Die wahre Freiheit in Christus
Kardinal Schönborn
2. Katechese:2001/02 gehalten am 14. Oktober 2001.

 

Die heutige Katechese, die zweite in der Reihe der Katechesen zu den Fragen der christlichen Sittlichkeit, der christlichen Moral, geht über die Frage der Freiheit. Ich erinnere mich an ein Gespräch in Rom mit Vietnamesen, die mir ihre Geschichte erzählt haben, die Geschichte ihrer Flucht aus dem kommunistischen Vietnam, "Boat-People", Leute also, die unter allergrößten Gefahren sich in einem Boot aufs Meer hinaus gewagt haben in der Hoffnung, irgendwo hinaus zu finden aus diesem großen Gefängnis, diesem kommunistischen Land. In diesem Bericht ist mir so bewusst geworden, wie unbändig, wie ungeheuer stark der Drang zur Freiheit ist, dass man solche Mühen auf sich nimmt, Wochen, Monate lang heimlich ein Boot baut, dann unter größten Gefahren dieses Boot bestückt, ausrüstet und schließlich losfährt, immer in der Gefahr, von der Küstenwache erwischt zu werden, mit den Gefahren der Seeräuber, die es genügend gab und wohl immer noch gibt für die Flüchtlingsboote, schließlich die Ungewissheit, ob man jemals durch Sturm und Gefahren hindurch in die Freiheit kommt, und doch der unbändige Drang zur Freiheit, was für ein kostbares Gut ist die Freiheit!

Wie oft haben wir jetzt, in den letzten Tagen, das Bild der Freiheitsstatue in New York gesehen, mit all der Dramatik, die die Stadt New York in den letzten Tagen erlebt hat und für die ganze Welt auch signalisiert, bezeichnet, aber vergessen wir nicht: Für wie viele Menschen war dieser erste Blick auf die Freiheitsstatue, wenn die Schiffe in den Hafen von New York einliefen, eben wirklich die Hoffnung, ja vielleicht sogar die Verwirklichung eines Traumes: endlich in der Freiheit!

I.

Was für ein kostbares Gut ist die Freiheit! Aber was ist die Freiheit? Das ist die Frage, um die es heute Abend gehen soll. Wir wollen betrachten, was eigentlich Freiheit ausmacht, wenn Freiheit die Voraussetzung für Sittlichkeit ist. Wofür ich mich nicht frei entscheiden kann, dafür bin ich auch nicht verantwortlich, das kann mir nicht angerechnet werden. Wenn der Hund jemanden beißt, dann kommt der Hund nicht vor den Kadi, aber das Herrl oder das Frauerl kommt vor den Kadi, wenn sie zum Beispiel es verabsäumt haben, dem Hunderl einen Maulkorb umzuhängen oder darauf zu achten, dass das Hunderl eben nicht beißt. Das Hunderl ist nicht zurechnungsfähig, es handelt instinktiv und deshalb ist sein Handeln weder gut noch böse, auch wenn wir sagen, manche Hunde sind besonders böse, andere Hunde sind lieb, und man sagt sogar, dass Tiere einen guten oder einen schlechten Charakter haben. Auf jeden Fall wird man einen bösen Hund einsperren, aber man wird ihn nicht einer Freiheitsstrafe unterziehen, man wird ihn nicht ins Gefängnis stecken. Es gibt unendliche Diskussionen in der Philosophie, in der langen Philosophiegeschichte über die Freiheit. Gibt es sie? Gibt es sie nicht? Wo sind ihre Grenzen? Wo sind ihre Bedingungen? Aber wenn wir in den menschlichen Alltag schauen, da wird die Freiheit ständig vorausgesetzt ohne viel nachzudenken. Wir erleben es ständig, dass wir auch zur Rechenschaft gezogen werden für das, was wir tun oder lassen. Wir erwarten ohne viel nachzudenken, dass die Menschen um uns herum, und die andern erwarten es von uns, dass wir uns verantwortlich benehmen.

Oft bewegt mich der Gedanke, wenn man so auf einer Autobahn fährt mit 130, hoffentlich nicht schneller, mit der Geschwindigkeit, die maximal erlaubt ist: Wieso setzen wir eigentlich voraus, dass alle anderen sich ganz verantwortungsbewusst benehmen? Da fährt man mit 130 an einem schweren Lastwagen vorbei, und dieser Lastwagen fährt brav auf seiner Spur, der Fahrer benimmt sich verantwortungsbewusst. Wenn das nicht geschieht, geschieht eine Katastrophe. Und täglich hören wir von solchen Katastrophen, dann heißt es "menschliches Versagen", "überhöhte Geschwindigkeit", "Alkohol am Steuer" oder einfach "Unaufmerksamkeit". Je nach dem wird es dann bei den Gerichtsverhandlungen, bei den mühsamen Verhandlungen über die Frage von Schuld und Zurechnung, darum gehen zu ermessen, wie viel Schuld der hat, der den Unfall verursacht hat. Aber selbstverständlich rechnen wir in unserm Alltag damit, dass Menschen sich verantwortungsbewusst benehmen. Wenn es sich um einen unverschuldeten Defekt handelt, dann wird sicher nicht Schuld zugerechnet, außer man kann ausfindig machen, dass jemand in der Werkstatt zum Beispiel seine Pflicht nicht getan hat und dadurch, für den Fahrer unverschuldet aber für den Mechaniker schuldhaft, ein Unfall geschehen ist. Auf jeden Fall kennen wir diese Verantwortung und das größere oder geringere Maß an Schuld. Wenn jemand absichtlich, leichtfertig einen anderen gefährdet, rechnen wir ihm das höher an, als wenn er unabsichtlich jemand anderen in Gefahr bringt oder gar einen Unfall verursacht. Rücksichtsloses Fahren zum Beispiel wird schärfer geahndet, als wenn jemand einen Sekundenschlaf hatte und dadurch ein Unfall geschehen ist. Auch dann wird er schuldig sein, weil er vielleicht nicht die nötigen Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hat, die notwendig gewesen wären, damit das eben nicht passiert. Wenn einer plötzlich beim Autofahren, wie das einem lieben Freund von mir vor einigen Monaten geschehen ist, einen Gehirnschlag hat und durch diesen Gehirnschlag ein tödlicher Unfall passiert, dann ist weder er noch jemand anderer Schuld an diesem Unfall, dann ist das höhere Gewalt.

Wir sind zurecht empört, wenn Kinder sexuell missbraucht werden. Wir wissen, welch tiefe, oft lebenslange seelische Verletzungen hier entstehen können, schreckliche und tiefe, ein ganzes Leben belastende. Nicht umsonst hat Jesus so streng gerade die ins Gewissen genommen, ihnen ins Gewissen geredet, die den Kleinen ein Ärgernis geben. Besser wäre es, es würde ihnen "ein Mühlstein um den Hals gehängt" und sie würden "ins Meer versenkt", sagt Jesus in diesem schrecklichen Wort (Mt 18,6). Nun mag ein pädophil versuchter Mann sagen, er könne seinem Trieb einfach nicht widerstehen, er könne ihn nicht beherrschen, es sei stärker als er, er sei eben nicht frei in solchen Momenten. Niemand von uns wird den Stab über jemand brechen, der solchen Schwächen erliegt, denn wir wissen alle, wie schwach der Mensch ist. Und doch wird vor Gericht gesagt werden, er hätte die Gefahr meiden müssen, er hätte sich therapeutisch behandeln lassen müssen, er hätte etwas tun müssen, er hätte die Pflicht dazu gehabt, sich seinen Trieben nicht einfach ausgeliefert sein zu lassen. Kurz gesagt, er ist verantwortlich für das, was er tut, und auch für die Bedingungen, für die Rahmenbedingungen seines Tuns, und das natürlich umso mehr, je mehr so jemand in einer verantwortlichen Position ist als Erzieher, als Lehrer, als Priester.

Ich lasse heute ganz bewusst die Frage der Sünde beiseite, wir werden später darauf zurückkommen, also die Frage der Schuld vor Gott. Heute geht es um die Frage der Freiheit. Was bedeutet es, dass wir Verantwortung tragen, ständig, täglich, dass wir mit Verantwortung leben und dass wir dort, wo wir unsere Verantwortung nicht wahrnehmen, auch zur Rechenschaft gezogen werden? All das setzt ja voraus, dass wir frei sind. Auch wenn die Philosophie noch so sehr darüber nachdenkt, was jetzt wirklich die Freiheit ist, im Alltag wird es ständig vorausgesetzt. Es gibt die Freiheit und wir sind verantwortlich, weil wir Menschen sind und nicht Tiere. Aber empfinden wir unsere Verantwortungen und die damit verbundenen Verpflichtungen nicht oft als eine solche Last, eine solche Bürde, dass wir uns eher unfrei fühlen? Fesseln, mit denen wir leben müssen, mehr genötigt als freiwillig?

II.

Bevor wir weiter fragen, was es eigentlich mit der Freiheit auf sich hat, ist es hilfreich daran zu erinnern, dass wir über diese ganz selbstverständlichen Dinge des Alltags viel mehr staunen sollten, dass sie eben gar nicht so selbstverständlich sind. Sie helfen uns, diese so schwierige Frage der Freiheit mit dem nötigen Staunen anzugehen, mit dem Staunen davor, dass es das wirklich gibt, gleichzeitig, dass wir die "Bodenhaftung" bewahren und sehr praktisch bei dieser so schwierigen Frage der Freiheit bleiben. Wenn ich versuche ein wenig die heutige Stimmungslage der Freiheit gegenüber zu betrachten, zu analysieren, dann habe ich einen eigenartig zwiespältigen, fast widersprüchlichen Eindruck. Da gibt es auf der einen Seite eine Unterschätzung der Freiheit und auf der andern Seite eine gewaltige Überschätzung der Freiheit.

1. In vieler Hinsicht wird heute die Freiheit unterschätzt. Wir sind von allem Möglichen geprägt und bestimmt und bedingt. Manche schauen in der Früh in der Zeitung als erste ins Horoskop und wollen wissen, was die Sterne sagen über die Liebe und das Glück und glauben, dass wir also ganz bestimmt sind von den Gestirnen. Der hl. Thomas ist in dieser Hinsicht ganz klar, er sagt: Es gibt Einfluss der Gestirne auf unser Leben, so wie die Natur auf uns Einfluss ausübt. Aber das ist ein sehr allgemeiner Einfluss, der unsere Freiheit nicht einschränkt. Wir kommen auf diese Frage noch zurück. Manche meinen, der Mensch sei genetisch so programmiert, dass alles bereits vorgezeichnet ist im genetischen Code, den man von der Empfängnis an mitbekommet durch die Verschmelzung von Ei und Samenzelle, genetisch programmiert, also unfrei. Oder andere meinen, dass wir ganz und gar von der Umwelt geprägt sind, die Umwelt bestimmt uns, sie macht uns abhängig. Andere meinen wieder, wir sind weitgehend von unsern Trieben bestimmt und es bleibt kaum ein Freiraum für die Freiheit. Eine gewisse Lobby, ich nenne ein Beispiel, das zur Zeit viel diskutiert wird, eine gewisse Lobby für die Homosexualität will zum Beispiel sagen und behauptet, dass die Homosexualität genetisch programmiert ist. So ist man eben, da gibt es keine Wahl, das ist vorprogrammiert. Das ist keine Wahl, sondern Bestimmung. Selbst wenn es so wäre, was unter den Gelehrten sehr umstritten ist, ob diese Neigung mehr durch Prägung geschieht oder durch genetische Vorbestimmungen, aber selbst wenn es so wäre, bleibt dann immer noch die Frage: Wie mit dieser Prägung umgehen? Es bleibt immer noch die Frage: Gibt es die Freiheit zu gestalten, das was mir mitgegeben ist auf den Weg eben zu gestalten? Das gilt natürlich nicht nur für die Frage der Homosexualität, das gilt für alle Bereiche des Lebens. Haben wir Freiheit, das zu gestalten, was uns mitgegeben ist? Oder sind wir ganz vorprogrammiert durch Genetik, durch Triebe, durch Veranlagungen, durch Umwelt oder eben die Gestirne?

Ein österreichisches Wochenmagazin hat vor kurzem seine Leser glauben machen wollen, dass das Denken ein Produkt des Gehirns ist. Amerikanische Wissenschaftler wurden hier zitiert und ausgebreitet. Also auch Geist, Freiheit sind Produkte des Gehirns. Die Gegenfrage, die dann sofort gestellt werden kann: Ist also dieser Artikel in der Wochenzeitschrift auch nur das Produkt der chemischen Vorgäng im Gehirn oder hat sich das jemand ausgedacht? Der große jüdische Philosoph Hans Jonas, der ein großer Vorkämpfer für die Freiheit und die Verantwortung des Menschen war, hat einmal folgende Geschichte erzählt: Im 19. Jahrhundert haben drei später berühmte Naturwissenschaftler, Brück, du Bois-Reymond und Helmholtz, sich zusammengetan und haben einen Schwur geleistet. Sie haben geschworen, sie werden ihr ganzes Leben lang nur eine ganz streng materialistische Erklärung des Menschen zulassen. Alles ist Materie, Geist gibt es nicht. Nun hat Hans Jonas zurecht die Frage gestellt: Dieser Schwur, den die drei geschworen haben, das war doch ein geistiger Akt. Sie haben versprochen, dass sie diesem Versprechen ein Leben lang treu bleiben wollen. Also müssen sie doch frei sein, also kann das doch nicht einfach nur das Produkt der Materie sein. Auch darauf werden wir noch zurück kommen.

Alle die großartigen Entdeckungen und Leistungen der Wissenschaft, alles das soll nur Produkt einer vorprogrammierten Genetik oder das Produkt von materiellen Vorgängen gewesen sein? Aber wie steht es dann mit der Verantwortung der Wissenschaftler? Ist auch die Verantwortung einfach etwas Vorprogrammiertes? Dass man das Atom entdeckt hat und dann die Atomspaltung und dann die Möglichkeit, die Atomspaltung zur Atombombe zu gestalten? Oder die Entdeckung von bakteriellen Waffen? Die Möglichkeit also, großartige Entdeckungen zu gebrauchen oder zu missbrauchen, ist das alles einfach Ausscheidung unseres Gehirns? Oder ist es vom menschlichen Geist gelenkt und damit auch zu verantworten? Also ist es die Frage, ob es überhaupt Verantwortung gibt. So haben wir eigenartiger Weise in der Neuzeit, das beginnt schon recht früh, die Neigung, die Tendenz, die menschliche Freiheit weitgehend zu leugnen, im Grunde eine neue Form des alten, bei den Heiden zu findenden, Fatalismus. Alles ist nicht mehr von den Göttern gesteuert, sondern von den Genen. Der Mensch ist eine programmierte Maschine, deren Programm zwar sehr kompliziert ist, aber inzwischen weitgehend entschlüsselt. Auch hier muss natürlich noch einmal die Frage gestellt werden: Hat das Gehirn alleine den genetischen Code entschlüsselt, oder war das eben doch menschliche Forscherleidenschaft mit all der Verantwortung, die damit verbunden ist?

2. So haben wir auf der einen Seite die Neigung, die Freiheit des Menschen stark zu begrenzen, ja zu unterschätzen, aber auf der andern Seite gibt es auch die Neigung in der Neuzeit, die Freiheit völlig zu überschätzen. Im Denken der Neuzeit besteht immer wieder die Versuchung, die Freiheit als etwas völlig Ungebundenes zu verstehen. Freiheit heißt: Ich bin, der ich selber sein will. Ich mache mich selbst. Ich bestimme mich selbst. Ich bin an keinerlei Voraussetzungen gebunden. Ich setze mir meine Voraussetzungen selber. Ich bin gewissermaßen mein eigener Schöpfer. Ich glaube, dieses Verständnis von Freiheit als ungebundener Selbstverwirklichung, dieses Verständnis ist bis in unseren Alltag hinein sehr verbreitet. Ungebunden sein ist der Inbegriff von Freiheit, auf die Malediven fahren können wann man Lust hat, tun zu können was man möchte, das ist Freiheit, ohne Vorgaben, ohne Begrenzungen durch Gesetze, durch Traditionen, durch Bindungen. Wenn man in der Geschichte des Abendlandes zurückschaut, woher diese Auffassung von Freiheit kommt, kann man bis ins Spätmittelalter zurück gehen, in den sogenannten Nominalismus, der gerade hier in Wien an der Universität im Spätmittelalter sehr vorgeherrscht hat, die Vorstellung, dass Freiheit Ungebundenheit heißt, eine Ungebundenheit, die dann, eben weil sie auch gefährlich sein kann, eingegrenzt werden muss durch Gesetze, Bestimmungen, an die man sich notgedrungen hält, an viel "du musst" und "du darfst nicht", aber das wird eher empfunden als eine Eingrenzung dessen, was eigentlich die Freiheit wäre.

III.

Was ich so ganz kurz skizziert habe, diese beiden Sichten der Freiheit, ihre Unterschätzung, der Mensch ist im Grunde vorprogrammiert, oder ihre Überschätzung, der Mensch kann sich im Grunde selber machen, beide haben natürlich in unserer Erfahrung Ansatzpunkte. Oft erleben wir uns als furchtbar unfrei, manchmal sind wir geneigt zu glauben, die Freiheit ist sozuagen ein "Hurra, frei von allen Bindungen". Aber wenn wir jetzt versuchen in die Offenbarung hinein zu schauen: Was sagt uns eigentlich Gott über die Freiheit? Welches Licht schenkt uns die Heilige Schrift?, dann werden wir ein ganz anderes Bild der Freiheit sehen.

1. Das erste, was uns die Heilige Schrift über die Freiheit sagt, ist sehr überraschend, aber für den Gläubigen selbstverständlich. Es ist ein wunderbares Licht, dass uns da der Glaube schenkt. Freiheit ist ein Geschenk. Freiheit ist von Gott geschaffen. Aber das heißt ja: Gott will, dass ich frei bin. Er hat mich so gemacht. Er hat uns so geschaffen, dass wir frei sind. Das ist etwas unglaublich Geheimnisvolles, wenn man beginnt darüber nachzudenken. Ich habe mich nicht selber gemacht, wir sind alle Geschöpfe. Gott hat uns alles geschenkt, unser Sein, unser Leben und auch unsere Freiheit. Das ist jetzt das Geheimnisvolle. Ich bin frei, aber diese Freiheit macht mich abhängig. Gott hat sie mir geschenkt, ich habe sie mir nicht selber gegeben. Geschöpf sein heißt abhängig sein. Vielleicht ist das das, was heute und in der Neuzeit so schwer fällt anzunehmen, abhängig sein. Wir empfinden Abhängigkeit als das Gegenteil von Freiheit. Aber wenn wir in die Bibel schauen, in das Wort Gottes, dann sehen wir, frei sind wir gerade, wenn wir als Geschöpfe Gott gegenüber abhängig sind. Unsere Freiheit ist keine ungebundene, sondern eine aufgetragene Freiheit, sie ist mir anvertraut als ein Gut. Sie ist mir zur Gestaltung und zur Verwaltung anvertraut.

2. Daraus folgt ein zweites, etwas ganz Wichtiges und auf den ersten Blick völlig Unverständliches. Ich möchte es einmal kurz und plakativ so formulieren: Je mehr wir uns binden, desto freier sind wir. Ich nenne ein Beispiel. Mutter Theresa hat Leben ganz an den Auftrag Gottes gebunden, so restlos, dass die fünfzig Jahre ihres Wirkens als Ordensgründerin und als Mutter der Armen eine völlige Verfügbarkeit für Gott und für die Armen war, nur für Christus in den Armen zu leben. Aufs erste gesehen sieht das aus, als hätte diese arme Mutter Theresa überhaupt keinen Freiraum gehabt in ihrem Leben. Und doch haben zahllose Menschen, die sie erlebt haben, sie als einen wunderbar freien Menschen erlebt. Wie erklärt sich das?

Jetzt kommen einige Katechismus-Zitate. In der Nummer 1743 steht: "Gott hat den Menschen ‚der Macht der eigenen Entscheidung überlassen‘ (Sir 15,14)." Das steht im Alten Testament dieses Wort. "Gott hat den Menschen in die Hand seiner eigenen Entscheidung gelegt", heißt es wörtlich, "damit er seinem Schöpfer in Freiheit anhangen und so zur seligen Vollendung gelangen kann" (KKK 1743). Damit er "seinem Schöpfer in Freiheit anhangen" kann, in Freiheit anhangen – aufs erste gesehen ein Widerspruch: Gott in Freiheit anhangen, das ist Freiheit. Aber ist Freiheit nicht, dass ich tun kann, was ich will, endlich einmal nicht etwas tun müssen, einen freien Tag haben, frei entscheiden dürfen wohin ich fahre, was ich mache, was ich lese, ob ich ins Kino gehe oder spazieren gehe, endlich frei sein dürfen? Dem Willen Gottes anhangen, ist das nicht schon wieder etwas müssen, also wieder unfrei sein? Wenn ich den Willen eines andern tun muss, bin ich dann nicht unfrei?

Vorsicht, hier ist eine ganz wichtige Weggabelung. Selbst wenn ich niemandem anhangen müsste, gehorchen müsste, ich weiß nicht, ob es das jemals gibt, dass man völlig unabhängig wäre, keinen Ehepartner, keine Kinder, keine Bekannten, keine Freunde, einfach völlig frei, selbst wenn ich völlig ungebunden wäre, wäre ich dennoch nicht ein Freiherr oder eine Freidame, ich wäre nicht mein eigener Chef, denn ich bin an meine eigene Natur gebunden, da komme ich nicht aus. Einmal muss ich schlafen gehen, einmal muss ich essen, und was viel schwieriger ist, ich muss mich akzeptieren. Ich kann nicht sagen, ich nehme Urlaub von mir. Endlich einmal frei sein von mir! Ich muss mit mir leben, ein ganzes Leben lang, ich muss mich akzeptieren, dass mir die Haare ausfallen, dass ich in Böhmen und nicht in Hawaii geboren bin, dass ich 1945 und nicht 1845 geboren bin, als Mann und nicht als Frau, dass ich ich bin und nicht Sie, und dass Sie Sie sind und nicht Ihr Nachbar. Ich bin nicht frei, ich zu sein, ich muss das akzeptieren. Frei bin ich nur, ja zu sagen zu mir, und das ist oft schwer genug; ja zu dem Leben, das mir aufgetragen ist; ja zu dem Charakter, den ich mitbekommen habe; ja auch zu dem, was ich geworden bin und was ich nicht einfach ändern kann. Ich bin nicht frei, einfach aus mir einen andern zu machen. Und doch glauben wir, das sagt uns der Glauben: Christus hat uns zur Freiheit befreit (Gal 5,1).

Also was ist die Freiheit? Ist sie die Einsicht in die Notwendigkeit? So hat Hegel, der Philosoph gesagt: Freiheit, das ist "Einsicht in die Notwendigkeit", das heißt Einsicht in das, was ich annehmen muss, weil es nicht anders geht, dass ich geduldig oder zornig, resigniert oder wütend annehmen muss, dass ich abhängig bin von Gott, von anderen und von mir selber. Ich kann das heldenhaft ertragen, dass ich eigentlich unfrei bin. Nein, die großen Vorbilder, das sind für uns die Heiligen, zeigen uns etwas ganz anderes. Sie zeigen uns eine Spur einer ungeahnten Größe der Freiheit, zu der uns Christus befreit hat. Ich zitiere noch einmal den Katechismus. In der Nummer 1744 lesen wir: "Die Freiheit ist die Macht, zu handeln oder nicht zu handeln, und so selbständig willentliche Handlungen zu setzen." Ich glaube, diese Definition ist einsichtig. Jemand ist frei, zu handeln oder nicht zu handeln, selbständig, willentlich Handlungen zu setzen. Dann sagt der Katechismus: "Die Ausübung der Freiheit ist vollkommen, wenn sie auf Gott, das höchste Gut, ausgerichtet ist." Je größer die Hingabe an Gott und seinen Willen, desto größer die Freiheit. Das ist der Kern der biblischen Botschaft. Wenn wir auf Jesus blicken, dann sehen wir, Jesus war völlig ausgerichtet auf den Vater, auf seinen Willen. "Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat" (Joh 4,34), sagt Jesus ganz dem Willen des Vaters gehorsam und so souverän frei. Das ist das Rätsel, dem ich Sie einlade nachzuspüren: Wieso ist Jesus so souverän frei, obwohl er ganz abhängig ist vom Vater? Wir müssen eben sagen, nicht obwohl, sondern weil, weil er ganz abhängig ist vom Vater, ist er so souverän frei. Ich glaube, da kommen wir zur tiefsten Schwierigkeit in unserm Herzen bei der Frage der Freiheit, es ist der Verdacht, wenn ich Gott gehorche, dann werde ich unfrei. Es ist der Verdacht, dass Gott mir nicht wirklich die Freiheit gönnt. Dieser Verdacht sitzt in uns seit dem Sündenfall.

Aber die Erfahrung der Heiligen sagt uns etwas anderes. Frei werden wir, wenn wir Gott und seinem Willen vertrauen und uns ganz von ihm führen lassen. Schauen Sie einmal Don Bosco an, der fröhliche Heilige mit seiner herrlichen Phantasie für die Jugend. Kann man sich einen spontaneren, fröhlicheren, freieren Menschen als Don Bosco vorstellen? Aber woher hatte er diese Freiheit? Eben aus dieser völligen Ausrichtung auf den Willen des Vaters, weil Gott uns ja an seiner Freiheit Anteil schenkt. Und seine Freiheit ist unendlich schöpferisch, erfinderisch. Denken Sie an Franz von Assisi, wie seine Freiheit aus dem Gehorsam dem Vater gegenüber, aus seiner Liebe zu Christus gekommen ist.

IV.

Nun gilt es aber, eine dritte und letzte Beobachtung zu machen. Wir haben also die Möglichkeit zu wählen. "Freiheit", so hat es im Katechismus geheißen, "ist die Macht zu handeln oder nicht zu handeln, und selbständig willentliche Handlungen zu setzen." Die Möglichkeit heißt auch Möglichkeit zum Guten oder zum Bösen. Wenn ich in der Früh am Montag ins Büro komme oder zur Arbeit, habe ich die Möglichkeit, freundlich zu sein oder grantig zu sein. Ich bin frei das zu tun. Natürlich mag es mir schwerer fallen, am Montag als am Dienstag freundlich zu sein. Aber niemand zwingt mich dazu, grantig zu sein. Ich kann mich ja auch selbst überwinden. Sicher ist es besser, wenn ich freundlich bin, für meine Mitarbeiter und für mich selber, auf jeden Fall sehr viel angenehmer. Nun ist aber die Wahl nicht einfach die Entscheidung, wie beim Einkaufen, ob ich Meinl-Kaffee oder Jacobs-Kaffee nehme, ob ich mir einen blauen oder einen grünen Pullover kaufe. Die Wahl, ob ich grantig oder freundlich bin, ist andrer Art. Ich bin zwar frei zu wählen, ob ich grantig bin oder freundlich bin, aber bei Gut und Bös sind die beiden Möglichkeiten nicht einfach gleichwertig und sie sind für die Freiheit nicht gleich gültig.

Im Katechismus heißt es 1733: "Je mehr man das Gute tut, desto freier wird man. Wahre Freiheit gibt es nur im Dienst des Guten und der Gerechtigkeit. Die Entscheidung zum Ungehorsam und zum Bösen ist ein Missbrauch der Freiheit und macht zum Sklaven der Sünde." Hier wird ganz deutlich gesagt, dass die Freiheit in der Schwebe ist, wenn es sich um gleichwertige Dinge handelt, diese oder jene Marke einzukaufen. Aber die Freiheit ist nicht in der Schwebe zwischen Gut und Böse. Böse Entscheidungen liegen in meiner Freiheit, aber ich werde unfrei durch eine solche freie Entscheidung. Sie schädigen die anderen und mich selbst und sie beschädigen meine Freiheit. Anders gesagt nur in der Wahl des Guten bin ich auf dem Weg der Freiheit. In der Wahl des Bösen habe ich mich bereits freiwillig auf den Weg der Unfreiheit begeben.

Ich möchte das mit einer Testfrage erläutern: Sind wir im Himmel frei? Im Himmel sind wir glücklich, und ich hoffe, dass wir alle in den Himmel kommen. Ich bete darum und ich bitte auch, dass wir für einander beten und für alle Menschen, dass alle in den Himmel kommen. Bin ich im Himmel noch frei, Böses zu tun? Habe ich noch die Wahlfreiheit zwischen Gut und Bös? Im Himmel bin ich sozusagen fixiert im Guten, weil ich Gott schaue. Dann gibt es kein Wanken, kein Abweichen vom Guten. Ich schaue Gott. Wir werden "Gott schauen wie er ist" und "ihm ähnlich sein" auf ewig, heißt es bei Johannes (1 Joh 3,2). Werde ich deshalb unfrei sein? Bin ich unfrei, wenn ich für immer, in der Ewigkeit im Guten bin? Wir können uns ja nicht mehr gegen Gott entscheiden, wenn wir im Himmel sind. Was sagt der Katechismus dazu, 1732: "Solange die Freiheit nicht endgültig an Gott, ihr höchstes Gut, gebunden ist, liegt in ihr die Möglichkeit, zwischen Gut und Böse zu wählen, also entweder an Vollkommenheit zu wachsen oder zu versagen und zu sündigen." Die Wahlfreiheit ist noch nicht die endgültige Freiheit. Solange ich noch abrutschen kann in die Wahl des Bösen, bin ich noch nicht gesichert im Guten. Solange ich nicht endgültig in Gott vor Anker gegangen bin, ist meine Freiheit noch nicht vollkommen. Denn solange ich auch das Böse wählen kann, bin ich bedroht und diese Bedrohung sitzt in uns allen.

Aber wie ist denn das mit der menschlichen Treue? Ist menschliche Treue Unfreiheit? Wenn ein Ehepaar auf fünfzig Jahre der Ehe zurück blicken kann, goldene Hochzeit feiert, wie ist das für ein Ehepaar nach fünfzig Jahren der Treue? Sind sie unfrei, weil sie treu geblieben sind? Aber sie wollen ja treu bleiben. Es ist ja ihr Glück, dass sie treu bleiben konnten mit Gottes Hilfe und mit gegenseitiger Hilfe. Es ist ihr Glück, dass sie nicht die Untreue ins Auge gefasst haben, dass sie nicht in die Untreue geraten sind. Wenn man sie fragt nach fünfzig Jahren: Würdet ihr heute noch einmal ja sagen? Dann werden sie ohne zu zögern ja sagen und sagen, es ist mein Glück, mit dir fünfzig Jahre der treuen Ehe gelebt zu haben. Sind sie dadurch unfrei, dass sie fünfzig Jahre treu waren? Oder anders gefragt, sind die, die vielleicht durch momentanes Versagen den Weg der Untreue gegangen sind, dadurch freier geworden? Es stimmt schon, wir sind frei zur Sünde, aber die Sünde macht uns nicht frei, das war die Versprechung der Schlange, und sie hat uns belogen. Deshalb bedarf unsere Freiheit so sehr der Hilfe, damit sie sich verwirklichen kann in der Wahl des Guten und damit glücklich wird, denn unsere Freiheit ist ja so ungefestigt und gefährdet und ohne die Hilfe anderer, ohne die Hilfe Gottes sind wir hilflos den Gefährdungen unserer Freiheit ausgesetzt. Deshalb noch einmal der Katechismus, 1742: "Die Gnade Christi beeinträchtigt unsere Freiheit keineswegs, falls diese dem Sinn für das Wahre und Gute entspricht, den Gott in das Herz des Menschen gelegt hat. Die christliche Erfahrung bezeugt uns vor allem im Gebet das Gegenteil: Unsere innere Freiheit und unsere Standhaftigkeit in Prüfungen sowie gegenüber dem Druck und den Zwängen der äußeren Welt nehmen in dem Maß zu, in dem wir den Anregungen der Gnade folgen." Wir werden durch die Treue zu Gott stärker im Guten. Die Gnade Christi will uns bestärken in unserer Freiheit und uns bewahren vor den Gefährdungen unserer Freiheit. Deshalb glauben wir, dass wir den Weg der Freiheit wirklich nur gehen können, wenn Christus uns bei der Hand nimmt. Zur Freiheit hat uns Christus berufen. Er hat uns frei gemacht.

Mein früherer Vorgesetzter, jetzt Bischof von Graz, damals Studentenpfarrer in Graz und ich sein Kaplan, pflegte ein Gebet zu beten vom hl. Augustinus: "Herr, rette mich vor mir selbst!" Wir können auch, und damit schließen wir, das Gebet, das ich am Anfang gesprochen habe noch einmal beten: Allmächtiger und barmherziger Gott, halte von uns fern, was uns gefährdet und nimm weg, was uns an Leib und Seele bedrückt, damit wir mit freien Herzen deinen Willen tun. Darum bitten wir dich durch Christus unsern Herrn. Amen.

 

 

(Kardinal Christoph Schönborn)



 

 
  









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