 19,28), und
daneben das andere Wort, das Jesus zur Samariterin sagt: „Gib mir zu
trinken“ (Joh 4,7). Sie deutet es in diesem Sinn.
„Seelen retten“, das hat man ein wenig belächelt, hat gesagt, das sei
überholt, eine altmodische Sprechweise. Aber erinnern wir uns
vielleicht an die erste Katechese: Was ist denn Mission? Ist das nicht
zuerst eine Rettungsaktion? Erinnern wir uns daran, wie Jesus im
Abendmahlssaal inständig gebetet, den Vater angefleht hat, dass keiner
verloren gehe (Joh 17,15), von denen „die du mir gegeben hast“. So
sagt Thérèse im Blick auf dieses Bild des Gekreuzigten: „Ich brannte
vor Verlangen, die großen Sünder den ewigen Flammen zu entreißen.“
3. Die dritte Erfahrung geht genau in diese Richtung. Sie sagt selber
gleich anschließend: „Um meinen Eifer anzuspornen, zeigte mir der
Liebe Gott, dass ihm mein Verlangen wohlgefällig sei.“ – Dann kommt
die Geschichte von Pranzini, die so bewegend ist, dass ich immer
aufpassen muss, dass ich nicht zu weinen anfange. Man hat vor einigen
Jahren in einem anatomischen Institut in Frankreich die Büste von
diesem Pranzini wiedergefunden, dessen abgeschlagenes Haupt man
studiert hat, weil man anatomisch sozusagen wissen wollte, wie kommt
ein Mensch dazu, so ein schrecklicher Verbrecher zu sein. – „Ich hörte
damals von einem großen Verbrecher, der wegen schrecklicher Verbrechen
zum Tode verurteilt worden war, alles ließ vermuten, dass er
unbußfertig sterben würde. Ich wollte ihn um jeden Preis daran
hindern, der ewigen Verdammnis anheimzufallen.“ – Wieder dieser
unglaubliche Wagemut der Thérèse! – „Um es dahin zu bringen, wandte
ich alle erdenklichen Mittel an; wohl wissend, dass ich aus mir selber
nichts vermochte, bot ich dem Lieben Gott alle unendlichen Verdienste
Unseres Herrn an und die Schätze der Heiligen Kirche, schließlich bat
ich Céline, eine Messe nach meiner Meinung lesen zu lassen […] Ich
hätte gewünscht, dass alle Menschen sich mit mir vereinten, um die
Gnade für den Schuldigen zu erflehen. Im Grunde meines Herzens fühlte
ich mit Gewissheit, dass unser Verlangen erfüllt werden sollte.“ – Sie
war sich dessen gewiss! – „Um mir jedoch Mut zu machen, im Gebet für
die Sünder fortzufahren, sagte ich dem lieben Gott, ich sei ganz
sicher, dass er dem unglücklichen Pranzini verzeihen werde, dass ich
dies sogar glauben würde, wenn dieser nicht beichtete und kein Zeichen
der Reue gäbe, so großes Vertrauen hatte ich in die unendliche
Barmherzigkeit Jesu.“ – Das ist Thérèse, dieses unendliche Vertrauen
in die unendliche Barmherzigkeit Jesu. – „Aber ich bäte ihn doch um
«ein Zeichen» der Reue, einfach zu meinem Trost... Mein Gebet wurde
wörtlich erhört. Trotz des Verbotes, das Papa für uns erlassen hatte,
irgendeine Zeitung zu lesen, glaubte ich nicht ungehorsam zu sein,
wenn ich die Stellen las, die von Pranzini handelten. Am Tage nach
seiner Hinrichtung fällt mir die Zeitung «La Croix» in die Hand. Ich
öffne sie hastig, und was sehe ich?... Ach! meine Tränen verrieten
meine Bewegung, und ich musste mich verstecken... Pranzini hatte nicht
gebeichtet, er hatte das Schafott bestiegen und wollte eben seinen
Kopf in das grausige Loch, stecken, als er plötzlich, einer jähen
Eingebung folgend, sich umwendet, das Kruzifix ergreift, das ihm der
Priester hinhielt, und dreimal die heiligen Wunden küsst! ... Dann
ging seine Seele hin, das erbarmende Urteil Dessen zu empfangen, der
verkündet, im Himmel werde mehr Freude sein über einen einzigen
Sünder, der Buße tut, als über 99 Gerechte, die der Buße nicht
bedürfen. Ich hatte das erbetene «Zeichen», erhalten.“ – Und jetzt
schauen Sie, wie Thérèse die Zeichen liest. – „Und Dieses Zeichen war
das getreue Abbild von Gnaden, die Jesus mir gewährt hatte, um mich
zum Gebet für die Sünder anzuspornen. War nicht angesichts, der Wunden
Jesu, als ich sein Göttliches Blut fließen sah, der Durst nach Seelen
in mein Herz eingedrungen? Ich wollte ihnen dies unbefleckte Blut zu
trinken geben, das sie von ihren Makeln reinigen sollte, und die
Lippen «meines ersten Kindes»“ – sie nennt Pranzini „mein erstes Kind“
– „hatten sich auf die heiligen Wundmale gedrückt!!! ... Welch
unsäglich zarte Antwort! ... Oh! seit dieser einzigartigen Gnade wuchs
meine Begierde, Seelen zu retten, jeden Tag, mir war, ich hörte Jesus
zu mir sagen wie zur Samariterin: «Gib mir zu trinken!» Es war ein
wahrer Tauschhandel der Liebe; den Seelen gab ich das Blut Jesu, und
Jesus bot ich eben diese vom Göttlichen Tau erquickten Seelen an, so
glaubte ich seinen Durst zu stillen, und je mehr ich ihm zu trinken
gab, desto größer würde der Durst meiner armen kleinen Seele, und
diesen brennenden Durst gab er mir als den köstlichsten Trank seiner
Liebe...“ (Selbstbiographische Schriften 98-99).
Wir verstehen schon, dass Papst Johannes Paul II. sie zur
Kirchenlehrerin ernannt hat. Das ist wirklich machtvolle Lehre. Ich
glaube, man kann nicht umhin, die innere Kraft dieser Worte zu
empfinden. Hier spricht Gottes Kraft und Geist: „mein erstes Kind“ –
Ermutigung auf dem Weg der Fürbitte und des Vertrauens weiter zu
gehen. Bald weitet sich die Perspektive aus, speziell für die Priester
zu beten. Es war dann ihre Romreise, wo sie zum ersten Mal den Klerus
aus der Nähe erlebt hat. Sie hatte eine ganz hehre Vorstellung von den
Priestern, dass sie alle heiligmäßig und ganz besonders sein. Dann
einen Monat lang mit ihnen zusammen auf der Pilgerreise nach Rom hat
sie feststellen müssen, dass die geistlichen Herrn in ihrer hohen
Würde doch auch schwache und gebrechliche Menschen blieben. Und so
entschließt sie sich umso mehr, die Berufung des Karmel anzunehmen,
für die Priester zu beten.
4. Aber was ist die Apostolatshaltung der Thérèse? Sie fasst es in ein
Wort: „Jesus tut alles. Ich tue nichts“ (Brief 142). Freilich, dieses
nichts, von dem sie hier spricht, ist kein passives. Noch einmal: Sie
hat sehr wohl ein Tun im Auge: „Aimer Jésus et Le faire aimer“ –
„Jesus lieben und machen, dass er geliebt wird“. Das erfordert, wie
sie einmal ausführlich an ihre Schwester Céline schreibt, das Feuer
der Liebe zu nähren, zu unterhalten: „O Céline! Wie leicht ist es,
Jesus zu gefallen, sein Herz zu entzücken. Man braucht ihn nur zu
lieben, ohne auf sich zu schauen, ohne allzu sehr seine eigenen Fehler
zu untersuchen.“ – Das sagt die, die früher so von Skrupeln geplagt
war. – „Mein Seelenführer ist Jesus. Er lehrt mich nicht, meine
Tugendakte zu zählen“ – wie sie es gelernt hatte, dass man möglichst
viele Tugendakte zählt. – „Er lehrt mich, alles aus Liebe zu tun, Ihm
nichts zu verweigern, zufrieden zu sein, wenn er mir eine Gelegenheit
gibt, ihm meine Liebe zu beweisen. Dies aber geschieht im Frieden, in
der Hingabe [l’abondon].“ – „Jesus tut alles, und ich tue nichts.“
Aber eben dieses „nichts“ heißt für sie, das Feuer der Liebe zu
unterhalten. Sie schreibt noch einmal an Céline, ihre Schwester: „Die
hl. Teresa [von Ávila] sagt, man müsse die Liebe erhalten […] Jesus
ist mächtig genug, das Feuer allein zu unterhalten, doch freut er sich
wenn er sieht, dass auch wir etwas dazu beitragen.“ – Das kommt immer
wieder: „Jesus Freude machen“. Manchmal sagt sie auch: „Jesus
trösten“. – „Ich habe diese Erfahrung gemacht: Wenn ich nichts
empfinde, wenn ich UNFÄHIG bin zu beten, die Tugend zu üben, dann ist
es an der Zeit, kleine Gelegenheiten zu suchen, Nichtigkeiten, die
Jesus Freude bereiten, mehr Freude als die Herrschaft über die Welt
oder sogar mehr als das großmütig erlittene Martyrium, beispielsweise
ein Lächeln, ein liebes Wort, wenn ich nichts sagen oder ein
verdrießliches Gesicht machen möchte usw. usw ... Verstehst Du, meine
geliebte Céline? Es geschieht nicht, um mir einen Kranz, um mir
Verdienste zu erwerben, sondern um Jesus zu erfreuen ... Bieten sich
mir keine Gelegenheiten, dann will ich Ihm wenigstens oft sagen, dass
ich ihn liebe […] O nein! Ich bin nicht immer treu, doch ich verliere
nie den Mut. Ich überlasse mich ganz den Armen Jesu“ (Brief 143, S.
204).
Ganz am Schluss der Autobiographischen Schriften, der „Geschichte
einer Seele“, sagt sie dieses unglaubliche Wort: „Statt mit dem
Pharisäer vorzutreten, wiederhole ich voll Vertrauen das demütige
Gebet des Zöllners; vor allem aber ahme ich das Verhalten Magdalenas
nach, ihre erstaunliche oder vielmehr ihre liebende Kühnheit, die das
Herz Jesu entzückt, reißt auch das meinige hin.“ – Dann sagt sie, es
ist praktisch der Schluss ihrer Autobiographie: „Ja, ich fühle es,
hätte ich auch alle begehbaren Sünden auf dem Gewissen, ich ginge hin,
das Herz von Reue gebrochen, mich in die Arme Jesu zu werfen, denn ich
weiß, wie sehr Er das verlorene Kind liebt, das zu ihm zurückkehrt“
(Selbstbiographische Schriften 275).
Brüder und Schwestern, dieses Vertrauen, dieses grenzenlose Vertrauen,
und hätte ich die schlimmsten Sünden begangen, ich ginge zu Jesus und
würde mich ihm in die Arme werfen, sagt Thérèse. Dieser kleine Weg ist
ihre Mission. Diese Mission will sie allen Menschen bekannt machen.
III.
Sie glaubt, und damit kommen wir zum Schluss, dass diese Mission erst
richtig beginnen wird, wenn sie aus diesem irdischen Leben scheidet.
Am Ende ihres Lebens, in ihrer Krankheit hat sie sich sehr gesorgt
darum, dass ihre Schriften, ihre drei Hefte, die sie über ihr Leben
geschrieben hatte, nach ihrem Tod bekannt gemacht werden. Sie hat sich
nicht getäuscht. Innerhalb eines Jahres ist dieses Buch in der ganzen
Welt bekannt gewesen: „L’histoire d’une âme“ – „Die Geschichte einer
Seele“. Das ist ihre Mission. Den beiden Priesterbrüdern, P. Roulland
und Abbé Bellièr, hat sie ihre letzten missionarischen Intentionen,
ihr missionarisches Herz anvertraut. Dem einen schreibt sie: „Die
Entfernung“ – er ist als Missionar in China – „wird unsere Seelen nie
trennen können. Sogar der Tod wird unsere Vereinigung noch inniger
gestalten. Wenn ich bald in den Himmel komme, bitte ich Jesus um die
Erlaubnis, Sie in Su-tchuen“ – in China, wo er Missionar ist – „zu
besuchen, und wir werden unser Apostolat gemeinsam fortsetzen. Bis
dahin bleibe ich Ihnen stets im Gebet vereint, und ich bitte unseren
Herrn, er möge mir nie Freuden schenken, während Sie leiden. Ich
möchte sogar, dass mein Bruder immer den Trost und ich die Prüfungen
habe“ (Brief 193, S. 298).
Und im letzten Brief an P. Roulland, diesen Bruder und Freund in
China, schreibt sie: „Wenn Sie diesen Brief erhalten, habe ich
zweifellos die Erde verlassen. Der Herr wird mir in seiner unendlichen
Barmherzigkeit sein Reich aufgetan haben, und ich kann aus seinen
Schätzen schöpfen, um sie an die Seelen, die mir lieb sind, zu
verschwenden.“ – Verschwenden, denn im Himmel gehören ihr alle Schätze
Gottes, sagt sie ganz ungeniert, deshalb kann sie frei darüber
verfügen und sie auf die Menschen verteilen. – „[…] Mein Bruder ich
fühle es, im Himmel werde ich ihnen viel nützlicher sein als auf der
Erde, und freudigen Herzens kündige ich Ihnen meinen bevorstehenden
Eintritt in diese glückselige Stadt an in der Gewissheit, dass Sie
meine Freude teilen und dem Herrn danken, dass er es mir ermöglicht,
Ihnen in Ihrer apostolischen Arbeit wirksamer zu helfen. Ich rechne
bestimmt damit, im Himmel nicht untätig zu bleiben. Mein Wunsch ist,
weiter für die Kirche und die Seelen zu arbeiten. Ich bitte den lieben
Gott darum, und ich bin sicher, dass Er mich erhören wird. Sind die
Engel nicht immerfort um uns bemüht, ohne je aufzuhören, das göttliche
Antlitz zu schauen […]? Warum sollte Jesus mir nicht erlauben, es
ihnen gleich zu tun? […] Seit langem ist mir das Leiden zu meinem
Himmel auf Erden geworden, und ich habe wirklich Mühe, mir
vorzustellen, wie ich mich in einem Land akklimatisieren soll, wo die
Freude ohne jede Mischung von Traurigkeit herrscht.“ – Sie kann sich
nicht vorstellen, wie das im Himmel sein soll. Dann sagt sie: „[…] Was
mich zur Himmlischen Heimat zieht, ist der Ruf des Herrn, ist die
Hoffnung, ihn endlich zu lieben, wie ich es so sehr gewünscht hatte
und“ – das ist jetzt Mission – „der Gedanke, dass ich eine große Zahl
von Seelen ihn lieben lehren darf, die ihn ewig preisen werden“ (Brief
254, S. 370-371).
Wir schließen mit einem Wort, das fast aus derselben Zeit stammt, aus
den letzten Worten, die Thérèse gesagt hat, die die Schwestern
aufgeschrieben haben. Sie sagt am 17. Juli, zweieinhalb Monate vor
ihrem Tod: „Ich spüre, dass meine Mission beginnen wird, meine
Mission, den lieben Gott lieben zu machen, wie ich ihn liebe, meinen
kleinen Weg den Seelen zu geben. Wenn mein Verlangen erhört sein wird,
dann wird mein Himmel sich auf Erden abspielen bis zum Ende der Welt.
Ja, ich möchte meinen Himmel auf Erden verbringen, um Gutes zu tun.
Das ist nicht unmöglich, denn auch in der seligen Gottesschau wachen
die Engel über uns. Nein, ich kann im Himmel keine Ruhe nehmen bis zum
Ende der Welt, so lange es Seelen zu retten gibt. Aber wenn dann der
Engel sagt: Die Zeit ist zu Ende!, dann und erst dann werde ich mich
ausruhen, um zu genießen, denn dann erst wird die Zahl der Erwählten
vollständig sein und alle werden in die Freude und in die Ruhe Gottes
eingegangen sein. Mein Herz jubelt bei diesem Gedanken“ (Novissima
Verba 81-82). |