Lasset uns
beten! Barmherziger Gott, komm unserm Tun und Nachdenken mit deiner
Gnade zuvor und begleite es, damit alles, was wir beginnen, bei dir
seinen Anfang nehme und mit deiner Hilfe vollendet werde. Darum bitten
wir dich durch Christus unsern Herrn. Amen.
Mit Freude beginne ich und begrüße Sie zu dieser neuen Serie von
Katechesen, die in diesem Arbeitsjahr 2001/02 den Fragen der
christlichen Moral gewidmet sein soll, genauer den Grundlagen, dem was
das menschliche sittliche Handeln eigentlich zu einem sittlichen
macht, zu einem guten.
I.
Beginnen wir ganz einfach mit dem Wort "Moral". Für viele Menschen
hat das Wort Moral vor allem einen negativen Beigeschmack. Es erinnert
an Verbote und Gebote, "du darfst nicht ..." und "du sollst ..." Und
das stimmt natürlich auch, denn sehr vieles an der Moral hat mit
Verboten und Geboten zu tun. Wenn wir von Verkehrsmoral sprechen, dann
meinen wir eben ein korrektes Verhalten im öffentlichen Verkehr. Wenn
wir von öffentlicher Moral sprechen, dann hat das sehr viel zu tun
natürlich mit "du musst ..." und "du darfst nicht ...": Du musst
Steuern zahlen, du darfst sie nicht hinterziehen. Du musst dich an die
Verkehrsregeln halten und darfst sie nicht überschreiten. So ist es
eigentlich in fast allen Lebensbereichen, dass es Dinge gibt, die eben
verboten sind, und andere, die geboten sind. All das bildet einen
umfassenden Bereich von Regeln, an die wir uns halten müssen, wenn das
Leben halbwegs erträglich sein soll. Daran geht kein Weg vorbei.
Vieles daran ist natürlich auch Zwang. Wahrscheinlich würden wir keine
oder sehr wenig Steuern zahlen, wenn wir nicht wüssten, dass wir dafür
bestraft werden, wenn wir sie nicht bezahlen. Und wahrscheinlich würde
mancher schneller fahren, als es erlaubt wäre, wenn er nicht wüsste
etc. Und mit dem Alkoholkonsum beim Autofahren ist es ähnlich. Die
Furcht vor möglichen Sanktionen, möglichen Strafen ist ein wichtiges
Mittel, um uns im Rahmen des Anständigen und Ordentlichen, dessen zu
halten, was eben für das menschliche Zusammenleben notwendig ist. Ein
ordentliches Maß an öffentlicher Moral, das hat sehr viel auch mit
Zwang, mit vorgeschriebenen Forderungen zu tun. Dort, wo es solche
Regeln nicht gibt, dort wird das Zusammenleben sehr schnell zur Qual.
Ich erinnere mich an eine Stadt in Südamerika, die ich besucht habe,
Pedro Carvo in Ecuador, 40.000 Einwohner, zwei Priester aus unserer
Diözese arbeiten dort als Seelsorger. Die Bevölkerung hat die Polizei
vertrieben, weil sie dermaßen korrupt war, dass die Bevölkerung
zurecht geglaubt hat, sie lebt besser ohne diese Polizei als mit ihr.
Das hat natürlich auch zur Folge, dass Diebstahl und Mord an der
Tagesordnung sind und dass jeder, der es irgendwie kann, bewaffnet ist
um sich selber zu verteidigen. Welches Privileg, dass wir in einem
Land leben dürfen, in dem öffentliche Sicherheit gegeben ist - bitte
das immer zu bedenken, wenn wir versucht sind, über Österreich zu
raunzen. Viel an der Moral ist also Pflicht, "du musst" und "du darfst
nicht". Jeder weiß aus eigener Erfahrung oder aus Beobachtung, dass es
für Kinder sehr viel an Lernen auf diese Weise gibt. Wir müssen
lernen, als Kinder und natürlich auch immer noch als Erwachsene. Oft
genug sind es diese Schutzmauern von Verboten und Geboten, die uns
davor bewahren, Unsinn zu machen, die uns vor den eigenen Gefährdungen
schützen und natürlich auch vor denen der anderen. Wie leicht lassen
wir uns von Leidenschaften treiben und wie wichtig ist es, dass es
Grenzpfähle, Grenzmarkierungen gibt, die uns einschränken. Aber das
bringt natürlich mit sich, dass das Wort Moral einen recht negativen
Beigeschmack hat, als etwas, das uns einengt, das uns wie ein Korsett
die Freiheit raubt. So hat das Wort Moral vielfach auch einen etwas
lustlos und freudlos klingenden Nebenton.
II.
Nun, nach diesem ersten Blick auf das Wort Moral mag man sich die
Frage stellen: Tun wir eigentlich das Gute nur deshalb, weil wir dazu
gezwungen werden, weil uns letztlich nichts anderes übrigbleibt, als
uns halbwegs anständig zu benehmen? Vermeiden wir das Böse nur
deshalb, weil wir Angst haben vor den negativen Folgen, vor Strafen,
Sanktionen? Sicher ist es immer wieder auch das. Da wir Menschen sind,
im Glauben sagen wir erbsündlich geprägte Menschen, die wissen, dass
wir eben auch zum Bösen geneigt sind, bedürfen wir dieser Grenzen, die
uns daran hindern, Fehler zu begehen. Angst vor Folgen von
Fehlverhalten, das hat schon manchen und wohl auch uns selber oft
davon abgehalten, etwas Böses zu tun, und hat uns geholfen, etwas
Gutes zu tun. Oft tun wir das Gute einfach, weil es von uns verlangt
ist. Wir müssen uns anständig benehmen. Die Stewardess im Flugzeug
muss freundlich sein. Wenn sie es nicht ist, verliert sie ihren Job.
Ob sie jetzt darauf Lust hat, zu den Fluggästen freundlich zu sein
oder nicht, da wird sie nicht viel gefragt, ob es ihr jetzt Spaß macht
zu lächeln, sie tut es, es ist ihre Pflicht und eine unfreundliche
Stewardess ist nicht sehr lange Stewardess. Noch einmal, so sieht es
aufs erste gesehen aus, als käme es bei der Moral vor allem auf diesen
äußeren Rahmen an, das Müssen und das Nichtdürfen. Aber, wenn wir
näher hinschauen ist das natürlich nicht alles. Es kann ja durchaus
auch sein, dass die Stewardess wirklich freundlich ist, dass sie es
nicht nur tut, weil sie es muss, vielleicht auch deshalb und das hilft
ihr an Tagen, wo sie grantig ist, eben auch doch sich zu überwinden
und freundlich zu sein, aber vielleicht tut sie es auch, weil es ihr
Freude macht, weil es etwas Positives ist, freundlich zu sein. Was
macht es eigentlich aus, wenn wir sagen: Das ist ein gütiger Mensch?
Meinen wir damit jemand, der durch äußeren Zwang, durch äußere
Notwendigkeit freundlich zu sein hat und es sozusagen notgedrungen
ist? Oder meinen wir nicht, wenn wir sagen, jemand ist ein gütiger
Mensch, einen Menschen, dem die Güte von innen her aus den Augen und
aus dem Herzen, aus seinem ganzen Wesen leuchtet? Wir nennen erst so
jemanden einen wirklich gütigen Menschen, wenn wir spüren, bei dem ist
die Güte etwas Inneres, das ist eine Qualität seines Lebens. Wenn wir
so jemandem begegnen, dann spüren wir auch in uns ein Echo, dass es
gut ist, bei so einem Menschen zu sein. Es tut uns einfach gut, mit
gütigen Menschen zusammen zu sein, wie es sehr mühsam sein kann, mit
grantigen Menschen oder gar mit verbitterten Menschen zusammen zu
sein. Spontan empfinden wir es als menschlicher, wenn jemand von innen
heraus freundlich ist und nicht nur einfach zwangsweise. Wenn man
spürt, das Lächeln, das kommt jetzt nicht wie von einer Maske, die man
berufsmäßig aufsetzt, sondern das kommt aus dem Herzen. Wir sind
sicher schon solchen Menschen begegnet. Dann kommt auch der Wunsch
auf, so zu sein. Dann spüren wir, das hat etwas zu tun mit einem
gelungenen Leben. Ein solcher Mensch ist menschlicher als ich
vielleicht mich selber erlebe, der ich so meinen Schwankungen
ausgesetzt bin, und ich möchte auch so sein, wie dieser Mensch. Es
zieht mich hin, mich darum zu bemühen, einen Weg zu suchen, auch aus
dem Herzen heraus gütig zu sein und nicht nur aufgezwungenermaßen.
Aber damit ist eine weitere Einsicht verbunden, die sehr nüchterne
Einsicht, dass das nicht automatisch geht. Natürlich gibt es Menschen,
die ein fröhliches Gemüt haben, denen es leichter fällt freundlich zu
sein als anderen. Wer ein schwermütiges Gemüt mitbekommen hat,
vielleicht geerbt hat, der wird sich mehr bemühen müssen um
Freund-lichkeit als jemand, dem das gewissermaßen in die Wiege gelegt
ist. Aber wir merken, es gibt so etwas wie ein Bemühen darum, ein
Arbeiten daran, dass das Leben menschlicher wird, dass es gelingt. Es
gelingt offensichtlich nicht von selber. Die Tiere haben da das Leben
etwas einfacher, sie haben es mitbekommen. Eine kleine Katze, die auf
die Welt kommt, muss nicht sehr viel lernen von der Katzenmutter, sie
krabbelt gleich los und ist sehr schnell selbständig. Sie muss auch
nicht lernen, wie sie Katze wird, das hat sie "programmiert", das
trägt sie in sich, sie hat ein von ihren Instinkten, von ihrem
Katzesein geleitetes Verhalten. Und es gelingt ihr sozusagen mühelos,
Katze zu sein. Uns gelingt das Menschsein nicht mühelos. Bei uns ist
es anders, wir sind vom ersten Moment unseres Lebens auf dieser Welt
angewiesen auf enorm viel Hilfe. Ein preisgegebenes Kind kann alleine
nicht überleben. Schauen wir uns ein Neugeborenes an, das ist ganz
anders als bei einer kleinen Katze oder einem kleinen Hund, bei dem
stellen wir uns nicht die Frage: Was wird einmal aus deinem Leben?,
bei einem Menschenkind schon, da stellen wir uns die Frage: Was wird
einmal aus dir werden? Wie wird dein Leben aussehen? Wie wird es
gelingen? Oder wird es misslingen? Was wirst du selber aus dir machen?
Was werden andere aus dir machen? Wirst du ein guter Mensch werden?
Alle diese Fragen sind da, wenn man ein Kind zur Taufe trägt.
Vielleicht tragen auch deshalb viele, die selber aus der Kirche
ausgetreten sind, ihre Kinder dennoch zur Taufe, aus diesem Wissen
heraus, es ist keine Selbstverständlichkeit, dass das Leben dieses
Kindes gelingt. Was für Wege wirst du gehen? Was wird dir widerfahren
in deinem Leben? Aber auch: Was wirst du aus dem machen, was dir
widerfährt? Wie wirst du mit Glück und Unglück umgehen? Auch Hitler
war einmal ein solches Neugeborenes und auch Mutter Theresa war so ein
neugeborenes Kind. War das jetzt einfach Schicksal, dass das Leben des
einen in diese Richtung gegangen ist und das Leben von Mutter Theresa
in so eine ganz andere Richtung? War das in den Sternen
vorprogrammiert, vorgezeichnet? Warum schaudert uns vor dem Lebensweg
des einen, und warum sind wir so dankbar für den Lebensweg der
anderen? Warum stimmt es unser Herz freudig, wenn wir an Mutter
Theresa denken? Warum betrachten wir ihr Leben als geglückt, warum ein
anderes als Irrweg, als erschütterndes Scheitern eines menschlichen
Lebensweges?
III.
Damit sind wir bei der Frage: Was macht eigentlich ein geglücktes
Leben aus? Was ist das: geglückt? Was ist das Glückliche an einem
geglückten Leben? Damit sind wir bei der Urfrage der Menschheit.
Aristoteles, der große griechische Philosoph, sagt, und ich glaube es
ist schwer, diesem Satz zu widersprechen: Wir wollen glücklich sein.
Jeder Mensch will glücklich sein, oder zumindest glücklich werden,
wenn er unglücklich ist. Und wir wollen glücklich bleiben. Wir wollen
nicht nur ein paar Minuten lang glücklich sein, sondern wir wollen,
dass das dauert. Niemand richtet sich gerne im Unglück ein. Wie werde
ich also glücklich? Das ist die große Frage an die Moral, und damit
sind wir bei einem großen Streit unter den Weisen der Moral: Geht es
im sittlichen Leben um das Glück oder geht es um die Pflicht? Geht es
darum, dass ich das Gute tun muss oder geht es darum, dass ich das
Glück suchen darf? Ich erinnere mich an eine Amerikanerin, sie ist
schon gestorben. Ihre Großmutter, die schon lange gestorben ist, hat
sie genötigt, Klavier zu lernen. Und sie hat es gehasst, wie es oft
Kindern geht, wenn sie ein Instrument lernen müssen. Mit vierzehn hat
sie daran Spaß bekommen, da hat die Großmutter, die eine strenge
Puritanerin war, es ihr verboten, denn man tut nicht etwas, das einem
Spaß macht. Was ist das richtige Maß für die Sittlichkeit: die Pflicht
oder das Glück? Diese Frage wird uns immer wieder beschäftigen, und
ich hoffe, dass wir sehen werden, dass es kein Gegensatz ist. Auf
jeden Fall sagen die alten heidnischen und auch die alten christlichen
Meister, dass das Glück irgendwie der Maßstab für das richtige Leben
ist. Die große Frage ist nur: Was ist wirklich Glück? Worin besteht
es? Es gibt vieles, was uns im Moment Spaß macht, was uns unterhält,
was uns vielleicht sogar Freude macht und wo wir dann doch nach
einiger Zeit merken, das war noch nicht das Glück. Es freut uns, wenn
wir anerkannt sind und Ehre genießen. Trotzdem merken wir mit der
Zeit, das Glück kann nicht darin bestehen, dass ich Ehren und
Auszeichnungen bekomme. Viele suchen das Glück im Reichtum, und es ist
verständlich, dass es einem in vieler Hinsicht einfach besser geht,
wenn es einem materiell wohl geht, als wenn es einem materiell
schlecht geht. Und doch, wir wissen, wie schnell das weg sein kann und
wie sehr das Glück alleine nicht im Geld liegen kann. Und so bewegt
sich die Philosophie der frühen Meister und auch die christliche
Philosophie immer wieder um diese Frage: Was macht uns eigentlich
glücklich? Sicher ist, das alle nach Glück streben. Ein ganz einfaches
Beispiel: Schauen wir die Werbung an! Wer würde in der Werbung
versuchen, für eine Ware zu werben, indem er sagt: Das macht sie
unglücklich? Es gab in den siebziger Jahren ein berühmtes Buch eines
bekannten amerikanischen Werbestrategen, Ernest Dichter hieß er, "Die
Strategie der Wünsche". Wer etwas anpreisen will in der Werbung, ob
das jetzt Zigaretten sind oder Unterwäsche, Waschmittel oder eine
Lebensversicherung oder Lotto-Toto oder auch Reli - das ist kein
Getränk, sondern das ist Religionsunterricht, es läuft nämlich zur
Zeit eine, wie mir scheint ganz gelungene, Werbekampagne für den
Religionsunterricht - immer geht es darum, den Betrachter, den
Konsumenten dieser Werbung davon zu überzeugen, dass er, wenn er das
erwirbt, Glück erwirbt. Es geht also darum, die Wünsche auf das hin zu
richten, was man an den Mann bringen, was man verkaufen will. Man will
offensichtlich immer glücklich werden. Die Kunst der Werbung ist,
dieses Glücksverlangen auf das zu bewerbende Objekt hin zu lenken und
zu zeigen, dass es Glück verspricht. Alle streben nach Glück. Aber
dieses Streben stößt auf viele Hindernisse, der Mangel an Geld, wenn
man glaubt, dass Geld glücklich macht, der Mangel an Macht, an Erfolg.
Aber auch die Moral selber scheint immer wieder und überall Barrieren
aufzurichten, die mir sagen: Das darfst du nicht! Das sollst du nicht!
So sieht es, noch einmal, so ,aus als wäre die Moral der große
Spielverderber bei der Suche nach dem Glück. So empfinden es Kinder
oft, wenn die Eltern ihnen Vorschriften machen, wenn die Lehrer
verlangen, dass man etwas lernt. Das sieht nicht nach Glück aus. Die
berühmte Geschichte vom Lebertran, den man uns eingeflößt hat als
Kinder - heute werden Kinder nicht mehr damit traktiert: Für jeden
Löffel Lebertran bekam man zehn Groschen, das war damals schon etwas.
(Wenn die Flasche leer war, dann wurde mit dem ersparten Geld eine
neue Flasche Lebertran gekauft.) Müssen wir nicht die Frage umgekehrt
stellen: Was macht glücklich? Worin besteht beständiges Glück, ein
Glück, das ich nicht morgen bereuen muss, sondern das mein Leben
erfüllt und das sogar die letzte Probe besteht, nämlich den Tod, das
auch der Tod nicht zerstören kann. Nun wissen wir alle aus Erfahrung,
dass nicht alles, was Spaß macht auch glücklich macht. Das heißt
nicht, dass Spaß nicht erlaubt ist, aber wir wissen, dass dauerhaftes
Glück immer auch etwas zu tun hat mit Opfer, Mühen und Leiden, nicht
nur aber auch. Wenn wir von einer glücklichen Ehe sprechen, dann
meinen wir sicher nicht eine Ehe, in der es immer spaßig zugeht. Das
Glück hat seinen Preis, aber es gibt es. Es gibt die glückliche Ehe.
Das heißt aber sicher nicht, dass es eine einfache Ehe ist. Die
Sehnsucht, die in unserm Herzen ist, dass wir glücklich werden, die
uns angeboren ist, die wir mit auf die Welt bringen, diese Sehnsucht
kann doch letztlich nicht vergeblich sein. Das glauben wir als
Christen, wir glauben, dass Gott dieses Verlangen nach Glück in das
Menschenherz gelegt hat, nicht aus Sadismus, aus Bosheit, so wie es in
dem griechischen Mythos ist, im Mythos von Sysiphus, der immer wieder
einen Stein hinauf wälzen muss, und wenn er gerade oben angelangt ist,
rollt der Stein wieder herunter. Nein, Gott hat uns nicht dieses
Verlangen nach Glück ins Herz gelegt, um uns zu quälen mit
vergeblicher Mühe.
IV.
Von den vielen, vielen Predigten, die ich gehört habe als Kind,
als Jugendlicher, muss ich gestehen, ich kann mich an nichts daran
erinnern, was gesagt worden ist. Das ist nicht sehr ermutigend für die
Prediger. Vielleicht ist manches im Unterbewussten geblieben,
vielleicht hat manches auch aus dem Unterbewussten in mein Leben
prägend eingewirkt. Ich kann mich aus der ganzen Kinderzeit nur an
einen einzigen Satz unseres Pfarrers erinnern. Obwohl wir unseren
Pfarrer sehr geliebt haben, und ich erinnere mich gut an das Gefühl,
das von ihm ausging, wenn er hoch oben auf der Kanzel stand - damals
predigte man noch von der Kanzel - es war das Gefühl, dass von dieser
Kanzel Wohlwollen und Liebe auf uns herunter geströmt ist. Aber an
einen Satz kann ich mich erinnern, der wie ein isolierter Stein
herausragt aus dem Vergessen. Einmal hat unser Pfarrer gesagt: "Gott
will, dass wir glücklich werden." Diesen Satz habe ich mir gemerkt.
Warum gerade diesen? Gott will, dass wir glücklich werden. "Hiermit
lege ich dir heute das Leben und das Glück, den Tod und das Unglück
vor ... Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also
das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen" (Dtn 30,15.19).
Dieser Satz steht im Buch Deuteronomium, im fünften Buch Mose, ganz am
Schluss, wo Gott noch einmal seinem Volk Leben und Tod, Glück und
Unglück vor Augen stellt. Wähle das Leben! Wähle das Glück! Damit sagt
aber Gott auch seinem Volk: Wir müssen wählen. Wir müssen uns
entscheiden und es hängt von der richtigen Wahl ab, ob wir Glück oder
Unglück, Leben oder Tod ernten. Und im folgenden, in diesen Katechesen
wird uns in diesem Jahr die Frage beschäftigen: Wie wähle ich das
Leben? Wie geschieht das Schritt für Schritt auf meinem Lebensweg? Die
biblische, jüdische und christliche Moral versteht sich als Wegweisung
zu einem glücklichen Leben. Gott will, dass wir glücklich werden.
Damit wir diesen Weg finden und diesen Weg gehen können, gibt uns Gott
Wegzeichen, Wegmarken und Hilfen. Im folgenden wird immer wieder von
diesen Wegmarken die Rede sein. Zwei seien zuerst genannt: Gott gibt
uns Wegweisung durch seine Gebote. Jetzt bekommt das Wort Gebot und
natürlich auch Verbot gleich einen anderen Klang: Gott weist uns den
Weg zum Glück. Gott will uns nicht einen Weg zur Freude absperren
durch Verbote und Gebote, sondern im Gegenteil, er sagt uns: Geh
diesen Weg oder geh diesen Weg nicht, denn dieser Weg führt zum Glück
und jener führt zum Unglück. "Wenn du auf die Gebote des Herrn, deines
Gottes, auf die ich dich heute verpflichte, hörst, indem du denn
Herrn, deinen Gott liebst, auf seinen Wegen gehst und auf seine
Gebote, Gesetze und Rechtsvorschriften achtest, dann wirst du leben",
sagt der Herr in demselben dreißigsten Kapitel des Buches
Deuteronomium (Dtn 30,16). Und ganz ähnlich sagt Jesus dem reichen
Jüngling, der ihn fragt: "Meister, was muss ich tun, um das Leben zu
gewinnen?" - "Wenn du das Leben erlangen willst, halte die Gebote" (Mt
19,16-17). Wir werden also uns näher ansehen müssen, warum die Gebote
Gottes ein Weg zum Glück sind. Weil Gott unser Glück will, zeigt er
uns den Weg dazu und warnt uns vor dem Weg zum Unglück. Wir werden
aber nicht nur von diesen äußeren Wegzeichen sprechen, den Geboten,
sondern auch von einem inneren Kompass. Gott hat in unser Herz einen
Kompass gelegt, der sehr genau funktioniert, der aber auch immer
wieder adjustiert, nachgestellt werden muss. Wir nennen diesen
Kompass, der uns "glückwärts" führt, das Gewissen. Das Gewissen ist
der innere Wegweiser zum Glück. Wenn uns das Gewissen beißt, dann sagt
das: Geh diesen Weg nicht, er ist nicht gut. Oder wenn es uns im
nachhinein beißt, weil wir etwas Schlechtes getan haben, dann sagt uns
das Gewissen: Dieser Weg, den du gegangen bist, war kein guter. Neben
diesen beiden Wegweisern, dem äußeren der Gebote und dem inneren des
Gewissens, möchte ich noch zwei andere Hilfen nennen, die Gott uns auf
dem Weg gegeben hat. Die Vorbilder, wir sehen an Menschen, wir können
an ihnen abschauen, wie das aussieht, einen guten Weg zu gehen, wie
ein geglücktes Leben aussieht. Gerade im Bereich unserer
Lebensgestaltung sind Vorbilder ganz entscheidend, sie sind unsere
"Lebemeister". An ihnen sehen wir, wie das aussieht, wenn man den
richtigen Weg geht. Deshalb gehört zur Sittenlehre immer auch der
Sittenlehrer, und keiner ist ein so großartiger Sittenlehrer wie Jesus
selber. Aber noch ein viertes möchte ich nennen, was Gott uns auf den
Weg gibt, um den Weg zum Glück zu finden. Das mag überraschend
klingen, ich nenne es einfach: die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist
ein großer Lehrmeister. Die Wirklichkeit nötigt uns zum Realismus, zur
Nüchternheit und Sachlichkeit. Wir wissen, dass wir nicht an der
Wirklichkeit vorbei leben können. Wenn ich am Abend zu viel gegessen
habe, weil es mir zu gut geschmeckt hat, dann ist die Wirklichkeit
unerbittlich in der Nacht, wenn ich Alpträume habe und nicht schlafen
kann. Die Wirklichkeit holt uns ein und sagt uns, was an unsern
Schritten nicht richtig war. Umweltsünden, sie rächen sich, sie
zeigen, dass unser Verhalten die Umwelt vergewaltigt und oft sogar
nachhaltig beschädigt. Die Folgen davon bekommen wir zu spüren und sie
zeigen uns, was wir falsch gemacht haben. Wer sich beim Essen und
Trinken nicht an das gesunde Maß hält, beim Genießen, der wird von der
Wirklichkeit des eigenen Körpers eingeholt. Missbrauch meldet sich
durch Krankheit, durch Gesundheitsschäden und erinnert uns an das
gesunde Leben. So ist es in allen Bereichen der Wirklichkeit. Die
Wirklichkeit gibt uns Rückmeldungen, ob unser Weg richtig ist.
Ungerechtigkeiten, kleine oder größere Ungerechtigkeiten können eine
Zeit lang unbemerkt bleiben, früher oder später kommen sie auf uns
zurück. Unwahrhaftigkeit, kurzfristig mag sie erfolgreich sein, aber
"Lügen haben kurze Beine" - Wahrheit und Wirklichkeit gehören
zusammen. Wenn wir in Wort und Tat die Wirklichkeit verleugnen, dann
schlägt sie auf uns selber zurück. Was ich hier Wirklichkeit nenne,
nennt die traditionelle Philosophie und Ethik die "Natur". Sittlich
gutes Handeln ist ein naturgemäßes Handeln. Es ist nicht
widernatürlich. Es hält sich an die Ordnung der Dinge, an die Natur
des Menschen und an die Natur der Dinge, die uns umgeben. "Act
naturally", das erinnert die älteren unter uns an einen Song von den
Beatles, ich weiß, das klingt schon sehr veraltet, wenn man an die
Beatles erinnert, aber in meiner Jugend war das ein sehr beliebter
Song, "Act naturally" - "Handle natürlich!" Aber was entspricht der
menschlichen Natur? Was ist für uns natürlich? Ist die Monogamie
natürlich? Aber in manchen Kulturen gibt es die Polygamie. Ist
Homosexualität "unnatürlich"? Aber viele reden uns ein, dass das eine
Variante unter anderen ist. Was ist natürlich? Wir stehen vor den
großen Fragen der Bioethik: Ist Klonen widernatürlich? Ist das
Eingreifen in den genetischen Code wider die menschliche Natur? Aber
warum soll dann eine Blinddarmoperation nicht widernatürlich sein? Wir
sehn und werden das immer wieder sehen, wie schwierig es ist, im
einzelnen zu sagen, im konkreten sittlichen Urteil: Das entspricht der
Natur, oder: Das widerspricht ihr. Das liegt wohl auch daran, wie das
sittliche Handeln selber beschaffen ist. In den allgemeinen Prinzipien
ist es ganz klar. Aber je praktischer es wird, auf das einzelne hin
gerichtet, desto schwieriger kann es werden, richtig zu urteilen.
Jeder Mensch, so denke ich, jeder Mensch, der menschlich denkt, ist
einverstanden damit: Das Gute ist zu tun, das Böse ist zu lassen. Aber
was heißt ganz konkret, in der jetzigen Situation den Terrorismus
bekämpfen? Ist ein Nachgeben nicht vielleicht eine Ermutigung, dass
der Terror noch größer wird? Ist ein kräftiges Dreinschlagen nicht
auch wieder in Gefahr, dass der Terrorismus noch verstärkt wird und zu
neuen Aktionen ermutigt wird? Wo ist das richtige Maß in der konkreten
Entscheidung. Wir sehen, wie sehr wir für die Politiker beten müssen,
die in diesen schwierigen Fragen ganz konkrete Entscheidungen treffen
müssen. Das Gute ist zu tun und das Böse ist zu lassen. Darüber sind
sich alle einig. Im Alten Testament gibt es, so glaube ich, 661
Gebote. Weil das Leben so vielfältig ist, hat das Volk Israel in
seinem Horchen auf den Willen Gottes versucht, viele
Einzelbestimmungen festzulegen, um auf möglichst viele Situationen
eine Antwort zu geben: Was ist jetzt hier konkret zu tun? Was ist der
Wille Gottes hier und jetzt? Für alle Menschen ist es irgendwie
einsichtig, dass wir naturgemäß, der Wirklichkeit gemäß handeln
sollen. Aber wenn wir da nachzudenken beginnen: Ist es zum Beispiel
sinnvoll, dass wir mit unseren Autos und Flugzeugen so massiv die
fossilen Brennstoffe verbrauchen, dass sie in wenigen Jahrzehnten
aufgebraucht sein werden? Ist das nicht widernatürlich, was wir da
tun? Auch bei den Vorbildern, so klar Vorbilder für uns sein können,
aber ihr Leben kann ich ja nicht eins zu eins in mein Leben
übersetzen. Ich kann nicht das Leben der Mutter Theresa leben, obwohl
sie ein großes Vorbild ist. Ich muss mein Leben leben, meine Talente
erkennen, meine Aufgaben erfüllen, ich muss den Willen Gottes in
meinem Leben erkunden und verwirklichen. So können die Vorbilder mir
helfen, sie können mir Ansporn und Ermutigung sein, aber sie nehmen
mir nicht mein Leben ab. Ich muss selber die richtigen Entscheidungen
treffen. Wie schwer ist das oft für Eltern, wenn sie ihre Kinder
innerlich loslassen müssen, weil die Kinder bei allem Vorbild, das die
Eltern geben können, bei allen Geboten, die sie geben können, doch
letztlich es selber finden müssen.
V.
Blicken wir auf den bisherigen Weg zurück. In unser Herz ist das
Verlangen nach Glück eingeschrieben. Der Weg zum geglückten, zum
glücklichen Leben ist uns aufgetragen, aber wir müssen ihn finden. Wir
wollen und wir dürfen glücklich sein bzw. werden, aber wir finden den
Weg dorthin nicht ohne weiteres. Wir machen selber die schmerzliche
Erfahrung von Irrwegen. Und Gott lässt uns die Freiheit, auch Irrwege
zu gehen. Aber wir haben Orientierungspunkte. Ich habe bisher vier
genannt: 1. Gottes Gebot, das uns Licht auf dem Pfad ist, weil wir es
von uns aus nicht immer so klar sehen: "Halte die Gebote, und du wirst
zum Leben kommen!"; 2. Das Gewissen, das wie ein Kompass ausschlägt,
wenn ich vom Weg abkomme; 3. Die Wirklichkeit, die "Natur", unsere
menschliche Natur und unsere Umwelt-Natur, die von uns erfordert, dass
wir ihr entsprechend handeln; 4. schließlich die Vorbilder, die uns
zeigen, dass es gelingen kann, und die uns den Mut machen, es ist
tatsächlich möglich, auch wenn ich es erst finden und gewinnen muss.
Das wird das große Thema dieses Jahres sein, diesen
Orientierungspunkten nachzugehen. Aber wenn wir noch ein paar Minuten
haben, möchte ich einen fünften Punkt anfügen: Ist das, was ich bisher
gesagt habe, schon christliche Moral? Ist das nicht im Grunde das, was
jeder Mensch als Gepäck mit auf die Reise bekommt für ein menschliches
Leben? Gibt es überhaupt eine christliche Moral? Wäre es nicht besser
zu sagen, es wäre schon gut, wenn wir Christen uns an die menschliche
Moral hielten? Anständige Menschen zu sein ist ja keine Schande. Gibt
es doch etwas, was im Christlichen noch dazu kommt? Ich habe den Titel
der heutigen Katechese genannt: "Das Fundament der christlichen
Moral". Der Katechismus nennt in seinem dritten Teil, der über die
Moral handelt, als Titel: "Das Leben in Christus". Offensichtlich gibt
es noch eine andere Dimension. Ich möchte zum Abschluss einen Satz
zitieren, der ganz am Anfang dieses dritten Teils des Katechismus
steht. Er stammt vom großen Papst Leo dem Großen, aus seiner
Weihnachtspredigt. Er sagt uns das, was ich die fünfte Dimension
nennen möchte, das, was über das Natürliche, Sittliche hinausgeht.
Papst Leo d. Gr. sagt: "Christ, erkenne deine Würde! Du bist der
göttlichen Natur teilhaftig geworden, kehre nicht zu der alten
Erbärmlichkeit zurück und lebe nicht unter deiner Würde. Denk an das
Haupt und den Leib, dem du als Glied angehörst! Bedenke, dass du der
Macht der Finsternis entrissen und in das Licht und das Reich Gottes
aufgenommen bist" (Sermo 21,2-3, KKK 1691). Die christliche
Sittlichkeit ist ein Leben in Christus, ein Leben mit Christus. Das
hier etwas Neues geschieht, das versucht der Katechismus im einzelnen
dann zu entfalten. Ich möchte ganz zum Schluss nur vier Stichworte
nennen zu den vier Dimensionen, die ich eben genannt habe. Die Gebote
Gottes, ja, aber für den Christen sind sie nicht nur äußere Gebote,
der Heilige Geist schreibt sie uns ins Herz und die Liebe sagt uns aus
dem Herzen heraus, was das Gebot ist und nicht nur als äußeres Gebot.
Das Gewissen, jeder Mensch hat das Gewissen, auch der Christ, aber der
Heilige Geist gibt uns ins Gewissen etwas mehr hinein, die Weisung,
die Weisung des Heiligen Geistes, seine Gaben und letztlich seine
Liebe. Und das "Act naturally", "Handle natürlich", heißt für den
Christen auch "Handle übernatürlich", über die Natur hinaus, Glaube,
Hoffnung und Liebe. Schließlich das Vorbild ist der Herr selber.
Christus zeigt uns einen größeren Weg, der über alle unsere eigenen
Anstrengungen zur Sittlichkeit hinausgeht. Über diesen Weg möchte ich
mit Ihnen in diesen Katechesen nachdenken, ihn uns anschauen und ich
hoffe auch, dass wir ihn ein bisschen besser und ein bisschen mehr zu
gehen vermögen.
(Kardinal Christoph
Schönborn) |