Die heutige Katechese, die zweite in der
Reihe der Katechesen zu den Fragen der christlichen Sittlichkeit, der
christlichen Moral, geht über die Frage der Freiheit. Ich erinnere
mich an ein Gespräch in Rom mit Vietnamesen, die mir ihre Geschichte
erzählt haben, die Geschichte ihrer Flucht aus dem kommunistischen
Vietnam, "Boat-People", Leute also, die unter allergrößten Gefahren
sich in einem Boot aufs Meer hinaus gewagt haben in der Hoffnung,
irgendwo hinaus zu finden aus diesem großen Gefängnis, diesem
kommunistischen Land. In diesem Bericht ist mir so bewusst geworden,
wie unbändig, wie ungeheuer stark der Drang zur Freiheit ist, dass man
solche Mühen auf sich nimmt, Wochen, Monate lang heimlich ein Boot
baut, dann unter größten Gefahren dieses Boot bestückt, ausrüstet und
schließlich losfährt, immer in der Gefahr, von der Küstenwache
erwischt zu werden, mit den Gefahren der Seeräuber, die es genügend
gab und wohl immer noch gibt für die Flüchtlingsboote, schließlich die
Ungewissheit, ob man jemals durch Sturm und Gefahren hindurch in die
Freiheit kommt, und doch der unbändige Drang zur Freiheit, was für ein
kostbares Gut ist die Freiheit!
Wie oft haben wir jetzt, in den letzten
Tagen, das Bild der Freiheitsstatue in New York gesehen, mit all der
Dramatik, die die Stadt New York in den letzten Tagen erlebt hat und
für die ganze Welt auch signalisiert, bezeichnet, aber vergessen wir
nicht: Für wie viele Menschen war dieser erste Blick auf die
Freiheitsstatue, wenn die Schiffe in den Hafen von New York einliefen,
eben wirklich die Hoffnung, ja vielleicht sogar die Verwirklichung
eines Traumes: endlich in der Freiheit!
Was für ein kostbares Gut ist die
Freiheit! Aber was ist die Freiheit? Das ist die Frage, um die es
heute Abend gehen soll. Wir wollen betrachten, was eigentlich Freiheit
ausmacht, wenn Freiheit die Voraussetzung für Sittlichkeit ist. Wofür
ich mich nicht frei entscheiden kann, dafür bin ich auch nicht
verantwortlich, das kann mir nicht angerechnet werden. Wenn der Hund
jemanden beißt, dann kommt der Hund nicht vor den Kadi, aber das Herrl
oder das Frauerl kommt vor den Kadi, wenn sie zum Beispiel es
verabsäumt haben, dem Hunderl einen Maulkorb umzuhängen oder darauf zu
achten, dass das Hunderl eben nicht beißt. Das Hunderl ist nicht
zurechnungsfähig, es handelt instinktiv und deshalb ist sein Handeln
weder gut noch böse, auch wenn wir sagen, manche Hunde sind besonders
böse, andere Hunde sind lieb, und man sagt sogar, dass Tiere einen
guten oder einen schlechten Charakter haben. Auf jeden Fall wird man
einen bösen Hund einsperren, aber man wird ihn nicht einer
Freiheitsstrafe unterziehen, man wird ihn nicht ins Gefängnis stecken.
Es gibt unendliche Diskussionen in der Philosophie, in der langen
Philosophiegeschichte über die Freiheit. Gibt es sie? Gibt es sie
nicht? Wo sind ihre Grenzen? Wo sind ihre Bedingungen? Aber wenn wir
in den menschlichen Alltag schauen, da wird die Freiheit ständig
vorausgesetzt ohne viel nachzudenken. Wir erleben es ständig, dass wir
auch zur Rechenschaft gezogen werden für das, was wir tun oder lassen.
Wir erwarten ohne viel nachzudenken, dass die Menschen um uns herum,
und die andern erwarten es von uns, dass wir uns verantwortlich
benehmen.
Oft bewegt mich der Gedanke, wenn man so
auf einer Autobahn fährt mit 130, hoffentlich nicht schneller, mit der
Geschwindigkeit, die maximal erlaubt ist: Wieso setzen wir eigentlich
voraus, dass alle anderen sich ganz verantwortungsbewusst benehmen? Da
fährt man mit 130 an einem schweren Lastwagen vorbei, und dieser
Lastwagen fährt brav auf seiner Spur, der Fahrer benimmt sich
verantwortungsbewusst. Wenn das nicht geschieht, geschieht eine
Katastrophe. Und täglich hören wir von solchen Katastrophen, dann
heißt es "menschliches Versagen", "überhöhte Geschwindigkeit",
"Alkohol am Steuer" oder einfach "Unaufmerksamkeit". Je nach dem wird
es dann bei den Gerichtsverhandlungen, bei den mühsamen Verhandlungen
über die Frage von Schuld und Zurechnung, darum gehen zu ermessen, wie
viel Schuld der hat, der den Unfall verursacht hat. Aber
selbstverständlich rechnen wir in unserm Alltag damit, dass Menschen
sich verantwortungsbewusst benehmen. Wenn es sich um einen
unverschuldeten Defekt handelt, dann wird sicher nicht Schuld
zugerechnet, außer man kann ausfindig machen, dass jemand in der
Werkstatt zum Beispiel seine Pflicht nicht getan hat und dadurch, für
den Fahrer unverschuldet aber für den Mechaniker schuldhaft, ein
Unfall geschehen ist. Auf jeden Fall kennen wir diese Verantwortung
und das größere oder geringere Maß an Schuld. Wenn jemand absichtlich,
leichtfertig einen anderen gefährdet, rechnen wir ihm das höher an,
als wenn er unabsichtlich jemand anderen in Gefahr bringt oder gar
einen Unfall verursacht. Rücksichtsloses Fahren zum Beispiel wird
schärfer geahndet, als wenn jemand einen Sekundenschlaf hatte und
dadurch ein Unfall geschehen ist. Auch dann wird er schuldig sein,
weil er vielleicht nicht die nötigen Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hat,
die notwendig gewesen wären, damit das eben nicht passiert. Wenn einer
plötzlich beim Autofahren, wie das einem lieben Freund von mir vor
einigen Monaten geschehen ist, einen Gehirnschlag hat und durch diesen
Gehirnschlag ein tödlicher Unfall passiert, dann ist weder er noch
jemand anderer Schuld an diesem Unfall, dann ist das höhere Gewalt.
Wir sind zurecht empört, wenn Kinder
sexuell missbraucht werden. Wir wissen, welch tiefe, oft lebenslange
seelische Verletzungen hier entstehen können, schreckliche und tiefe,
ein ganzes Leben belastende. Nicht umsonst hat Jesus so streng gerade
die ins Gewissen genommen, ihnen ins Gewissen geredet, die den Kleinen
ein Ärgernis geben. Besser wäre es, es würde ihnen "ein Mühlstein um
den Hals gehängt" und sie würden "ins Meer versenkt", sagt Jesus in
diesem schrecklichen Wort (Mt 18,6). Nun mag ein pädophil versuchter
Mann sagen, er könne seinem Trieb einfach nicht widerstehen, er könne
ihn nicht beherrschen, es sei stärker als er, er sei eben nicht frei
in solchen Momenten. Niemand von uns wird den Stab über jemand
brechen, der solchen Schwächen erliegt, denn wir wissen alle, wie
schwach der Mensch ist. Und doch wird vor Gericht gesagt werden, er
hätte die Gefahr meiden müssen, er hätte sich therapeutisch behandeln
lassen müssen, er hätte etwas tun müssen, er hätte die Pflicht dazu
gehabt, sich seinen Trieben nicht einfach ausgeliefert sein zu lassen.
Kurz gesagt, er ist verantwortlich für das, was er tut, und auch für
die Bedingungen, für die Rahmenbedingungen seines Tuns, und das
natürlich umso mehr, je mehr so jemand in einer verantwortlichen
Position ist als Erzieher, als Lehrer, als Priester.
Ich lasse heute ganz bewusst die Frage der
Sünde beiseite, wir werden später darauf zurückkommen, also die Frage
der Schuld vor Gott. Heute geht es um die Frage der Freiheit. Was
bedeutet es, dass wir Verantwortung tragen, ständig, täglich, dass wir
mit Verantwortung leben und dass wir dort, wo wir unsere Verantwortung
nicht wahrnehmen, auch zur Rechenschaft gezogen werden? All das setzt
ja voraus, dass wir frei sind. Auch wenn die Philosophie noch so sehr
darüber nachdenkt, was jetzt wirklich die Freiheit ist, im Alltag wird
es ständig vorausgesetzt. Es gibt die Freiheit und wir sind
verantwortlich, weil wir Menschen sind und nicht Tiere. Aber empfinden
wir unsere Verantwortungen und die damit verbundenen Verpflichtungen
nicht oft als eine solche Last, eine solche Bürde, dass wir uns eher
unfrei fühlen? Fesseln, mit denen wir leben müssen, mehr genötigt als
freiwillig?
Bevor wir weiter fragen, was es eigentlich
mit der Freiheit auf sich hat, ist es hilfreich daran zu erinnern,
dass wir über diese ganz selbstverständlichen Dinge des Alltags viel
mehr staunen sollten, dass sie eben gar nicht so selbstverständlich
sind. Sie helfen uns, diese so schwierige Frage der Freiheit mit dem
nötigen Staunen anzugehen, mit dem Staunen davor, dass es das wirklich
gibt, gleichzeitig, dass wir die "Bodenhaftung" bewahren und sehr
praktisch bei dieser so schwierigen Frage der Freiheit bleiben. Wenn
ich versuche ein wenig die heutige Stimmungslage der Freiheit
gegenüber zu betrachten, zu analysieren, dann habe ich einen
eigenartig zwiespältigen, fast widersprüchlichen Eindruck. Da gibt es
auf der einen Seite eine Unterschätzung der Freiheit und auf der
andern Seite eine gewaltige Überschätzung der Freiheit.
1. In vieler Hinsicht wird heute die
Freiheit unterschätzt. Wir sind von allem Möglichen geprägt und
bestimmt und bedingt. Manche schauen in der Früh in der Zeitung als
erste ins Horoskop und wollen wissen, was die Sterne sagen über die
Liebe und das Glück und glauben, dass wir also ganz bestimmt sind von
den Gestirnen. Der hl. Thomas ist in dieser Hinsicht ganz klar, er
sagt: Es gibt Einfluss der Gestirne auf unser Leben, so wie die Natur
auf uns Einfluss ausübt. Aber das ist ein sehr allgemeiner Einfluss,
der unsere Freiheit nicht einschränkt. Wir kommen auf diese Frage noch
zurück. Manche meinen, der Mensch sei genetisch so programmiert, dass
alles bereits vorgezeichnet ist im genetischen Code, den man von der
Empfängnis an mitbekommet durch die Verschmelzung von Ei und
Samenzelle, genetisch programmiert, also unfrei. Oder andere meinen,
dass wir ganz und gar von der Umwelt geprägt sind, die Umwelt bestimmt
uns, sie macht uns abhängig. Andere meinen wieder, wir sind weitgehend
von unsern Trieben bestimmt und es bleibt kaum ein Freiraum für die
Freiheit. Eine gewisse Lobby, ich nenne ein Beispiel, das zur Zeit
viel diskutiert wird, eine gewisse Lobby für die Homosexualität will
zum Beispiel sagen und behauptet, dass die Homosexualität genetisch
programmiert ist. So ist man eben, da gibt es keine Wahl, das ist
vorprogrammiert. Das ist keine Wahl, sondern Bestimmung. Selbst wenn
es so wäre, was unter den Gelehrten sehr umstritten ist, ob diese
Neigung mehr durch Prägung geschieht oder durch genetische
Vorbestimmungen, aber selbst wenn es so wäre, bleibt dann immer noch
die Frage: Wie mit dieser Prägung umgehen? Es bleibt immer noch die
Frage: Gibt es die Freiheit zu gestalten, das was mir mitgegeben ist
auf den Weg eben zu gestalten? Das gilt natürlich nicht nur für die
Frage der Homosexualität, das gilt für alle Bereiche des Lebens. Haben
wir Freiheit, das zu gestalten, was uns mitgegeben ist? Oder sind wir
ganz vorprogrammiert durch Genetik, durch Triebe, durch Veranlagungen,
durch Umwelt oder eben die Gestirne?
Ein österreichisches Wochenmagazin hat vor
kurzem seine Leser glauben machen wollen, dass das Denken ein Produkt
des Gehirns ist. Amerikanische Wissenschaftler wurden hier zitiert und
ausgebreitet. Also auch Geist, Freiheit sind Produkte des Gehirns. Die
Gegenfrage, die dann sofort gestellt werden kann: Ist also dieser
Artikel in der Wochenzeitschrift auch nur das Produkt der chemischen
Vorgäng im Gehirn oder hat sich das jemand ausgedacht? Der große
jüdische Philosoph Hans Jonas, der ein großer Vorkämpfer für die
Freiheit und die Verantwortung des Menschen war, hat einmal folgende
Geschichte erzählt: Im 19. Jahrhundert haben drei später berühmte
Naturwissenschaftler, Brück, du Bois-Reymond und Helmholtz, sich
zusammengetan und haben einen Schwur geleistet. Sie haben geschworen,
sie werden ihr ganzes Leben lang nur eine ganz streng materialistische
Erklärung des Menschen zulassen. Alles ist Materie, Geist gibt es
nicht. Nun hat Hans Jonas zurecht die Frage gestellt: Dieser Schwur,
den die drei geschworen haben, das war doch ein geistiger Akt. Sie
haben versprochen, dass sie diesem Versprechen ein Leben lang treu
bleiben wollen. Also müssen sie doch frei sein, also kann das doch
nicht einfach nur das Produkt der Materie sein. Auch darauf werden wir
noch zurück kommen.
Alle die großartigen Entdeckungen und
Leistungen der Wissenschaft, alles das soll nur Produkt einer
vorprogrammierten Genetik oder das Produkt von materiellen Vorgängen
gewesen sein? Aber wie steht es dann mit der Verantwortung der
Wissenschaftler? Ist auch die Verantwortung einfach etwas
Vorprogrammiertes? Dass man das Atom entdeckt hat und dann die
Atomspaltung und dann die Möglichkeit, die Atomspaltung zur Atombombe
zu gestalten? Oder die Entdeckung von bakteriellen Waffen? Die
Möglichkeit also, großartige Entdeckungen zu gebrauchen oder zu
missbrauchen, ist das alles einfach Ausscheidung unseres Gehirns? Oder
ist es vom menschlichen Geist gelenkt und damit auch zu verantworten?
Also ist es die Frage, ob es überhaupt Verantwortung gibt. So haben
wir eigenartiger Weise in der Neuzeit, das beginnt schon recht früh,
die Neigung, die Tendenz, die menschliche Freiheit weitgehend zu
leugnen, im Grunde eine neue Form des alten, bei den Heiden zu
findenden, Fatalismus. Alles ist nicht mehr von den Göttern gesteuert,
sondern von den Genen. Der Mensch ist eine programmierte Maschine,
deren Programm zwar sehr kompliziert ist, aber inzwischen weitgehend
entschlüsselt. Auch hier muss natürlich noch einmal die Frage gestellt
werden: Hat das Gehirn alleine den genetischen Code entschlüsselt,
oder war das eben doch menschliche Forscherleidenschaft mit all der
Verantwortung, die damit verbunden ist?
2. So haben wir auf der einen Seite die
Neigung, die Freiheit des Menschen stark zu begrenzen, ja zu
unterschätzen, aber auf der andern Seite gibt es auch die Neigung in
der Neuzeit, die Freiheit völlig zu überschätzen. Im Denken der
Neuzeit besteht immer wieder die Versuchung, die Freiheit als etwas
völlig Ungebundenes zu verstehen. Freiheit heißt: Ich bin, der ich
selber sein will. Ich mache mich selbst. Ich bestimme mich selbst. Ich
bin an keinerlei Voraussetzungen gebunden. Ich setze mir meine
Voraussetzungen selber. Ich bin gewissermaßen mein eigener Schöpfer.
Ich glaube, dieses Verständnis von Freiheit als ungebundener
Selbstverwirklichung, dieses Verständnis ist bis in unseren Alltag
hinein sehr verbreitet. Ungebunden sein ist der Inbegriff von
Freiheit, auf die Malediven fahren können wann man Lust hat, tun zu
können was man möchte, das ist Freiheit, ohne Vorgaben, ohne
Begrenzungen durch Gesetze, durch Traditionen, durch Bindungen. Wenn
man in der Geschichte des Abendlandes zurückschaut, woher diese
Auffassung von Freiheit kommt, kann man bis ins Spätmittelalter zurück
gehen, in den sogenannten Nominalismus, der gerade hier in Wien an der
Universität im Spätmittelalter sehr vorgeherrscht hat, die
Vorstellung, dass Freiheit Ungebundenheit heißt, eine Ungebundenheit,
die dann, eben weil sie auch gefährlich sein kann, eingegrenzt werden
muss durch Gesetze, Bestimmungen, an die man sich notgedrungen hält,
an viel "du musst" und "du darfst nicht", aber das wird eher empfunden
als eine Eingrenzung dessen, was eigentlich die Freiheit wäre.
Was ich so ganz kurz skizziert habe, diese
beiden Sichten der Freiheit, ihre Unterschätzung, der Mensch ist im
Grunde vorprogrammiert, oder ihre Überschätzung, der Mensch kann sich
im Grunde selber machen, beide haben natürlich in unserer Erfahrung
Ansatzpunkte. Oft erleben wir uns als furchtbar unfrei, manchmal sind
wir geneigt zu glauben, die Freiheit ist sozuagen ein "Hurra, frei von
allen Bindungen". Aber wenn wir jetzt versuchen in die Offenbarung
hinein zu schauen: Was sagt uns eigentlich Gott über die Freiheit?
Welches Licht schenkt uns die Heilige Schrift?, dann werden wir ein
ganz anderes Bild der Freiheit sehen.
1. Das erste, was uns die Heilige Schrift
über die Freiheit sagt, ist sehr überraschend, aber für den Gläubigen
selbstverständlich. Es ist ein wunderbares Licht, dass uns da der
Glaube schenkt. Freiheit ist ein Geschenk. Freiheit ist von Gott
geschaffen. Aber das heißt ja: Gott will, dass ich frei bin. Er hat
mich so gemacht. Er hat uns so geschaffen, dass wir frei sind. Das ist
etwas unglaublich Geheimnisvolles, wenn man beginnt darüber
nachzudenken. Ich habe mich nicht selber gemacht, wir sind alle
Geschöpfe. Gott hat uns alles geschenkt, unser Sein, unser Leben und
auch unsere Freiheit. Das ist jetzt das Geheimnisvolle. Ich bin frei,
aber diese Freiheit macht mich abhängig. Gott hat sie mir geschenkt,
ich habe sie mir nicht selber gegeben. Geschöpf sein heißt abhängig
sein. Vielleicht ist das das, was heute und in der Neuzeit so schwer
fällt anzunehmen, abhängig sein. Wir empfinden Abhängigkeit als das
Gegenteil von Freiheit. Aber wenn wir in die Bibel schauen, in das
Wort Gottes, dann sehen wir, frei sind wir gerade, wenn wir als
Geschöpfe Gott gegenüber abhängig sind. Unsere Freiheit ist keine
ungebundene, sondern eine aufgetragene Freiheit, sie ist mir
anvertraut als ein Gut. Sie ist mir zur Gestaltung und zur Verwaltung
anvertraut.
2. Daraus folgt ein zweites, etwas ganz
Wichtiges und auf den ersten Blick völlig Unverständliches. Ich möchte
es einmal kurz und plakativ so formulieren: Je mehr wir uns binden,
desto freier sind wir. Ich nenne ein Beispiel. Mutter Theresa hat
Leben ganz an den Auftrag Gottes gebunden, so restlos, dass die
fünfzig Jahre ihres Wirkens als Ordensgründerin und als Mutter der
Armen eine völlige Verfügbarkeit für Gott und für die Armen war, nur
für Christus in den Armen zu leben. Aufs erste gesehen sieht das aus,
als hätte diese arme Mutter Theresa überhaupt keinen Freiraum gehabt
in ihrem Leben. Und doch haben zahllose Menschen, die sie erlebt
haben, sie als einen wunderbar freien Menschen erlebt. Wie erklärt
sich das?
Jetzt kommen einige Katechismus-Zitate. In
der Nummer 1743 steht: "Gott hat den Menschen ‚der Macht der eigenen
Entscheidung überlassen‘ (Sir 15,14)." Das steht im Alten Testament
dieses Wort. "Gott hat den Menschen in die Hand seiner eigenen
Entscheidung gelegt", heißt es wörtlich, "damit er seinem Schöpfer in
Freiheit anhangen und so zur seligen Vollendung gelangen kann" (KKK
1743). Damit er "seinem Schöpfer in Freiheit anhangen" kann, in
Freiheit anhangen – aufs erste gesehen ein Widerspruch: Gott in
Freiheit anhangen, das ist Freiheit. Aber ist Freiheit nicht, dass ich
tun kann, was ich will, endlich einmal nicht etwas tun müssen, einen
freien Tag haben, frei entscheiden dürfen wohin ich fahre, was ich
mache, was ich lese, ob ich ins Kino gehe oder spazieren gehe, endlich
frei sein dürfen? Dem Willen Gottes anhangen, ist das nicht schon
wieder etwas müssen, also wieder unfrei sein? Wenn ich den Willen
eines andern tun muss, bin ich dann nicht unfrei?
Vorsicht, hier ist eine ganz wichtige
Weggabelung. Selbst wenn ich niemandem anhangen müsste, gehorchen
müsste, ich weiß nicht, ob es das jemals gibt, dass man völlig
unabhängig wäre, keinen Ehepartner, keine Kinder, keine Bekannten,
keine Freunde, einfach völlig frei, selbst wenn ich völlig ungebunden
wäre, wäre ich dennoch nicht ein Freiherr oder eine Freidame, ich wäre
nicht mein eigener Chef, denn ich bin an meine eigene Natur gebunden,
da komme ich nicht aus. Einmal muss ich schlafen gehen, einmal muss
ich essen, und was viel schwieriger ist, ich muss mich akzeptieren.
Ich kann nicht sagen, ich nehme Urlaub von mir. Endlich einmal frei
sein von mir! Ich muss mit mir leben, ein ganzes Leben lang, ich muss
mich akzeptieren, dass mir die Haare ausfallen, dass ich in Böhmen und
nicht in Hawaii geboren bin, dass ich 1945 und nicht 1845 geboren bin,
als Mann und nicht als Frau, dass ich ich bin und nicht Sie, und dass
Sie Sie sind und nicht Ihr Nachbar. Ich bin nicht frei, ich zu sein,
ich muss das akzeptieren. Frei bin ich nur, ja zu sagen zu mir, und
das ist oft schwer genug; ja zu dem Leben, das mir aufgetragen ist; ja
zu dem Charakter, den ich mitbekommen habe; ja auch zu dem, was ich
geworden bin und was ich nicht einfach ändern kann. Ich bin nicht
frei, einfach aus mir einen andern zu machen. Und doch glauben wir,
das sagt uns der Glauben: Christus hat uns zur Freiheit befreit (Gal
5,1).
Also was ist die Freiheit? Ist sie die
Einsicht in die Notwendigkeit? So hat Hegel, der Philosoph gesagt:
Freiheit, das ist "Einsicht in die Notwendigkeit", das heißt Einsicht
in das, was ich annehmen muss, weil es nicht anders geht, dass ich
geduldig oder zornig, resigniert oder wütend annehmen muss, dass ich
abhängig bin von Gott, von anderen und von mir selber. Ich kann das
heldenhaft ertragen, dass ich eigentlich unfrei bin. Nein, die großen
Vorbilder, das sind für uns die Heiligen, zeigen uns etwas ganz
anderes. Sie zeigen uns eine Spur einer ungeahnten Größe der Freiheit,
zu der uns Christus befreit hat. Ich zitiere noch einmal den
Katechismus. In der Nummer 1744 lesen wir: "Die Freiheit ist die
Macht, zu handeln oder nicht zu handeln, und so selbständig
willentliche Handlungen zu setzen." Ich glaube, diese Definition ist
einsichtig. Jemand ist frei, zu handeln oder nicht zu handeln,
selbständig, willentlich Handlungen zu setzen. Dann sagt der
Katechismus: "Die Ausübung der Freiheit ist vollkommen, wenn sie auf
Gott, das höchste Gut, ausgerichtet ist." Je größer die Hingabe an
Gott und seinen Willen, desto größer die Freiheit. Das ist der Kern
der biblischen Botschaft. Wenn wir auf Jesus blicken, dann sehen wir,
Jesus war völlig ausgerichtet auf den Vater, auf seinen Willen. "Meine
Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat" (Joh
4,34), sagt Jesus ganz dem Willen des Vaters gehorsam und so souverän
frei. Das ist das Rätsel, dem ich Sie einlade nachzuspüren: Wieso ist
Jesus so souverän frei, obwohl er ganz abhängig ist vom Vater? Wir
müssen eben sagen, nicht obwohl, sondern weil, weil er ganz abhängig
ist vom Vater, ist er so souverän frei. Ich glaube, da kommen wir zur
tiefsten Schwierigkeit in unserm Herzen bei der Frage der Freiheit, es
ist der Verdacht, wenn ich Gott gehorche, dann werde ich unfrei. Es
ist der Verdacht, dass Gott mir nicht wirklich die Freiheit gönnt.
Dieser Verdacht sitzt in uns seit dem Sündenfall.
Aber die Erfahrung der Heiligen sagt uns
etwas anderes. Frei werden wir, wenn wir Gott und seinem Willen
vertrauen und uns ganz von ihm führen lassen. Schauen Sie einmal Don
Bosco an, der fröhliche Heilige mit seiner herrlichen Phantasie für
die Jugend. Kann man sich einen spontaneren, fröhlicheren, freieren
Menschen als Don Bosco vorstellen? Aber woher hatte er diese Freiheit?
Eben aus dieser völligen Ausrichtung auf den Willen des Vaters, weil
Gott uns ja an seiner Freiheit Anteil schenkt. Und seine Freiheit ist
unendlich schöpferisch, erfinderisch. Denken Sie an Franz von Assisi,
wie seine Freiheit aus dem Gehorsam dem Vater gegenüber, aus seiner
Liebe zu Christus gekommen ist.
Nun gilt es aber, eine dritte und letzte
Beobachtung zu machen. Wir haben also die Möglichkeit zu wählen.
"Freiheit", so hat es im Katechismus geheißen, "ist die Macht zu
handeln oder nicht zu handeln, und selbständig willentliche Handlungen
zu setzen." Die Möglichkeit heißt auch Möglichkeit zum Guten oder zum
Bösen. Wenn ich in der Früh am Montag ins Büro komme oder zur Arbeit,
habe ich die Möglichkeit, freundlich zu sein oder grantig zu sein. Ich
bin frei das zu tun. Natürlich mag es mir schwerer fallen, am Montag
als am Dienstag freundlich zu sein. Aber niemand zwingt mich dazu,
grantig zu sein. Ich kann mich ja auch selbst überwinden. Sicher ist
es besser, wenn ich freundlich bin, für meine Mitarbeiter und für mich
selber, auf jeden Fall sehr viel angenehmer. Nun ist aber die Wahl
nicht einfach die Entscheidung, wie beim Einkaufen, ob ich
Meinl-Kaffee oder Jacobs-Kaffee nehme, ob ich mir einen blauen oder
einen grünen Pullover kaufe. Die Wahl, ob ich grantig oder freundlich
bin, ist andrer Art. Ich bin zwar frei zu wählen, ob ich grantig bin
oder freundlich bin, aber bei Gut und Bös sind die beiden
Möglichkeiten nicht einfach gleichwertig und sie sind für die Freiheit
nicht gleich gültig.
Im Katechismus heißt es 1733: "Je mehr man
das Gute tut, desto freier wird man. Wahre Freiheit gibt es nur im
Dienst des Guten und der Gerechtigkeit. Die Entscheidung zum
Ungehorsam und zum Bösen ist ein Missbrauch der Freiheit und macht zum
Sklaven der Sünde." Hier wird ganz deutlich gesagt, dass die Freiheit
in der Schwebe ist, wenn es sich um gleichwertige Dinge handelt, diese
oder jene Marke einzukaufen. Aber die Freiheit ist nicht in der
Schwebe zwischen Gut und Böse. Böse Entscheidungen liegen in meiner
Freiheit, aber ich werde unfrei durch eine solche freie Entscheidung.
Sie schädigen die anderen und mich selbst und sie beschädigen meine
Freiheit. Anders gesagt nur in der Wahl des Guten bin ich auf dem Weg
der Freiheit. In der Wahl des Bösen habe ich mich bereits freiwillig
auf den Weg der Unfreiheit begeben.
Ich möchte das mit einer Testfrage
erläutern: Sind wir im Himmel frei? Im Himmel sind wir glücklich, und
ich hoffe, dass wir alle in den Himmel kommen. Ich bete darum und ich
bitte auch, dass wir für einander beten und für alle Menschen, dass
alle in den Himmel kommen. Bin ich im Himmel noch frei, Böses zu tun?
Habe ich noch die Wahlfreiheit zwischen Gut und Bös? Im Himmel bin ich
sozusagen fixiert im Guten, weil ich Gott schaue. Dann gibt es kein
Wanken, kein Abweichen vom Guten. Ich schaue Gott. Wir werden "Gott
schauen wie er ist" und "ihm ähnlich sein" auf ewig, heißt es bei
Johannes (1 Joh 3,2). Werde ich deshalb unfrei sein? Bin ich unfrei,
wenn ich für immer, in der Ewigkeit im Guten bin? Wir können uns ja
nicht mehr gegen Gott entscheiden, wenn wir im Himmel sind. Was sagt
der Katechismus dazu, 1732: "Solange die Freiheit nicht endgültig an
Gott, ihr höchstes Gut, gebunden ist, liegt in ihr die Möglichkeit,
zwischen Gut und Böse zu wählen, also entweder an Vollkommenheit zu
wachsen oder zu versagen und zu sündigen." Die Wahlfreiheit ist noch
nicht die endgültige Freiheit. Solange ich noch abrutschen kann in die
Wahl des Bösen, bin ich noch nicht gesichert im Guten. Solange ich
nicht endgültig in Gott vor Anker gegangen bin, ist meine Freiheit
noch nicht vollkommen. Denn solange ich auch das Böse wählen kann, bin
ich bedroht und diese Bedrohung sitzt in uns allen.
Aber wie ist denn das mit der menschlichen
Treue? Ist menschliche Treue Unfreiheit? Wenn ein Ehepaar auf fünfzig
Jahre der Ehe zurück blicken kann, goldene Hochzeit feiert, wie ist
das für ein Ehepaar nach fünfzig Jahren der Treue? Sind sie unfrei,
weil sie treu geblieben sind? Aber sie wollen ja treu bleiben. Es ist
ja ihr Glück, dass sie treu bleiben konnten mit Gottes Hilfe und mit
gegenseitiger Hilfe. Es ist ihr Glück, dass sie nicht die Untreue ins
Auge gefasst haben, dass sie nicht in die Untreue geraten sind. Wenn
man sie fragt nach fünfzig Jahren: Würdet ihr heute noch einmal ja
sagen? Dann werden sie ohne zu zögern ja sagen und sagen, es ist mein
Glück, mit dir fünfzig Jahre der treuen Ehe gelebt zu haben. Sind sie
dadurch unfrei, dass sie fünfzig Jahre treu waren? Oder anders
gefragt, sind die, die vielleicht durch momentanes Versagen den Weg
der Untreue gegangen sind, dadurch freier geworden? Es stimmt schon,
wir sind frei zur Sünde, aber die Sünde macht uns nicht frei, das war
die Versprechung der Schlange, und sie hat uns belogen. Deshalb bedarf
unsere Freiheit so sehr der Hilfe, damit sie sich verwirklichen kann
in der Wahl des Guten und damit glücklich wird, denn unsere Freiheit
ist ja so ungefestigt und gefährdet und ohne die Hilfe anderer, ohne
die Hilfe Gottes sind wir hilflos den Gefährdungen unserer Freiheit
ausgesetzt. Deshalb noch einmal der Katechismus, 1742: "Die Gnade
Christi beeinträchtigt unsere Freiheit keineswegs, falls diese dem
Sinn für das Wahre und Gute entspricht, den Gott in das Herz des
Menschen gelegt hat. Die christliche Erfahrung bezeugt uns vor allem
im Gebet das Gegenteil: Unsere innere Freiheit und unsere
Standhaftigkeit in Prüfungen sowie gegenüber dem Druck und den Zwängen
der äußeren Welt nehmen in dem Maß zu, in dem wir den Anregungen der
Gnade folgen." Wir werden durch die Treue zu Gott stärker im Guten.
Die Gnade Christi will uns bestärken in unserer Freiheit und uns
bewahren vor den Gefährdungen unserer Freiheit. Deshalb glauben wir,
dass wir den Weg der Freiheit wirklich nur gehen können, wenn Christus
uns bei der Hand nimmt. Zur Freiheit hat uns Christus berufen. Er hat
uns frei gemacht.
Mein früherer Vorgesetzter, jetzt Bischof
von Graz, damals Studentenpfarrer in Graz und ich sein Kaplan, pflegte
ein Gebet zu beten vom hl. Augustinus: "Herr, rette mich vor mir
selbst!" Wir können auch, und damit schließen wir, das Gebet, das ich
am Anfang gesprochen habe noch einmal beten: Allmächtiger und
barmherziger Gott, halte von uns fern, was uns gefährdet und nimm weg,
was uns an Leib und Seele bedrückt, damit wir mit freien Herzen deinen
Willen tun. Darum bitten wir dich durch Christus unsern Herrn. Amen.
(Kardinal Christoph Schönborn) |