Gewissen - innere Stimme, die zum Guten ruft
Kardinal Schönborn
3. Katechese 2001/02 gehalten am 18. November 2001
 

 

Lasst uns beten! Komm Heiliger Geist. Erleuchte unseren Verstand, stärke unseren Willen, führe unser Gewissen, dass wir erkennen, was gut ist, und die Kraft haben, es zu tun. Darum bitten wir durch Christus unseren Herrn. Amen.


 

Jeder muss seinem Gewissen folgen. Das ist offensichtlich. Und doch stellen wir uns die Frage, ob das wirklich stimmt. Muss jeder seinem Gewissen folgen? Franz Jägerstätter, der oberösterreichische Bauer, ist seinem Gewissen gefolgt und hat, obwohl er eine Frau und drei Kinder zurückließ, sich für das Nein entschieden, das Nein zu Hitlers Militärdienst, obwohl Millionen anderer diese Pflicht auf sich genommen haben. Muss man immer seinem Gewissen folgen? Der eine Attentäter, Mohammed Atta, vom 11. September 2001, dessen Bekennerbrief man gefunden hat, hat offensichtlich betend und aus innerster Überzeugung heraus diese Tat vorbereitet und sie mit erstaunlicher Perfektion durchgeführt. Er ist offensichtlich seinem Gewissen gefolgt. Doch fragen wir uns: Ist es nicht gewissenlos, Tausende unschuldiger Menschen umzubringen, nur um der eigenen Idee zu folgen, auch wenn man noch so von dieser Idee überzeugt ist?

Die Frage ist also: Was ist das Gewissen? Wie erfahren wir das Gewissen? Was sagt uns der Glaube über unser Gewissen? Eines ist gewiss, das Gewissen ist so etwas wie der Kompass des sittlichen Lebens. Die Frage, ob wir gut oder schlecht handeln, hat sehr viel mit der Frage nach dem Gewissen zu tun.

I.

Gehen wir die Frage an: Was ist das, das Gewissen? Fangen wir an bei der Sprache, denn die Sprache ist ein ganz feines Messinstrument, oft sagt uns die Sprache vieles einfach dadurch, dass sie bestimmte Ausdrücke hat. Sie weist uns auf Dinge hin, die in dem sensiblen Instrument der Sprache fein registriert werden. Es gibt dazu ein herrliches Instrument, das ist der Duden, ein dickes Wörterbuch. Wenn man da nachschaut unter dem Wort Gewissen, dann findet man einige Stichworte. Ich nenne einige aus dem Duden. "Sein ärztliches Gewissen lässt das nicht zu." Diese Redewendung klingt uns vertraut. Oder: "Dabei regte sich sein Gewissen." Das heißt wohl, es kamen ihm Bedenken. Es steht dort auch: "Ihn plagt sein Gewissen." Es wird das Wort "Gewissensbisse" genannt. Dieses Wort wird so erklärt: "quälendes Bewusstsein, unrecht gehandelt zu haben". Wer kennt das nicht, Gewissensbisse. Ich habe etwas versäumt zu tun, und nun "beißt" mich mein Gewissen, es lässt mich nicht los, ich habe etwas versäumt, ich habe etwas unterlassen. Ein anderes Stichwort aus dem Duden: "sich kein Gewissen aus etwas machen". Ein weiteres: "gewissenlos sein". Das wird erklärt: "ohne jedes Empfinden für Gut und Böse im eigenen Tun sein", eine wirkliche Katastrophe, wenn ein Mensch ohne jedes Empfinden für Gut und Böse im eigenen Tun ist. Wenn wir von einem Menschen sagen müssen, er ist gewissenlos, dann meinen wir damit, dass ihm etwas ganz Entscheidendes im menschlichen Leben fehlt. Gewissenlosigkeit empfinden wir als zutiefst unmenschlich. Ein weiters Stichwort: "jemanden auf dem Gewissen haben". Das kann bedeuten, durch eigenes Verhalten jemandes Unglück oder Tod verschuldet haben, jemanden auf dem Gewissen haben. Ein weiteres Stichwort: "jemandem ins Gewissen reden". Wenn wir jemandem ins Gewissen reden, dann appellieren wir an das Gespür für das Gute, erinnern ihn an seine Verantwortung, wir versuchen ihn zu bewegen, eine Fehlhaltung abzulegen. Wenn wir von "einem gewissenhaften Menschen" sprechen, dann meinen wir jemand, auf den Verlass ist, der zuverlässig, genau eben gewissenhaft ist. Das kann auch zu einem Übermaß führen. Der Duden nennt das Stichwort "Gewissensskrupel", das heißt, wenn jemand zwanghaft die Vorstellung hat, er habe etwas nicht recht gemacht, nicht genau genug, nicht gründlich genug, Gewissensskrupel. Ein weiteres Stichwort: "Das ist für mich eine Gewissensfrage." Damit sagen wir, hier geht es nicht mehr nur um eine bloße Sachfrage, ob man etwas so oder so machen soll. Hier geht es um eine ganz ernste Frage, die mich in der Mitte meines Lebens betrifft. "Hier stehe ich, ich kann nicht anders." Hier ist auch gefordert, dass man meine innerste Überzeugung achtet, das ist für mich eine Gewissensfrage. Damit sage ich auch: Notfalls bin ich bereit, die Konsequenzen zu ziehen, die Folgerungen, auch wenn sie für mich negativ ausgehen. Anderes Stichwort: "Gewissensentscheidung". Was ist eine Gewissensentscheidung? Das heißt, ich habe aus meiner innersten Überzeugung heraus gehandelt. "Gewissenszwang" ist ein anderes Stichwort im Duden, Gewissenszwang, jemanden so unter Druck setzen, dass er oder sie nicht anders kann, als sich diesem Zwang, diesem Druck zu beugen. Wir empfinden das als etwas sehr Schwerwiegendes, das Gewissen eines Menschen so unter Druck zu setzen, dass es zum Gewissenszwang kommt. Es gibt die "Gewissensnot", dass man in eine Konfliktsituation kommt, in der man nicht recht ein und aus weiß. Das kann zu einem "Gewissenskonflikt" werden. Wenn ich zu etwas verpflichtet bin im Berufsleben, dem ich in meinem Gewissen nicht zustimmen kann, kann das ein Gewissenskonflikt werden. Noch ein Stichwort aus dem Duden: "Gewissenserforschung". Der Duden schreibt hier sehr bezeichnend: "kommt aus der katholischen Sprache und meint Vorbereitung auf die Beichte". – Ich hoffe, es wird auch in anderen Kreisen als nur bei Katholiken Gewissenserforschung betrieben und nicht nur bei den wenigen, die zur Beichte gehen. – "Gewissensbildung" sei als letztes Stichwort genannt, Gewissensbildung, die Pflege eines feinen, empfindsamen, feinfühligen Gewissens.

Wir sehen schon von diesem Zugang über den Duden, wie reichhaltig unsere Sprache dieses Phänomen des Gewissens beschreibt. Aber was ist das? Was ist das Gewissen?

II.

Ich darf eine Kindheitserinnerung erzählen. Sie gehört nicht unbedingt in die Beichte, ich weiß nicht ob ich sie als Kind gebeichtet habe. Ich mag damals etwa sieben oder acht Jahre alt gewesen sein. In dem Ort, wo wir zu Hause waren, gab es nahe bei unserem Haus eine Tischlerei. Beim Spielen sind wir oft an dieser Tischlerei vorbei gelaufen. Dort lag natürlich viel Holz herum, wie das bei einer Tischlerei üblich ist. Eines Tages bin ich, ich weiß nicht warum, aus mir unerfindlichen Gründen, beim Vorbeigehen bei dieser Tischlerei, ich war alleine, plötzlich auf die Idee gekommen, ich nehme mir da ein Brett mit und habe ein Brett gestohlen, ein kleines Brett, völlig unbedeutend und wertlos. Aber ich habe es gestohlen und bin mit diesem Brett davon gelaufen. Als ich zu unserem Haus kam, hat mich die Panik gepackt: Was mache ich jetzt mit diesem Brett? Ich habe es auf der Veranda versteckt und es hat mich den ganzen Tag furchtbar gequält: Was mache ich mit diesem Brett? Dann habe ich es am späteren Nachmittag heimlich wieder von der Veranda geholt und heimlich zur Tischlerei zurückgebracht und wieder dort hingelegt, wo ich es gestohlen hatte.

Hat das schlechte Gewissen, das mich damals geplagt hat, wirklich etwas mit dem Gewissen zu tun? Was war das? War es die Angst, entdeckt zu werden, die Angst vor Strafe, die Angst vor der Schande, etwas zu tun, was man nicht tut, erwischt zu werden bei etwas, das sich nicht gehört? Aber wenn es das war, warum tut man das nicht? War das nur die damalige Mode in den frühen Fünfzigerjahren, dass man nicht gestohlen hat? War das eine Spielregel der damaligen Gesellschaft? War es, dass die Eltern einen so erzogen, oder sagen wir vielleicht besser gedrillt haben, dass man so etwas nicht tut und dass deshalb das Gefühl ein sehr unangenehmes ist, wenn man gegen dieses "man tut das nicht" verstoßen hat? Hatte ich nur deshalb Angst, weil ich eben so erzogen war? War es vielleicht das Gefühl, dass wir als "Zuagroaste", als Zugezogene in diesem Ort besonders aufpassen mussten? Anders gesagt: Ist die Stimme des Gewissens nichts anderes, als die Summe der Maßstäbe und Verhaltensregeln, die man uns anerzogen hat, sozusagen eine Art Dressur? So wie man Hunde dressiert, so dressiert man auch Kinder, dann bekommen sie ein schlechtes Gewissen, wenn sie etwas gegen die Dressurregeln tun. Ist das so etwas, wie dass man sich nicht wohlfühlt, wenn man an einem Ort in einer nicht passenden Kleidung ist, wenn man in Bluejeans auf den Opernball geht, oder ich weiß nicht welchen Vergleich wir brauchen sollen, wo man sich einfach nicht wohlfühlt, weil man merkt, man verstößt gegen eine Verhaltensregel der Umgebung?

Ist das Gewissen die Stimme, die uns zu einer bestimmten Zeit übliche Verhaltensmuster vorschreibt? "Man tut das", oder "man tut das nicht". Wer gegen solche "man tut das"-Regeln verstößt, der wird scheel angesehen, der fühlt sich eben unwohl und das ist dann ein Gewissensbiss. Ist das Gewissen einfach das, was der berühmte Wiener Psychologe Sigmund Freud das Über-Ich genannt hat, also alles das, was mir an Erziehung anerzogen worden ist und was so über mir schwebt, wie ein Zwang, wie eine Verpflichtung, die ich mir ins Innere übernommen habe und die sich auch aus den Haltungen ergibt, die von mir erwartet werden oder von denen ich glaube, dass die anderen sie von mir erwarten? Natürlich ist das Gewissen reich an solchen Einflüssen. Vieles bestimmt unser Gewissen mit: die Erziehung, der Zeitgeist, die Umwelt, die Ängste, die Zwänge, die Begierden, die Wünsche, die Vorstellungen. In der Stimme des Gewissens reden viele Stimmen mit. Aber was ist an diesen vielen Stimmen wirklich die Stimme des Gewissens? Gibt es sie überhaupt in diesem Stimmengewirr? Was ist daran Mitgerede anderer Stimmen und was ist die echte Stimme des Gewissens?

Kehren wir zurück zu dem gestohlenen Brett. Ich bin mir heute gewiss, wenn ich darüber nachdenke, was damals passiert ist, dass sich hier in mir die Stimme des Gewissens geregt hat, auch wenn manche andere Stimmen sich mit hineingemischt haben, die Angst, entdeckt zu werden. Aber ist diese Angst, entdeckt zu werden, nicht auch ein Zeugnis dafür, dass ich etwas getan habe, was in sich nicht gut war? Es ist wirklich nicht gut, ein Brett zu stehlen. War diese Angst nicht auch die Stimme dessen, der im Herzen des Menschen spricht: "Du sollst nicht stehlen!" Das war nicht nur die damalige gesellschaftliche Meinung. Diese Unruhe in meinem Herzen, in mir kam aus einer tieferen Quelle. Hier war eine Stimme hörbar, die ich heute als Botin Gottes sehe. Das Gewissen ist der Bote Gottes in unserem Leben. Damals, als Kind habe ich diese Stimme als einen laut drängenden Befehl erlebt: Tu das nicht, bring das wieder in Ordnung!

III.

Nun können wir uns fragen, ich muss mich fragen, jeder von uns soll sich diese Frage stellen: Ist diese Stimme, die damals dem Kind so klar gesprochen hat, heute noch so klar? Kann diese Stimme übertönt werden? Man sagt, man kann das Gewissen betäuben. Das Gewissen kann auch verwildern. Es kann durch eine enge, ängstliche, zwanghafte Erziehung verbildet werden. Es kann durch Druck und Zwang von Ängsten so überlagert werden, dass Skrupel, Zwangsvorstellungen an die Stelle des Gewissens treten. Es kann durch eine oberflächliche Lebensweise verflachen, wenn nur das Äußere gilt, wenn die Eltern und die Umwelt nur auf die Geltung, den Glanz, den Erfolg, das Ansehen schauen, dann kann beim Kind das Gewissen verflachen. Wenn das "in"-Sein wichtiger wird als diese innere Stimme, dann kann sie abstumpfen. In den ehemals kommunistischen Ländern ist die Verwüstung der seelischen Landschaft, wie man in den letzten zehn Jahren sehen konnte, viel tragischer als die wirtschaftliche Verwüstung. In unseren Nachbarländern galt fast sprichwortartig: "Stiehl, sonst wirst du bestohlen." Das ganze System war darauf aufgebaut, dass jeder gestohlen hat. Jeder hat versucht zu "organisieren", um sich so über Wasser zu halten. Diebstahl wurde zur Lebensgewohnheit einer ganzen Gesellschaft. Alles wurde gestohlen und fast jeder war genötigt zu stehlen. Und die Lüge, das ganze System war aufgebaut auf die Lüge. Um zu überleben lernte man von früh an zu lügen. Der Bezug zur Wahrheit wurde gründlich ge- oder gar zerstört. Welche Folgen das für das Zusammenleben der Menschen hat, das sah man erst richtig nach dem Zusammenbruch des Kommunismus. Es zerstört zutiefst die seelische Gesundheit der Menschen. Die kommunistische Gesellschaft hatte etwas trostlos Graues. Das kam zutiefst aus der Lüge, die wie ein dicker, dichter Schleier, Nebel über dem ganzen lag. Es wird wohl lange dauern, bis diese Länder sich wieder davon erholt haben. Die Erholung wird nicht von selber kommen, sondern nur durch den geduldigen Aufbau der schlichten Tugenden des menschlichen Lebens, die das kommunistische System untergraben hatte. Ich komme darauf gleich noch zurück bei der Frage der Gewissensbildung.

Aber werfen wir jetzt auch eine Blick auf unsere westliche Gesellschaft. Viele Jahre später nach dem Erlebnis mit dem Brett habe ich Psychologie studiert, nicht sehr lange aber doch. Der damals vorherrschende Trend in der Psychologie war, dass all das, was wir Gewissen nennen, sehr wenig Platz hatte in dem, was man uns in der Psychologie beigebracht hat. Vorherrschend war die Auffassung, dass der Mensch ein Bündel von Reaktionen und Reflexen ist, die man messen kann, die man mit Statistiken erfassen kann. Der Mensch ist eine Maschine, die man so oder so prägen, bestimmen, organisieren kann. Freiheit, Seele, Verantwortung, Gewissen, das kam kaum vor in dieser Psychologie. Die vorherrschende Auffassung war, der Mensch ist das Produkt seiner Umgebung, seiner Erziehung, seiner Einflüsse. Aber es gab dann auch eine andere Auffassung, die mit dieser ersten, materialistischen Auffassung sehr verwandt war. Man sah den Menschen mehr und mehr und immer ausschließlicher als ein Wesen, das sich selber bestimmt und sich selber das Gesetz gibt. Wer der Mensch ist, das bestimmt er selber, was er will und wer er ist, was für ihn gut ist und was für ihn wichtig ist, was er für gut oder für böse hält, das ist seine Sache. In dieser Sicht des Menschen ist das Gewissen das, was mir wichtig ist, was mir wichtig ist, was ich für wichtig halte, was ich für richtig halte, das, wonach ich mein Leben einrichten will.

In den letzten Jahrzehnten kam es deshalb verständlicherweise immer mehr zu einem Konflikt mit der Kirche zwischen dieser Auffassung und der Auffassung der Kirche. Wenn das Gewissen das ist, was ich bestimme, was mir persönlich das richtige scheint, dann gilt natürlich, jeder hat sein Gewissen und handelt nach seinem Gewissen. Manche mögen sich erinnern an den Konflikt der im Jahr 1968 ausbrach, als Papst Paul VI. die Enzyklika "Humanae Vitae" veröffentlicht hat, für viele ein großer Konflikt auch bis hin zu einem Gewissenskonflikt. Mehr und mehr sah es so aus, gerade in den Fragen der Lebensethik, damals in der Frage der Empfängnisverhütung, dass es zwischen der Lehre der Kirche und dem Gewissen des einzelnen einen Konflikt gibt, letztlich einen Graben, der nicht zu überwinden ist. "Gewissen gegen Lehramt" wurde zu einer gängigen Formel. Ich erinnere mich an viele heftige Diskussionen, wo gesagt wurde, die Kirche soll sich nicht in die Gewissensentscheidung der Gläubigen einmischen. Wie kommt ein anderer dazu, mir Vorschriften zu machen, wie ich mein Leben einzurichten habe? Wie kommt die Kirche dazu, allgemeine Vorschriften zu machen, die im Leben schwer verwirklichbar scheinen?

Was ist da das Gewissen? Ist das Gewissen meine Überzeugung? Ist das Gewissen nur meine Überzeugung? Ist es nur das, was mir jetzt gerade einleuchtet, was mir gewiss ist, jetzt? Oder ist das Gewissen eine Stimme, die gerade nicht von mir stammt, die zwar in mir spricht, aber nicht von mir stammt? Ich glaube, wir stehen heute vor der Frage, das Gewissen wieder tiefer zu verstehen. Vielleicht gelingt es uns auch, diesen Konflikt zwischen Kirche, Lehramt und Gewissen etwas tiefer zu sehen. Was ist das, wenn ich Gewissensbisse habe? Wenn mich mein Gewissen plagt, anklagt? Wer spricht da zu mir? Ich habe Gewissensbisse. Da ist doch jemand anderer, der zu mir spricht, oder eine andere Stimme, die mich anspricht, die mich auffordert: Tu das nicht!, oder die mir sagt: Du hättest das tun sollen, warum hast du es unterlassen? Was war damals die Angst im kindlichen Herzen wegen dem gestohlenen Brett? Dass ich etwas Schlechtes getan habe, dass es nicht richtig ist zu stehlen. Wie gut tat die Erleichterung, als ich das Brett wieder zurückgebracht hatte. Ich kann mich noch gut daran erinnern. Das Sprichwort sagt nicht zu unrecht: "Ein ruhiges Gewissen ist ein gutes Ruhekissen."

Ich glaube, hier stoßen wir auf etwas ganz Entscheidendes. Das Gewissen ist etwas ganz Persönliches, was nur ich höre, mein Gewissen. Und doch ist es nicht etwas bloß Individuelles. Es ist etwas, dass mich öffnet. Die Stimme des Gewissens ruft mich heraus aus meiner Verschlossenheit. Die Stimme des Gewissens stößt eine Tür auf zu den anderen, zur Wirklichkeit, macht mir etwas bewusst, das ich nicht gesehen habe, spricht mich an mit einer Wirklichkeit,die ich nicht wahrhaben wollte. Mein Gewissen sagt mir: Du darfst nicht stehlen, auch wenn es nur ein wertloses Brett ist. Aber wenn ich auf diese Stimme höre, dann weiß ich, in jedem Menschenherzen gibt es diese Stimme. Deshalb kann ich zu einem anderen sagen: Du sollst nicht stehlen! Ich kann ihm ins Gewissen reden, in sein Gewissen, weil ich weiß, dass auch sein Gewissen ihm sagt: Du sollst nicht stehlen!

IV.

Und nun das Wunderbare, Erstaunliche am Gewissen: Das Gewissen ist wie eine feine Antenne, wie ein ganz feines Sensorium um die Wirklichkeit wahrzunehmen, zu erkennen, was gut und richtig und wahr ist. Freilich unter einer Bedingung: dass das Gewissen gebildet ist, dass es geschult wird. Nur ein feinfühliges Gewissen ist ein feinfühliges Instrument. Ein versulztes, verfettetes, faules Gewissen nimmt auch nichts wahr. Aber ein feinfühliges Gewissen ist ein wunderbares Instrument, den anderen wahrzunehmen, offen zu sein für den Anruf, der mir vom anderen kommt. Deshalb ist es so entscheidend, dass wir das Gewissen bearbeiten, es schulen, verfeinern. Diese Arbeit dauert ein Leben lang. Es ist schon richtig zu sagen: Wir müssen unserem Gewissen folgen. Aber was für ein Gewissen ist das, dem ich folge? Ist es ein "Allerweltsgewissen" oder ist es ein entwickeltes Gewissen? Habe ich ein entwickeltes Gewissen oder begnüge ich mich mit dem oberflächlichen Beharren auf meinen bequemen Gewohnheiten?

Wenn wir sagen, ein Ereignis hat mich erschüttert, hat mein Gewissen erschüttert, hat mich richtig wachgerüttelt, dann kann das der Anfang einer tieferen Gewissensbildung sein. Wie geht das? Ich möchte vier Schritte oder vier Dimensionen der Gewissensbildung kurz nennen.

1. Ich muss überhaupt einsehen, dass mein Gewissen unterentwickelt ist. Wir sehen bei den Heiligen, wie fein ein Gewissen werden kann und wie viel es wahrnehmen kann, wenn es wirklich entwickelt ist. Ich muss bereit sein, mich zu bilden, mich bilden zu lassen. Ich muss bereit sein, mir ins Gewissen reden zu lassen. Wenn ich selbstzufrieden, selbstgewiss bin, dann wird mich kein Anruf an mein Gewissen erreichen. Aber wenn ich erschüttert bin durch einen Gewissensbiss oder durch ein dramatisches Ereignis in meinem Leben, dann kann der Wunsch aufbrechen, dass ich weitergehe und lerne. Es gibt keine bessere Schule als die unseres Herrn und Meisters, der uns gesagt hat: "Lernt von mir" (Mt 11,29). Jesus ist der Meister, wie wir auf die Stimme des Vaters hören lernen. Niemand hat so den Vater gehört wie Jesus, bis in die kleinste Regung seiner Seele, seines Herzens hinein alles vom Vater gehört. Die Schule des Gewissens ist daher für uns die Schule Jesu. Jesus öffnet uns das Ohr und das Auge. Wie wunderbar ist es, wenn man sich in die Gleichnisse Jesu hinein vertieft, wenn man sie auf sich wirken lässt, wie Jesus uns lehrt zu schauen, zu beobachten, wie alles zu einer Schule wird, um die Wirklichkeit wahrzunehmen. Die Gleichnisse Jesu sind eine wunderbare Gewissensschule. Schaut, was uns die Natur lehrt, das Senfkorn, das ein großer Baum wird, die Saat, die von selber wächst, alles, was Jesus über die Pflanzung, über den Weingarten, über den Weingärtner, was er über die Tiere, die Vögel des Himmels, was er über die Lilien des Feldes sagt und auch alles, was er aus dem Berufsleben der Menschen beobachtet, alles das ist Schule der Wahrnehmung der Wirklichkeit. Nur eine Wahrnehmung der Wirklichkeit kann auch ein feines Gewissen fördern. Umgekehrt, ein feinfühliges Gewissen macht klarsichtig zur Wahrnehmung der Wirklichkeit.

2. Mein Gewissen wird in dem Maß feinfühlig sein, wie mein Leben in Ordnung ist. Ich muss um Ordnung und Disziplin in meinem Leben kämpfen, damit dieses Organ des Gewissens funktionieren, wirken kann. Die einfachen Tugenden des Alltags machen uns feinfühlig, Rücksichtnahme, Aufmerksamkeit, Selbstüberwindung, Geduld, Diskretion, Demut – alles das entwickelt das Gewissen, macht es wach und wahrnehmungsfähig.

3. Wenn ich mein Gewissen will, mich nicht mit einem "Allerweltsgewissen" zufrieden gebe, dann werde ich Lehrer suchen, Menschen, die mir Vorbild sind, Menschen, die mir durch ihr Leben, durch ihr Wort und ihre Erfahrung Wegweisung geben können, "Lebemeister", die Heiligen. Oft sind es ganz einfache Menschen, die unsere besten Lehrmeister sind für ein feinfühliges Gewissen. Dazu gehört auch die Lehre der Kirche. Dieser Konflikt zwischen Gewissen und Lehre der Kirche löst sich in dem Maß, wie wir bereit sind, der Lehre der Kirche mit Vertrauen entgegenzugehen. Das heißt nicht, dass mir alles sofort und in jeder Hinsicht einsichtig ist. Aber ich muss zumindestens den Vertrauensvorschuss haben, dass ich etwas lernen kann. Vielleicht steckt in dieser oder jener Lehre der Kirche eine Weisheit, die ich noch nicht erfasst habe, aber ich will es zumindestens nicht ausschließen, dass sie mir einmal einleuchtet. Der Papst ist nicht der Herr über unser Gewissen, niemand ist der Herr über unser Gewissen, kein Mensch, nur Gott ist der Herr unseres Gewissens. Aber der Papst ist Herold des Gewissens, Bote des Gewissens. Manchmal hat man den Eindruck, dass die Außenstehenden, die Fernstehenden besser spüren, dass der Papst wirklich Herold des Gewissens ist in der ganzen Welt. Er hat dazu den besonderen Auftrag des Herrn und den besonderen Beistand des Heiligen Geistes, um unser Gewissen anzusprechen und ihm den Anspruch Gottes in Erinnerung zu rufen. Wenn ich nicht bereit bin, mich vom Wort Gottes anrufen zu lassen, dann werde ich wohl auch mir schwer tun, mich von der Lehre der Kirche ansprechen zu lassen. Dann besteht die Gefahr, dass ich meine Wünsche und meine Vorstellungen für mein Gewissen halte. Dann sind wir vielleicht wirklich bei der Täuschung, die manche Psychologen für das Gewissen halten, dass es nichts anderes ist, als die Vorstellungen und Wünsche, die eben in der Gesellschaft da sind.

4. Gott spricht zu uns, zu unserem Gewissen durch Ereignisse, durch Ereignisse in unserem Leben, in unserer Umgebung, in unserer Welt. Sicher war der 11. September 2001 ein solches Ereignis, das unser Gewissen wachrütteln soll. Was will Gott uns sagen? Was sagt er mir durch eine Krankheit, durch eine Prüfung? Was sagt er mir durch eine Schuld? Gestern bin ich der Autorin des Buches "Ich nannte sie Nadine. Rund um die Problematik vor und nach dem Schwangerschaftsabbruch" (Wien 2001), Karin Lamplmair, begegnet, eine junge Mutter, sie hat zwei Kinder und das dritte hat sie sich nehmen lassen durch eine Abtreibung. Nach diesem Ereignis ist sie in eine tiefe Depression verfallen. Sie hat einen Selbstmordversuch gemacht und auf einem langen und schwierigen Weg, auf einem gnadenvollen Weg, auf dem die kleine Theresia auch eine wichtige Rolle gespielt hat, ist sie zum Glauben gekommen und hat heraus gefunden aus ihrer Depression und aus ihrer Verzweiflung, dass sie sich ihr Kind, ihr drittes Kind hat nehmen, töten lassen. Sie hat es Nadine genannt. Sie hat begonnen, den Ärzten ins Gewissen zu reden, indem sie einfach ihre Geschichte erzählt hat. Sie hat das Tagebuch ihrer Erfahrung niedergeschrieben, viele haben darauf reagiert. Sie hat eine Fülle von Zeugnissen zusammengestellt. Gestern hatte ich die Freude sie kennen zu lernen und kann sie nur ermutigen auf diesem Weg. Was Karin erlebt hat, ist Gewissensbildung. Durch ein dramatisches Ereignis in ihrem Leben, eine schwere Schuld, die sie fast in die Verzweiflung und in den Selbstmord getrieben hätte, hat Gott sie zu einer Umkehr geführt. Zur Bildung des Gewissens gehört ganz entscheidend die Erfahrung der Gnade, denn was uns das Gewissen zeigt, das könnten wir nicht ertragen, wenn wir nicht der Barmherzigkeit Gottes begegnen. Wenn nur unser Gewissen uns anklagt, dann können wir das nicht ertragen. Vielleicht können viele Menschen deshalb die Stimme ihres Gewissens nicht zulassen, weil sie nicht wissen von der Gnade, weil sie nicht wissen, wie sehr Gott sie liebt. Erst wenn wir das erfahren, dann kann mein Gewissen mir wirklich alles sagen, dann kann ich es frei und offen sprechen lassen, denn ich weiß, dann ist nicht mehr nur mein Gewissen mein Richter, das mich verurteilt, sondern da ist einer, der mich anschaut und mich nicht verurteilt. Du, Herr, bist mein Richter, nicht mein Gewissen, das mich anklagt. "Selbst wenn unser Herz uns anklagt, Gott ist größer als unser Herz" (vgl. 1 Joh 3,3).

V.

Ich komme zum Ausgang zurück: Die Attentäter von New York glaubten, so handeln zu müssen. Sie sind ihrem Gewissen gefolgt. Muss man immer dem Gewissen folgen? Ich glaube, wir können jetzt sagen: Ja, man muss immer dem Gewissen folgen. Aber ich muss immer mit bedenken, mein Gewissen kann sich irren. Mein Gewissen kann nicht genügend erleuchtet sein, es kann fehlgeleitet sein. Zweitens muss ich wissen, ob ich wirklich nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt habe. Ich muss mich bilden, mich informieren, ich muss mir die Dinge sagen lassen. Drittens kann mir mein Gewissen eines nie sagen, etwas was gegen die Grundregeln der menschlichen Sittlichkeit verstößt. Wenn mir mein Gewissen sagt, dass ich Unschuldige umbringen muss, dann kann der Spruch meines Gewissens nicht richtig sein. Deshalb muss ich immer bei meinen Gewissenskonflikten fragen: 1. Handle ich nach der goldenen Regel, was ihr wollt, dass die andern euch tun, das müsst auch ihr ihnen tun? 2. muss ich immer bedenken, der Zweck heiligt nicht die Mittel und es ist nie erlaubt, Böses zu tun um Gutes zu erreichen. 3. Ich darf aus Gewissengründen mein Leben hingeben, ich darf nicht aus Gewissensgründen anderen Menschen, unschuldigen Menschen das Leben nehmen. Ich gehe jetzt hier nicht auf die Frage der Gewaltanwendung im Kriegsfall ein, das wäre ein eigenes Kapitel.

Zum Schluss. Das christliche Bild des Gewissenshelden ist nicht der Terrorist, sondern der Märtyrer. Thomas Morus, der große Kanzler Englands, hat in langem Ringen die Gewissensentscheidung getroffen, den Eid auf König Heinrich VIII. nicht abzulegen und hat dafür den Tod in Kauf genommen. Franz Jägerstätter ist seinem Gewissen gefolgt. Das sind unsere Vorbilder. Sie folgten ihrem Gewissen, das sie in langen Kämpfen, oft in der Dunkelheit des Glaubens, in einem intensiven Ringen geschult und gebildet hatten und das ihnen den richtigen Weg gezeigt hat.

(Kardinal Christoph Schönborn)