Lasst uns beten! Komm Heiliger Geist.
Erleuchte unseren Verstand, stärke unseren Willen, führe unser
Gewissen, dass wir erkennen, was gut ist, und die Kraft haben, es zu
tun. Darum bitten wir durch Christus unseren Herrn. Amen.
Jeder muss seinem Gewissen folgen. Das ist
offensichtlich. Und doch stellen wir uns die Frage, ob das wirklich
stimmt. Muss jeder seinem Gewissen folgen? Franz Jägerstätter, der
oberösterreichische Bauer, ist seinem Gewissen gefolgt und hat, obwohl
er eine Frau und drei Kinder zurückließ, sich für das Nein
entschieden, das Nein zu Hitlers Militärdienst, obwohl Millionen
anderer diese Pflicht auf sich genommen haben. Muss man immer seinem
Gewissen folgen? Der eine Attentäter, Mohammed Atta, vom 11. September
2001, dessen Bekennerbrief man gefunden hat, hat offensichtlich betend
und aus innerster Überzeugung heraus diese Tat vorbereitet und sie mit
erstaunlicher Perfektion durchgeführt. Er ist offensichtlich seinem
Gewissen gefolgt. Doch fragen wir uns: Ist es nicht gewissenlos,
Tausende unschuldiger Menschen umzubringen, nur um der eigenen Idee zu
folgen, auch wenn man noch so von dieser Idee überzeugt ist?
Die Frage ist also: Was ist das Gewissen?
Wie erfahren wir das Gewissen? Was sagt uns der Glaube über unser
Gewissen? Eines ist gewiss, das Gewissen ist so etwas wie der Kompass
des sittlichen Lebens. Die Frage, ob wir gut oder schlecht handeln,
hat sehr viel mit der Frage nach dem Gewissen zu tun.
I.
Gehen wir die Frage an: Was ist das, das
Gewissen? Fangen wir an bei der Sprache, denn die Sprache ist ein ganz
feines Messinstrument, oft sagt uns die Sprache vieles einfach
dadurch, dass sie bestimmte Ausdrücke hat. Sie weist uns auf Dinge
hin, die in dem sensiblen Instrument der Sprache fein registriert
werden. Es gibt dazu ein herrliches Instrument, das ist der Duden, ein
dickes Wörterbuch. Wenn man da nachschaut unter dem Wort Gewissen,
dann findet man einige Stichworte. Ich nenne einige aus dem Duden.
"Sein ärztliches Gewissen lässt das nicht zu." Diese Redewendung
klingt uns vertraut. Oder: "Dabei regte sich sein Gewissen." Das heißt
wohl, es kamen ihm Bedenken. Es steht dort auch: "Ihn plagt sein
Gewissen." Es wird das Wort "Gewissensbisse" genannt. Dieses Wort wird
so erklärt: "quälendes Bewusstsein, unrecht gehandelt zu haben". Wer
kennt das nicht, Gewissensbisse. Ich habe etwas versäumt zu tun, und
nun "beißt" mich mein Gewissen, es lässt mich nicht los, ich habe
etwas versäumt, ich habe etwas unterlassen. Ein anderes Stichwort aus
dem Duden: "sich kein Gewissen aus etwas machen". Ein weiteres:
"gewissenlos sein". Das wird erklärt: "ohne jedes Empfinden für Gut
und Böse im eigenen Tun sein", eine wirkliche Katastrophe, wenn ein
Mensch ohne jedes Empfinden für Gut und Böse im eigenen Tun ist. Wenn
wir von einem Menschen sagen müssen, er ist gewissenlos, dann meinen
wir damit, dass ihm etwas ganz Entscheidendes im menschlichen Leben
fehlt. Gewissenlosigkeit empfinden wir als zutiefst unmenschlich. Ein
weiters Stichwort: "jemanden auf dem Gewissen haben". Das kann
bedeuten, durch eigenes Verhalten jemandes Unglück oder Tod
verschuldet haben, jemanden auf dem Gewissen haben. Ein weiteres
Stichwort: "jemandem ins Gewissen reden". Wenn wir jemandem ins
Gewissen reden, dann appellieren wir an das Gespür für das Gute,
erinnern ihn an seine Verantwortung, wir versuchen ihn zu bewegen,
eine Fehlhaltung abzulegen. Wenn wir von "einem gewissenhaften
Menschen" sprechen, dann meinen wir jemand, auf den Verlass ist, der
zuverlässig, genau eben gewissenhaft ist. Das kann auch zu einem
Übermaß führen. Der Duden nennt das Stichwort "Gewissensskrupel", das
heißt, wenn jemand zwanghaft die Vorstellung hat, er habe etwas nicht
recht gemacht, nicht genau genug, nicht gründlich genug,
Gewissensskrupel. Ein weiteres Stichwort: "Das ist für mich eine
Gewissensfrage." Damit sagen wir, hier geht es nicht mehr nur um eine
bloße Sachfrage, ob man etwas so oder so machen soll. Hier geht es um
eine ganz ernste Frage, die mich in der Mitte meines Lebens betrifft.
"Hier stehe ich, ich kann nicht anders." Hier ist auch gefordert, dass
man meine innerste Überzeugung achtet, das ist für mich eine
Gewissensfrage. Damit sage ich auch: Notfalls bin ich bereit, die
Konsequenzen zu ziehen, die Folgerungen, auch wenn sie für mich
negativ ausgehen. Anderes Stichwort: "Gewissensentscheidung". Was ist
eine Gewissensentscheidung? Das heißt, ich habe aus meiner innersten
Überzeugung heraus gehandelt. "Gewissenszwang" ist ein anderes
Stichwort im Duden, Gewissenszwang, jemanden so unter Druck setzen,
dass er oder sie nicht anders kann, als sich diesem Zwang, diesem
Druck zu beugen. Wir empfinden das als etwas sehr Schwerwiegendes, das
Gewissen eines Menschen so unter Druck zu setzen, dass es zum
Gewissenszwang kommt. Es gibt die "Gewissensnot", dass man in eine
Konfliktsituation kommt, in der man nicht recht ein und aus weiß. Das
kann zu einem "Gewissenskonflikt" werden. Wenn ich zu etwas
verpflichtet bin im Berufsleben, dem ich in meinem Gewissen nicht
zustimmen kann, kann das ein Gewissenskonflikt werden. Noch ein
Stichwort aus dem Duden: "Gewissenserforschung". Der Duden schreibt
hier sehr bezeichnend: "kommt aus der katholischen Sprache und meint
Vorbereitung auf die Beichte". – Ich hoffe, es wird auch in anderen
Kreisen als nur bei Katholiken Gewissenserforschung betrieben und
nicht nur bei den wenigen, die zur Beichte gehen. – "Gewissensbildung"
sei als letztes Stichwort genannt, Gewissensbildung, die Pflege eines
feinen, empfindsamen, feinfühligen Gewissens.
Wir sehen schon von diesem Zugang über den
Duden, wie reichhaltig unsere Sprache dieses Phänomen des Gewissens
beschreibt. Aber was ist das? Was ist das Gewissen?
II.
Ich darf eine Kindheitserinnerung
erzählen. Sie gehört nicht unbedingt in die Beichte, ich weiß nicht ob
ich sie als Kind gebeichtet habe. Ich mag damals etwa sieben oder acht
Jahre alt gewesen sein. In dem Ort, wo wir zu Hause waren, gab es nahe
bei unserem Haus eine Tischlerei. Beim Spielen sind wir oft an dieser
Tischlerei vorbei gelaufen. Dort lag natürlich viel Holz herum, wie
das bei einer Tischlerei üblich ist. Eines Tages bin ich, ich weiß
nicht warum, aus mir unerfindlichen Gründen, beim Vorbeigehen bei
dieser Tischlerei, ich war alleine, plötzlich auf die Idee gekommen,
ich nehme mir da ein Brett mit und habe ein Brett gestohlen, ein
kleines Brett, völlig unbedeutend und wertlos. Aber ich habe es
gestohlen und bin mit diesem Brett davon gelaufen. Als ich zu unserem
Haus kam, hat mich die Panik gepackt: Was mache ich jetzt mit diesem
Brett? Ich habe es auf der Veranda versteckt und es hat mich den
ganzen Tag furchtbar gequält: Was mache ich mit diesem Brett? Dann
habe ich es am späteren Nachmittag heimlich wieder von der Veranda
geholt und heimlich zur Tischlerei zurückgebracht und wieder dort
hingelegt, wo ich es gestohlen hatte.
Hat das schlechte Gewissen, das mich
damals geplagt hat, wirklich etwas mit dem Gewissen zu tun? Was war
das? War es die Angst, entdeckt zu werden, die Angst vor Strafe, die
Angst vor der Schande, etwas zu tun, was man nicht tut, erwischt zu
werden bei etwas, das sich nicht gehört? Aber wenn es das war, warum
tut man das nicht? War das nur die damalige Mode in den frühen
Fünfzigerjahren, dass man nicht gestohlen hat? War das eine Spielregel
der damaligen Gesellschaft? War es, dass die Eltern einen so erzogen,
oder sagen wir vielleicht besser gedrillt haben, dass man so etwas
nicht tut und dass deshalb das Gefühl ein sehr unangenehmes ist, wenn
man gegen dieses "man tut das nicht" verstoßen hat? Hatte ich nur
deshalb Angst, weil ich eben so erzogen war? War es vielleicht das
Gefühl, dass wir als "Zuagroaste", als Zugezogene in diesem Ort
besonders aufpassen mussten? Anders gesagt: Ist die Stimme des
Gewissens nichts anderes, als die Summe der Maßstäbe und
Verhaltensregeln, die man uns anerzogen hat, sozusagen eine Art
Dressur? So wie man Hunde dressiert, so dressiert man auch Kinder,
dann bekommen sie ein schlechtes Gewissen, wenn sie etwas gegen die
Dressurregeln tun. Ist das so etwas, wie dass man sich nicht
wohlfühlt, wenn man an einem Ort in einer nicht passenden Kleidung
ist, wenn man in Bluejeans auf den Opernball geht, oder ich weiß nicht
welchen Vergleich wir brauchen sollen, wo man sich einfach nicht
wohlfühlt, weil man merkt, man verstößt gegen eine Verhaltensregel der
Umgebung?
Ist das Gewissen die Stimme, die uns zu
einer bestimmten Zeit übliche Verhaltensmuster vorschreibt? "Man tut
das", oder "man tut das nicht". Wer gegen solche "man tut das"-Regeln
verstößt, der wird scheel angesehen, der fühlt sich eben unwohl und
das ist dann ein Gewissensbiss. Ist das Gewissen einfach das, was der
berühmte Wiener Psychologe Sigmund Freud das Über-Ich genannt hat,
also alles das, was mir an Erziehung anerzogen worden ist und was so
über mir schwebt, wie ein Zwang, wie eine Verpflichtung, die ich mir
ins Innere übernommen habe und die sich auch aus den Haltungen ergibt,
die von mir erwartet werden oder von denen ich glaube, dass die
anderen sie von mir erwarten? Natürlich ist das Gewissen reich an
solchen Einflüssen. Vieles bestimmt unser Gewissen mit: die Erziehung,
der Zeitgeist, die Umwelt, die Ängste, die Zwänge, die Begierden, die
Wünsche, die Vorstellungen. In der Stimme des Gewissens reden viele
Stimmen mit. Aber was ist an diesen vielen Stimmen wirklich die Stimme
des Gewissens? Gibt es sie überhaupt in diesem Stimmengewirr? Was ist
daran Mitgerede anderer Stimmen und was ist die echte Stimme des
Gewissens?
Kehren wir zurück zu dem gestohlenen
Brett. Ich bin mir heute gewiss, wenn ich darüber nachdenke, was
damals passiert ist, dass sich hier in mir die Stimme des Gewissens
geregt hat, auch wenn manche andere Stimmen sich mit hineingemischt
haben, die Angst, entdeckt zu werden. Aber ist diese Angst, entdeckt
zu werden, nicht auch ein Zeugnis dafür, dass ich etwas getan habe,
was in sich nicht gut war? Es ist wirklich nicht gut, ein Brett zu
stehlen. War diese Angst nicht auch die Stimme dessen, der im Herzen
des Menschen spricht: "Du sollst nicht stehlen!" Das war nicht nur die
damalige gesellschaftliche Meinung. Diese Unruhe in meinem Herzen, in
mir kam aus einer tieferen Quelle. Hier war eine Stimme hörbar, die
ich heute als Botin Gottes sehe. Das Gewissen ist der Bote Gottes in
unserem Leben. Damals, als Kind habe ich diese Stimme als einen laut
drängenden Befehl erlebt: Tu das nicht, bring das wieder in Ordnung!
III.
Nun können wir uns fragen, ich muss mich
fragen, jeder von uns soll sich diese Frage stellen: Ist diese Stimme,
die damals dem Kind so klar gesprochen hat, heute noch so klar? Kann
diese Stimme übertönt werden? Man sagt, man kann das Gewissen
betäuben. Das Gewissen kann auch verwildern. Es kann durch eine enge,
ängstliche, zwanghafte Erziehung verbildet werden. Es kann durch Druck
und Zwang von Ängsten so überlagert werden, dass Skrupel,
Zwangsvorstellungen an die Stelle des Gewissens treten. Es kann durch
eine oberflächliche Lebensweise verflachen, wenn nur das Äußere gilt,
wenn die Eltern und die Umwelt nur auf die Geltung, den Glanz, den
Erfolg, das Ansehen schauen, dann kann beim Kind das Gewissen
verflachen. Wenn das "in"-Sein wichtiger wird als diese innere Stimme,
dann kann sie abstumpfen. In den ehemals kommunistischen Ländern ist
die Verwüstung der seelischen Landschaft, wie man in den letzten zehn
Jahren sehen konnte, viel tragischer als die wirtschaftliche
Verwüstung. In unseren Nachbarländern galt fast sprichwortartig:
"Stiehl, sonst wirst du bestohlen." Das ganze System war darauf
aufgebaut, dass jeder gestohlen hat. Jeder hat versucht zu
"organisieren", um sich so über Wasser zu halten. Diebstahl wurde zur
Lebensgewohnheit einer ganzen Gesellschaft. Alles wurde gestohlen und
fast jeder war genötigt zu stehlen. Und die Lüge, das ganze System war
aufgebaut auf die Lüge. Um zu überleben lernte man von früh an zu
lügen. Der Bezug zur Wahrheit wurde gründlich ge- oder gar zerstört.
Welche Folgen das für das Zusammenleben der Menschen hat, das sah man
erst richtig nach dem Zusammenbruch des Kommunismus. Es zerstört
zutiefst die seelische Gesundheit der Menschen. Die kommunistische
Gesellschaft hatte etwas trostlos Graues. Das kam zutiefst aus der
Lüge, die wie ein dicker, dichter Schleier, Nebel über dem ganzen lag.
Es wird wohl lange dauern, bis diese Länder sich wieder davon erholt
haben. Die Erholung wird nicht von selber kommen, sondern nur durch
den geduldigen Aufbau der schlichten Tugenden des menschlichen Lebens,
die das kommunistische System untergraben hatte. Ich komme darauf
gleich noch zurück bei der Frage der Gewissensbildung.
Aber werfen wir jetzt auch eine Blick auf
unsere westliche Gesellschaft. Viele Jahre später nach dem Erlebnis
mit dem Brett habe ich Psychologie studiert, nicht sehr lange aber
doch. Der damals vorherrschende Trend in der Psychologie war, dass all
das, was wir Gewissen nennen, sehr wenig Platz hatte in dem, was man
uns in der Psychologie beigebracht hat. Vorherrschend war die
Auffassung, dass der Mensch ein Bündel von Reaktionen und Reflexen
ist, die man messen kann, die man mit Statistiken erfassen kann. Der
Mensch ist eine Maschine, die man so oder so prägen, bestimmen,
organisieren kann. Freiheit, Seele, Verantwortung, Gewissen, das kam
kaum vor in dieser Psychologie. Die vorherrschende Auffassung war, der
Mensch ist das Produkt seiner Umgebung, seiner Erziehung, seiner
Einflüsse. Aber es gab dann auch eine andere Auffassung, die mit
dieser ersten, materialistischen Auffassung sehr verwandt war. Man sah
den Menschen mehr und mehr und immer ausschließlicher als ein Wesen,
das sich selber bestimmt und sich selber das Gesetz gibt. Wer der
Mensch ist, das bestimmt er selber, was er will und wer er ist, was
für ihn gut ist und was für ihn wichtig ist, was er für gut oder für
böse hält, das ist seine Sache. In dieser Sicht des Menschen ist das
Gewissen das, was mir wichtig ist, was mir wichtig ist, was ich für
wichtig halte, was ich für richtig halte, das, wonach ich mein Leben
einrichten will.
In den letzten Jahrzehnten kam es deshalb
verständlicherweise immer mehr zu einem Konflikt mit der Kirche
zwischen dieser Auffassung und der Auffassung der Kirche. Wenn das
Gewissen das ist, was ich bestimme, was mir persönlich das richtige
scheint, dann gilt natürlich, jeder hat sein Gewissen und handelt nach
seinem Gewissen. Manche mögen sich erinnern an den Konflikt der im
Jahr 1968 ausbrach, als Papst Paul VI. die Enzyklika "Humanae Vitae"
veröffentlicht hat, für viele ein großer Konflikt auch bis hin zu
einem Gewissenskonflikt. Mehr und mehr sah es so aus, gerade in den
Fragen der Lebensethik, damals in der Frage der Empfängnisverhütung,
dass es zwischen der Lehre der Kirche und dem Gewissen des einzelnen
einen Konflikt gibt, letztlich einen Graben, der nicht zu überwinden
ist. "Gewissen gegen Lehramt" wurde zu einer gängigen Formel. Ich
erinnere mich an viele heftige Diskussionen, wo gesagt wurde, die
Kirche soll sich nicht in die Gewissensentscheidung der Gläubigen
einmischen. Wie kommt ein anderer dazu, mir Vorschriften zu machen,
wie ich mein Leben einzurichten habe? Wie kommt die Kirche dazu,
allgemeine Vorschriften zu machen, die im Leben schwer verwirklichbar
scheinen?
Was ist da das Gewissen? Ist das Gewissen
meine Überzeugung? Ist das Gewissen nur meine Überzeugung? Ist es nur
das, was mir jetzt gerade einleuchtet, was mir gewiss ist, jetzt? Oder
ist das Gewissen eine Stimme, die gerade nicht von mir stammt, die
zwar in mir spricht, aber nicht von mir stammt? Ich glaube, wir stehen
heute vor der Frage, das Gewissen wieder tiefer zu verstehen.
Vielleicht gelingt es uns auch, diesen Konflikt zwischen Kirche,
Lehramt und Gewissen etwas tiefer zu sehen. Was ist das, wenn ich
Gewissensbisse habe? Wenn mich mein Gewissen plagt, anklagt? Wer
spricht da zu mir? Ich habe Gewissensbisse. Da ist doch jemand
anderer, der zu mir spricht, oder eine andere Stimme, die mich
anspricht, die mich auffordert: Tu das nicht!, oder die mir sagt: Du
hättest das tun sollen, warum hast du es unterlassen? Was war damals
die Angst im kindlichen Herzen wegen dem gestohlenen Brett? Dass ich
etwas Schlechtes getan habe, dass es nicht richtig ist zu stehlen. Wie
gut tat die Erleichterung, als ich das Brett wieder zurückgebracht
hatte. Ich kann mich noch gut daran erinnern. Das Sprichwort sagt
nicht zu unrecht: "Ein ruhiges Gewissen ist ein gutes Ruhekissen."
Ich glaube, hier stoßen wir auf etwas ganz
Entscheidendes. Das Gewissen ist etwas ganz Persönliches, was nur ich
höre, mein Gewissen. Und doch ist es nicht etwas bloß Individuelles.
Es ist etwas, dass mich öffnet. Die Stimme des Gewissens ruft mich
heraus aus meiner Verschlossenheit. Die Stimme des Gewissens stößt
eine Tür auf zu den anderen, zur Wirklichkeit, macht mir etwas
bewusst, das ich nicht gesehen habe, spricht mich an mit einer
Wirklichkeit,die ich nicht wahrhaben wollte. Mein Gewissen sagt mir:
Du darfst nicht stehlen, auch wenn es nur ein wertloses Brett ist.
Aber wenn ich auf diese Stimme höre, dann weiß ich, in jedem
Menschenherzen gibt es diese Stimme. Deshalb kann ich zu einem anderen
sagen: Du sollst nicht stehlen! Ich kann ihm ins Gewissen reden, in
sein Gewissen, weil ich weiß, dass auch sein Gewissen ihm sagt: Du
sollst nicht stehlen!
IV.
Und nun das Wunderbare, Erstaunliche am
Gewissen: Das Gewissen ist wie eine feine Antenne, wie ein ganz feines
Sensorium um die Wirklichkeit wahrzunehmen, zu erkennen, was gut und
richtig und wahr ist. Freilich unter einer Bedingung: dass das
Gewissen gebildet ist, dass es geschult wird. Nur ein feinfühliges
Gewissen ist ein feinfühliges Instrument. Ein versulztes, verfettetes,
faules Gewissen nimmt auch nichts wahr. Aber ein feinfühliges Gewissen
ist ein wunderbares Instrument, den anderen wahrzunehmen, offen zu
sein für den Anruf, der mir vom anderen kommt. Deshalb ist es so
entscheidend, dass wir das Gewissen bearbeiten, es schulen,
verfeinern. Diese Arbeit dauert ein Leben lang. Es ist schon richtig
zu sagen: Wir müssen unserem Gewissen folgen. Aber was für ein
Gewissen ist das, dem ich folge? Ist es ein "Allerweltsgewissen" oder
ist es ein entwickeltes Gewissen? Habe ich ein entwickeltes Gewissen
oder begnüge ich mich mit dem oberflächlichen Beharren auf meinen
bequemen Gewohnheiten?
Wenn wir sagen, ein Ereignis hat mich
erschüttert, hat mein Gewissen erschüttert, hat mich richtig
wachgerüttelt, dann kann das der Anfang einer tieferen
Gewissensbildung sein. Wie geht das? Ich möchte vier Schritte oder
vier Dimensionen der Gewissensbildung kurz nennen.
1. Ich muss überhaupt einsehen, dass mein
Gewissen unterentwickelt ist. Wir sehen bei den Heiligen, wie fein ein
Gewissen werden kann und wie viel es wahrnehmen kann, wenn es wirklich
entwickelt ist. Ich muss bereit sein, mich zu bilden, mich bilden zu
lassen. Ich muss bereit sein, mir ins Gewissen reden zu lassen. Wenn
ich selbstzufrieden, selbstgewiss bin, dann wird mich kein Anruf an
mein Gewissen erreichen. Aber wenn ich erschüttert bin durch einen
Gewissensbiss oder durch ein dramatisches Ereignis in meinem Leben,
dann kann der Wunsch aufbrechen, dass ich weitergehe und lerne. Es
gibt keine bessere Schule als die unseres Herrn und Meisters, der uns
gesagt hat: "Lernt von mir" (Mt 11,29). Jesus ist der Meister, wie wir
auf die Stimme des Vaters hören lernen. Niemand hat so den Vater
gehört wie Jesus, bis in die kleinste Regung seiner Seele, seines
Herzens hinein alles vom Vater gehört. Die Schule des Gewissens ist
daher für uns die Schule Jesu. Jesus öffnet uns das Ohr und das Auge.
Wie wunderbar ist es, wenn man sich in die Gleichnisse Jesu hinein
vertieft, wenn man sie auf sich wirken lässt, wie Jesus uns lehrt zu
schauen, zu beobachten, wie alles zu einer Schule wird, um die
Wirklichkeit wahrzunehmen. Die Gleichnisse Jesu sind eine wunderbare
Gewissensschule. Schaut, was uns die Natur lehrt, das Senfkorn, das
ein großer Baum wird, die Saat, die von selber wächst, alles, was
Jesus über die Pflanzung, über den Weingarten, über den Weingärtner,
was er über die Tiere, die Vögel des Himmels, was er über die Lilien
des Feldes sagt und auch alles, was er aus dem Berufsleben der
Menschen beobachtet, alles das ist Schule der Wahrnehmung der
Wirklichkeit. Nur eine Wahrnehmung der Wirklichkeit kann auch ein
feines Gewissen fördern. Umgekehrt, ein feinfühliges Gewissen macht
klarsichtig zur Wahrnehmung der Wirklichkeit.
2. Mein Gewissen wird in dem Maß
feinfühlig sein, wie mein Leben in Ordnung ist. Ich muss um Ordnung
und Disziplin in meinem Leben kämpfen, damit dieses Organ des
Gewissens funktionieren, wirken kann. Die einfachen Tugenden des
Alltags machen uns feinfühlig, Rücksichtnahme, Aufmerksamkeit,
Selbstüberwindung, Geduld, Diskretion, Demut – alles das entwickelt
das Gewissen, macht es wach und wahrnehmungsfähig.
3. Wenn ich mein Gewissen will, mich nicht
mit einem "Allerweltsgewissen" zufrieden gebe, dann werde ich Lehrer
suchen, Menschen, die mir Vorbild sind, Menschen, die mir durch ihr
Leben, durch ihr Wort und ihre Erfahrung Wegweisung geben können,
"Lebemeister", die Heiligen. Oft sind es ganz einfache Menschen, die
unsere besten Lehrmeister sind für ein feinfühliges Gewissen. Dazu
gehört auch die Lehre der Kirche. Dieser Konflikt zwischen Gewissen
und Lehre der Kirche löst sich in dem Maß, wie wir bereit sind, der
Lehre der Kirche mit Vertrauen entgegenzugehen. Das heißt nicht, dass
mir alles sofort und in jeder Hinsicht einsichtig ist. Aber ich muss
zumindestens den Vertrauensvorschuss haben, dass ich etwas lernen
kann. Vielleicht steckt in dieser oder jener Lehre der Kirche eine
Weisheit, die ich noch nicht erfasst habe, aber ich will es
zumindestens nicht ausschließen, dass sie mir einmal einleuchtet. Der
Papst ist nicht der Herr über unser Gewissen, niemand ist der Herr
über unser Gewissen, kein Mensch, nur Gott ist der Herr unseres
Gewissens. Aber der Papst ist Herold des Gewissens, Bote des
Gewissens. Manchmal hat man den Eindruck, dass die Außenstehenden, die
Fernstehenden besser spüren, dass der Papst wirklich Herold des
Gewissens ist in der ganzen Welt. Er hat dazu den besonderen Auftrag
des Herrn und den besonderen Beistand des Heiligen Geistes, um unser
Gewissen anzusprechen und ihm den Anspruch Gottes in Erinnerung zu
rufen. Wenn ich nicht bereit bin, mich vom Wort Gottes anrufen zu
lassen, dann werde ich wohl auch mir schwer tun, mich von der Lehre
der Kirche ansprechen zu lassen. Dann besteht die Gefahr, dass ich
meine Wünsche und meine Vorstellungen für mein Gewissen halte. Dann
sind wir vielleicht wirklich bei der Täuschung, die manche Psychologen
für das Gewissen halten, dass es nichts anderes ist, als die
Vorstellungen und Wünsche, die eben in der Gesellschaft da sind.
4. Gott spricht zu uns, zu unserem
Gewissen durch Ereignisse, durch Ereignisse in unserem Leben, in
unserer Umgebung, in unserer Welt. Sicher war der 11. September 2001
ein solches Ereignis, das unser Gewissen wachrütteln soll. Was will
Gott uns sagen? Was sagt er mir durch eine Krankheit, durch eine
Prüfung? Was sagt er mir durch eine Schuld? Gestern bin ich der
Autorin des Buches "Ich nannte sie Nadine. Rund um die Problematik vor
und nach dem Schwangerschaftsabbruch" (Wien 2001), Karin Lamplmair,
begegnet, eine junge Mutter, sie hat zwei Kinder und das dritte hat
sie sich nehmen lassen durch eine Abtreibung. Nach diesem Ereignis ist
sie in eine tiefe Depression verfallen. Sie hat einen
Selbstmordversuch gemacht und auf einem langen und schwierigen Weg,
auf einem gnadenvollen Weg, auf dem die kleine Theresia auch eine
wichtige Rolle gespielt hat, ist sie zum Glauben gekommen und hat
heraus gefunden aus ihrer Depression und aus ihrer Verzweiflung, dass
sie sich ihr Kind, ihr drittes Kind hat nehmen, töten lassen. Sie hat
es Nadine genannt. Sie hat begonnen, den Ärzten ins Gewissen zu reden,
indem sie einfach ihre Geschichte erzählt hat. Sie hat das Tagebuch
ihrer Erfahrung niedergeschrieben, viele haben darauf reagiert. Sie
hat eine Fülle von Zeugnissen zusammengestellt. Gestern hatte ich die
Freude sie kennen zu lernen und kann sie nur ermutigen auf diesem Weg.
Was Karin erlebt hat, ist Gewissensbildung. Durch ein dramatisches
Ereignis in ihrem Leben, eine schwere Schuld, die sie fast in die
Verzweiflung und in den Selbstmord getrieben hätte, hat Gott sie zu
einer Umkehr geführt. Zur Bildung des Gewissens gehört ganz
entscheidend die Erfahrung der Gnade, denn was uns das Gewissen zeigt,
das könnten wir nicht ertragen, wenn wir nicht der Barmherzigkeit
Gottes begegnen. Wenn nur unser Gewissen uns anklagt, dann können wir
das nicht ertragen. Vielleicht können viele Menschen deshalb die
Stimme ihres Gewissens nicht zulassen, weil sie nicht wissen von der
Gnade, weil sie nicht wissen, wie sehr Gott sie liebt. Erst wenn wir
das erfahren, dann kann mein Gewissen mir wirklich alles sagen, dann
kann ich es frei und offen sprechen lassen, denn ich weiß, dann ist
nicht mehr nur mein Gewissen mein Richter, das mich verurteilt,
sondern da ist einer, der mich anschaut und mich nicht verurteilt. Du,
Herr, bist mein Richter, nicht mein Gewissen, das mich anklagt.
"Selbst wenn unser Herz uns anklagt, Gott ist größer als unser Herz"
(vgl. 1 Joh 3,3).
V.
Ich komme zum Ausgang zurück: Die
Attentäter von New York glaubten, so handeln zu müssen. Sie sind ihrem
Gewissen gefolgt. Muss man immer dem Gewissen folgen? Ich glaube, wir
können jetzt sagen: Ja, man muss immer dem Gewissen folgen. Aber ich
muss immer mit bedenken, mein Gewissen kann sich irren. Mein Gewissen
kann nicht genügend erleuchtet sein, es kann fehlgeleitet sein.
Zweitens muss ich wissen, ob ich wirklich nach bestem Wissen und
Gewissen gehandelt habe. Ich muss mich bilden, mich informieren, ich
muss mir die Dinge sagen lassen. Drittens kann mir mein Gewissen eines
nie sagen, etwas was gegen die Grundregeln der menschlichen
Sittlichkeit verstößt. Wenn mir mein Gewissen sagt, dass ich
Unschuldige umbringen muss, dann kann der Spruch meines Gewissens
nicht richtig sein. Deshalb muss ich immer bei meinen
Gewissenskonflikten fragen: 1. Handle ich nach der goldenen Regel, was
ihr wollt, dass die andern euch tun, das müsst auch ihr ihnen tun? 2.
muss ich immer bedenken, der Zweck heiligt nicht die Mittel und es ist
nie erlaubt, Böses zu tun um Gutes zu erreichen. 3. Ich darf aus
Gewissengründen mein Leben hingeben, ich darf nicht aus
Gewissensgründen anderen Menschen, unschuldigen Menschen das Leben
nehmen. Ich gehe jetzt hier nicht auf die Frage der Gewaltanwendung im
Kriegsfall ein, das wäre ein eigenes Kapitel.
Zum Schluss. Das christliche Bild des
Gewissenshelden ist nicht der Terrorist, sondern der Märtyrer. Thomas
Morus, der große Kanzler Englands, hat in langem Ringen die
Gewissensentscheidung getroffen, den Eid auf König Heinrich VIII.
nicht abzulegen und hat dafür den Tod in Kauf genommen. Franz
Jägerstätter ist seinem Gewissen gefolgt. Das sind unsere Vorbilder.
Sie folgten ihrem Gewissen, das sie in langen Kämpfen, oft in der
Dunkelheit des Glaubens, in einem intensiven Ringen geschult und
gebildet hatten und das ihnen den richtigen Weg gezeigt hat.
(Kardinal Christoph Schönborn) |