"Komm, Heiliger Geist, Geist der Wahrheit
und der Liebe, erleuchte unseren Verstand, stärke unseren Willen,
wohne ein unserem Gedächtnis, führe uns ein in alle Wahrheit, die da
ist Christus unser Herr. Amen."
Im dritten Kapitel des Kolosserbriefs
lesen wir, es ist die Lesung, die wir am Ostersonntag noch einmal
hören werden: "Ihr seid mit Christus auferweckt; darum strebt nach
dem, was im Himmel ist, wo Christus zur Rechten Gottes sitzt. Richtet
euren Sinn nicht auf das Irdische, sondern auf das Himmlische! Denn
ihr seid gestorben, und euer Leben ist mit Christus verborgen in Gott.
Wenn Christus, unser Leben, offenbar wird, dann werdet auch ihr mit
ihm offenbar werden in Herrlichkeit. Darum tötet, was irdisch ist an
euch ab: die Unzucht, die Schamlosigkeit, die Leidenschaft, die bösen
Begierden und die Habsucht, die ein Götzendienst ist. All das zieht
den Zorn Gottes nach sich. Früher seid auch ihr darin gefangen gewesen
und habt euer Leben davon beherrschen lassen. Jetzt aber sollt ihr das
alles ablegen: Zorn, Wut und Bosheit; auch Lästerungen und Zoten
sollen nicht über eure Lippen kommen. Belügt einander nicht; denn ihr
habt den alten Menschen mit seinen Taten abgelegt und seid zu einem
neuen Menschen geworden, der nach dem Bild seines Schöpfers erneuert
wird, um ihn zu erkennen. [...] Ihr seid von Gott geliebt, seid seine
auserwählten Heiligen. Darum bekleidet euch mit aufrichtigem Erbarmen,
mit Güte, Demut, Milde, Geduld! Ertragt euch gegenseitig, und vergebt
einander, wenn einer dem andern etwas vorzuwerfen hat [...] Vor allem
aber liebt einander, denn die Liebe ist das Band, das alles
zusammenhält und vollkommen macht" (Kol 3,1-14*).
I.
Heute soll von den Tugenden die Rede sein.
Eben haben wir von einigen dieser Tugenden gehört, in der Ermahnung
des Paulus, die darauf basiert, dass wir neue Menschen geworden sind
durch die Taufe, dass wir, wie Paulus anderswo sagt, Christus
angezogen haben in der Taufe (Gal 3,27). Es ist also von einem neuen
Leben die Rede, von einem grundlegend verwandelten Leben. Aber
gleichzeitig ist die Rede von ganz schlichten Tugenden, von Geduld,
Demut, Güte, Barmherzigkeit. Ich möchte heute die Frage stellen, was
es überhaupt auf sich hat mit den Tugenden, mit den menschlichen
Tugenden, den natürlichen und dann speziell mit den christlichen, und
wie sich diese beiden zueinander verhalten.
Aber beginnen wir bei dem, was letztes Mal
der Schlusspunkt war, bei den Leidenschaften. Von ihrer
Bedrohlichkeit, ihrer Macht aber auch von ihrer positiven Kraft war
die Rede. Die Leidenschaften sind eine mächtige Kraft in unserem
Leben, aber sie bedürfen, wie die Rosse hier bei den Fiakern, des
Wagenlenkers, der Zügelung. Ungezügelt können sie zerstörerisch wüten,
können unbändig und unmenschlich werden. Wer hemmungslos ist,
ungezügelt im Konsum, im Essen und Trinken, im Verlangen nach
sexueller Lust, im Streben nach Anerkennung, nach Ehre, Macht, Erfolg,
dem fehlt etwas entscheidend Menschliches. Wir empfinden es nicht als
ein geglücktes Menschsein, wenn jemand zügellos ist. Wer vor jedem
Widerstand ängstlich zurückschreckt, sich gleich anpasst, auch dem
fehlt etwas zum vollen, ganzen guten Menschsein. Wer leicht ausrastet
und in Zorn gerät, hemmungslos herumbrüllt, dem fehlt etwas vom guten
und ganzen Menschsein. Wer sich von den Leidenschaften treiben und
davonreißen lässt, den nennen wir lasterhaft. Jähzorn ist ein Laster,
Stolz ist ein Laster aber auch das chronische Bedürfnis nach
Anerkennung und Lob ist ein Laster. Verschwendungssucht ist ebenso ein
Laster wie die Kargheit des Geizes. Was sind die Laster, über die ich
heute nicht ausdrücklich und ausführlich sprechen möchte? Nur kurz,
sie sind schlechte Gewohnheiten, die so etwas wie Fahrrinnen auf einem
Waldweg sein können, die sich so tief eingraben können, dass man mit
dem Wagen kaum mehr aus diesen Spurrinnen herauskommt. Laster sind
gewissermaßen Spurrinnen, die uns auf dem falschen Weg festhalten,
Fehlprägungen, denen die guten Gewohnheiten gegenüberstehen, die wir
Tugenden nennen.
Nun ist das Wort "Tugend" heute nicht sehr
in Mode, es ist gelegentlich sogar bespöttelt und belächelt. Und doch,
wenn wir weit zurückschauen in der abendländischen Geschichte bis zu
den vorchristlichen Philosophen, mit welcher Begeisterung sie von den
Tugenden sprechen, wie sie das Bild eines erfüllten, glücklichen
Lebens zeichnen, das von den Tugenden geprägt ist, dann beeindruckt
uns das doch auch heute noch, wie ein Platon, ein Aristoteles, die
heidnischen Philosophen das Leben eines Menschen zeichnen, der sich zu
beherrschen weiß, der seine Leidenschaften meistern kann, der in sich
selber gerade und geordnet ist und das nicht nur im Moment sondern auf
Dauer. Was also den Menschen so gerade macht, nicht nur im Augenblick
sondern auf Dauer, was ihn gut macht, das nennen wir die Tugenden. Von
denen soll heute die Rede sein, zuerst einmal von den einfachen
menschlichen Tugenden und dann, in einem zweiten Schritt, die Frage:
Wie steht es aber mit den christlichen Tugenden? Sind sie einfach
dasselbe? Sind sie etwas anderes? Wie verhalten sie sich zueinander?
II.
Die vielleicht einfachste Definition von
Tugend, die mir bekannt ist, habe ich beim hl. Thomas von Aquin
gelesen, der wohl einer der größten Meister, vielleicht der größte
Meister im Nachdenken über die Tugenden war, der einen Großteil seines
gewaltigen Werks der genauen Analyse, der genauen Beobachtung und
Sichtung dieser menschlichen Grundhaltungen gewidmet hat, die wir die
Tugenden nennen. Er sagt ganz einfach: "Tugend ist das, was den
Menschen, der sie hat, gut macht." Lateinisch klingt es noch knapper:
"... quæ bonum facit habentem". Die Tugend macht den, der sie hat,
gut. Ein guter Mensch, das ist nicht jemand, der da und dort einmal
eine gute Tat tut, sich da und dort einmal anständig benimmt, sondern
der gut ist. Kann das ein Mensch sein? Können wir gut sein? Nun, die
alten heidnischen Meister waren überzeugt, dass es die Möglichkeit
gibt, dass uns durch die Tugenden gewisse Haltungen in Fleisch und
Blut übergehen, so uns zu eigen werden, dass sie uns wirklich gut
machen. Aber sehen wir uns das etwas näher an.
Wenn wir bei den alten, vorchristlichen
Meistern schauen, dann zeigen sie uns, dass die Tugenden ein sehr
weites Feld sind. Da gibt es die sittlichen Tugenden, die
Verstandestugenden aber auch die praktischen Tugenden, sozusagen die
handlichen Tugenden, die "Tüchtigkeiten". Aristoteles greift da gerne
auf das Bild des Handwerkers zurück. Der Tischler, der sein Handwerk
gelernt hat, zuerst als Lehrling, dann als Geselle, schließlich es zur
Meisterschaft, zum Meister gebracht hat, der kann sein Handwerk, er
hat es intus, er hat es so in sich, dass es ihm in Fleisch und Blut
übergegangen ist. Der Bäcker, der sein Handwerk kennt, hat aus langer
Erfahrung Wissen und Können angesammelt und eben die Erfahrung, die
erst den Meister macht. Jeder von diesen ist Meister in seinem Fach.
Es ist ihnen in Fleisch und Blut übergegangen, so sehr, dass ihnen die
Arbeit leicht von der Hand geht. Wenn man einen Nichtbäcker an einen
Backtrog stellt, wird wahrscheinlich nur Schweiß und kein gutes Brot
hervorkommen. Und einen Nichttischler an die Werkbank zu stellen, auch
das wird nicht ein Meisterwerk hervorbringen. Aber dem, der sein
Handwerk gelernt hat, dem geht die Arbeit ganz natürlich von der Hand.
Sie ist ihm gewissermaßen zur zweiten Natur geworden. Und, etwas ganz
Wichtiges: Trotz aller Mühe, die mit der Arbeit verbunden ist, macht
dem, der sie kann, die Arbeit auch Freude. Es befriedigt den
Handwerker, wenn das Werkstück fertig ist, wenn es gut und ordentlich
da steht. Ich erinnere mich an einen Steinmetz, mit dem ich in einer
Kirche einen gotischen Grabstein angeschaut habe, einen
feinziselierten gotischen Grabstein. Dieser Handwerker, dieser
Steinmetz blieb vor dem Grabstein stehen voller Bewunderung, viel mehr
als ich es konnte. Denn er wusste aus seinem Können, aus seiner
Erfahrung, was dieser Meister dieses mittelalterlichen Grabsteins
konnte.
"Übung macht den Meister." Wenn jemand
eine Fertigkeit erworben hat, eine solche Tüchtigkeit, in welchem
Bereich auch immer, langes Nichtausüben einer solchen Fertigkeit lässt
diese rosten und vielleicht sogar verkümmern. Das gilt auch für
Sprachen, die man einmal gelernt hat. Wenn man sie nicht praktiziert,
rosten sie. Das gilt für ein Musikinstrument, das man zu spielen
gelernt hat und jahrelang nicht übt. So verkümmern die Tüchtigkeiten.
Und noch etwas, ein solches Können, ob das im Handwerklichen, im
Technischen, im Künstlerischen ist, denken wir an die Piloten, wie
viel Übung, wie viel ständiges Arbeiten an dem Können, an dem Wissen,
an der Erfahrung ist da nötig. Ein solches Können macht den, der es
erworben hat, auch gewissermaßen geneigt zum Handeln. Wer gut Klavier
spielen kann, setzt sich auch gerne ans Klavier, vielleicht um andern
Eindruck zu machen, aber auch einfach um selber die Freude des Klavier
Spielens zu erleben.
Wenn wir das zusammenfassen, Tugend,
Tüchtigkeit, das ist eine Fertigkeit, die man durch Übung erwirbt, die
ein gewisses Können bedeutet, das einem zu eigen, gewissermaßen zur
zweiten Natur geworden ist und das einen fähig macht zu einem
bestimmten Handeln, nicht nur fähig sondern auch geneigt. Man hat
Freude daran. Der hl. Thomas sagt sogar, es ist lustvoll, es macht
Lust und Freude, etwas was man kann, was man erworben hat, was einem
zu eigen geworden ist auch auszuüben. Aber wir wissen auch, alles
dieses Können, von dem bis jetzt die Rede war, im künstlerischen,
technischen, handwerklichen Bereich, alles das macht noch nicht einen
guten Menschen, vielleicht einen guten Bäcker, einen guten Piloten,
einen guten Computerfachmann, aber das allein macht noch nicht einen
guten Menschen.
III.
Zum gelungenen Menschsein gehört noch
etwas anderes. Dazu gehört auch Schulung, Entwicklung, Gestaltung,
aber nicht nur einer Fähigkeit sondern des ganzen Menschen, der
Persönlichkeit, der sittlichen und menschlichen Qualitäten. Genau das
ist das Werk der Tugenden. Das sollen die Tugenden im Menschen
erreichen, dass man wirklich ein abgerundeter, ein ganzer, ein
geglückter Mensch wird. Wie geschieht das? Wie ordnen wir unser Leben?
Wie wird man ein guter Mensch?
Man kann fragen: Ist denn der Mensch nicht
von Natur aus gut? Gott hat ihn doch gut geschaffen. Kann man nicht
Kinder einfach wachsen lassen, ungestört und frei sich entfalten
lassen? Es gibt hier zwei Sichtweisen, die in den letzten Jahrzehnten
oft gegeneinander ausgespielt wurden, was auch ganz praktische
Konsequenzen hat. Freilich wurden beide, so scheint es mir, auch vom
Leben widerlegt.
1. Die "antiautoritäre Erziehung", die in
den Sechziger- und Siebzigerjahren ihre Blüten getrieben hat, ging
davon aus: Der Mensch ist von Natur gut, man braucht ihn nur wachsen
zu lassen, dann wird er schon gut werden. Alles, was ihn stutzt, was
ihn eingrenzt, alles, was autoritär ihn an seiner Entwicklung hindert,
was wie Zwang, wie Druck aussieht, das muss man vermeiden, damit das
Kind sich frei entfalten kann. Ich vermute, die vielen Eltern, die
hier anwesend sind, wissen, dass das Resultat einer solchen
Erziehungsmethode oder Nichterziehung katastrophal ist. Denn
offensichtlich brauchen Kinder nicht autoritäre Erziehung, aber
Autorität, Formung. Nicht nur die Kinder, auch wir Erwachsenen
brauchen Grenzziehungen, Widerstand gegen unsere schlechten Neigungen,
aber auch, und das ist sicher ein Grundfehler in der antiautoritären
Erziehung, das ernst-genommen-Werden in dem Ringen um den eigenen Weg,
der sich mit anderen Wegen, mit anderen Freiheiten auseinander setzen
muss, der auch Grenzen erfahren muss, an denen man wachsen kann. Eine
solche Nichterziehung, wie sie die Antiautoritäre Erziehung war, nimmt
im Grunde das Kind nicht ernst. Es reicht sicher nicht, dass mich
Eltern und Erzieher einfach meinen Trieben und Gefühlen überlassen,
meiner Lust und Laune. Das kann nicht gutgehen.
2. Aber es gibt auch einen zweiten Weg.
Die antiautoritäre Erziehung hat vielfach gegen diesen Weg reagiert,
eine autoritäre Erziehung, die die Erziehung zur Tugend vor allem als
eine "Dressur" verstand. Ich kann mich erinnern an eine Äußerung von
einem Vater, der sagte: "Bis sechzehn muss man sie dressieren." Ich
weiß nicht, ob das die richtige Sicht ist und ob nicht die
antiautoritäre Erziehung eine Reaktion auf eine solche Sicht von
Erziehung war, wo es darum zu gehen schien, den Kindern die rechten
Verhaltensweisen einzubläuen, sozusagen die richtigen Reflexe
beizubringen, so wie jener berühmte Hund des sowjetischen Psychologen
Pawlow, dem man immer vor dem Füttern eine Glocke geläutet hat. Dann
hat man festgestellt, wenn die Glocke ohne Futter läutet, läuft ihm
auch der Saft im Mund zusammen – "pawlowsche Reflexe", sogenannte
andressierte, anerzogene Reflexe. Sind Tugenden anerzogene Reflexe?
Sind das Verhaltensweisen, die man uns eingebläut hat, gewisse
Vorstellungen von Anständigkeit, die man uns beigebracht hat? Das wäre
sicher eine Karikatur.
Gewiss, Tugenden entstehen durch
Wiederholung, durch wiederholtes Tun des Richtigen und des Guten. Wenn
die Eltern sagen: "Halt dich gerad!", und das immer wieder sagen und
immer wieder sagen, dann geht einem das in Fleisch und Blut über. Man
erinnert sich daran. Daran liegt natürlich auch ein gewisser
Gewöhnungseffekt. Es gibt ja gute Gewohnheiten, die sich anzugewöhnen
auch durch äußeren Drill zumindestens nicht schlecht ist. Leider
entstehen auch Laster durch Gewöhnungseffekte. Wenn man nicht dagegen
ankämpft, dann werden sie zu Gewohnheiten, eben zu schlechten
Gewohnheiten. Die Gewohnheit des Tratschens oder gar des Vernaderns
kann eben auch ein Laster werden, eine üble Gewohnheit. – Ob das
Rauchen eine solche ist, möchte ich jetzt hier nicht beurteilen als
ehemaliger Raucher. – Das Laster des Zornes nistet sich ein durch
wiederholtes Nichtbekämpfen des Zorns und seines Aufwallens. Freilich
besteht zwischen Lastern und Tugenden ein ganz wesentlicher
Unterschied. Sie sind nicht einfach auf der selben Ebene, gute und
schlechte Verhaltensweisen, die man sich so oder so "andressiert"
hätte. Es gibt einen ganz wesentlichen Unterschied: Laster sind ein
Abbau der Menschlichkeit. Tugenden sind ein Aufbau der Menschlichkeit.
Laster entstehen nicht durch mühsames Üben, sondern durch ständiges
Gehenlassen. Tugenden entstehen durch oft mühsames, geduldiges
Aufbauen, während Laster durch sich-gehen-Lassen und Abbauen
entstehen. Tugenden wachsen, wenn sie gepflegt werden, wenn sie
bearbeitet werden, wenn sie ständig gehegt werden. Laster wachsen
durch Vernachlässigung wie Unkraut in einem verwilderten Garten.
Die geduldige, zähe, ständige Arbeit an
den Tugenden hat natürlich eine gewisse Ähnlichkeit mit Dressur, doch
ist sie alles andere als nur ein äußeres sich Angewöhnen. Sicher, wenn
man uns als Kinder beigebracht hat: "Sag Danke!", hundertmal
wiederholt: "Sag Danke!", dann ist das auch ein Gewöhnungseffekt. Wenn
man uns beigebracht hat, aufzustehen um einem älteren Menschen Platz
zu machen, zu grüßen, Höflichkeitsformen, alle diese äußeren Formen
sind Stützen. Wir brauchen auch solche äußeren Stützen, weil wir
Menschen aus Fleisch und Blut sind. Anerzogene gute Gewohnheiten sind
wie ein Skelett, das trägt, eine große Hilfe für das Zusammenleben. Es
ist einfach sehr viel angenehmer, wenn wir einander höflich begegnen,
als wenn wir immer unseren Launen freien Lauf lassen. Aber das sind
noch keine Tugenden, das sind gute Gewohnheiten.
IV.
Tugend ist mehr als gute Gewohnheit.
Tugenden sind der innere Aufbau der Person. Sie sind nicht etwas
"Aufgesetztes", etwas Übergestülptes, sondern sie sind innere
Gestaltungskräfte der Person, nicht ein äußeres Korsett, das man mir
oder ich mir auferlegt habe oder angelegt habe, nicht ein äußerer
Zwang, den ich manchmal auch brauche. Die Tugenden sind vielmehr
innere Prägungen, nicht nur unseres äußeren Verhaltens sondern unseres
Seins. Sie machen uns gut. Hier gilt es, etwas ganz Wichtiges zu
beobachten. Tugenden sind kein umgeschnürtes Korsett, kein
Zwangsverhalten. Aber sie sind auch nicht einfach fertig. Sie sind
nicht einfach da. Sie prägen sich nicht von selber aus, so wie der
menschliche Körper, auch nicht von selber, aber doch nach seiner
Eigengesetzlichkeit, wächst. Die Tugenden bedürfen der Pflege. Aber
sie sind grundgelegt in uns. Sie sind gewissermaßen keimhaft in jedem
Menschen da, als Anlage, die es zu entfalten gilt, oft durch Mühe,
durch Überwindung, durch manchen Schweiß. Aber wenn sie sich
entfalten, dann ist es wie ein Aufblühen. Dann wird unser Menschsein,
wir dürfen es so sagen, ein schönes Menschsein, ein wohltuendes.
Ich nehme ein Beispiel. Schon kleine
Kinder haben, ich glaube mich selber daran erinnern zu können, ein
sehr genaues Gespür für Gerechtigkeit. Sie reagieren sehr empfindlich,
zum Beispiel, auf eine ungerechte Strafe. Ich kann mich sehr gut
erinnern an eine Strafe, eine sehr schwere Strafe, die ich als gerecht
empfunden habe und die auch gerecht war, die ich wirklich verdient
habe. Aber ich erinnere mich auch an Strafen, die ungerecht waren.
Kinder haben hier ein sehr feines Gespür für Unrecht und Recht. Das
hat man ihnen nicht andressiert. Das ist in uns da, keimhaft. Die
Tugend der Gerechtigkeit entsteht durch Pflege dieses Gespürs für
Gerechtigkeit. Tugenderziehung heißt deshalb immer: Entfalten dieser
Keime, die in uns da sind. Das ist nun das Entscheidende beim Wachstum
der Tugenden: Erziehung zur Tugend ist immer Erziehung zur
Selbsterziehung. Es kann nicht nur von außen kommen. Zum Beispiel,
noch einmal dieses Empfinden für Gerechtigkeit, um dieses Empfinden zu
entfalten zur Tugend der Gerechtigkeit muss es dazu kommen, auch schon
beim Kind, dass es selber auch gerecht ist und nicht nur empfindlich
reagiert, wenn im Unrecht widerfährt, dass es selber lernt, dass das
Tun des Gerechten eben notwendig ist, richtig ist. Das kann bedeuten,
das bedeutet meistens auch einen Kampf mit sich selber, eine
Überwindung, denn es gibt in uns wohl die Anlage zur Tugend, aber es
gibt auch die Neigung zum Bösen. Deshalb kann sich dieser Keim nicht
ohne Mühen und Kämpfe entfalten. Eine Erziehung, die auf diesen Kampf
verzichten will, wie die antiautoritäre Erziehung es versucht hat,
kann nicht gelingen, wie wir auch keinerlei Fertigkeiten,
Tüchtigkeiten erlernen können ohne Disziplin. Unsere Sportler, die
jetzt Medaillen geerntet haben, haben sehr viel Selbstbeherrschung,
Selbstüberwindung, Disziplin gebraucht, um ihr Können aufzubauen, um
sich fit zu machen für diese großen Leistungen.
Noch etwas Wichtiges. Wo dieser Aufbau
gelingt, wo diese Keime der Tugenden sich entfalten, werden sie zu
aktiven Quellen eines guten menschlichen Handelns. Im Katechismus
steht eine sehr schöne Definition der Tugend, die ich zu der des hl.
Thomas hinzufügen möchte: "Die Tugend ist die beständige, feste
Neigung, das Gute zu tun" – eine Neigung, eine beständige, feste
Neigung, das Gute zu tun (KKK 1803). Tugend heißt deshalb, dass es
nicht jedesmal einer neuen, schweren Entscheidung bedarf, etwas Gutes
zu wählen und zu tun, sondern Tugend macht, dass das Tun des Guten mir
zur Neigung wird, eine feste, beständige Neigung hin zu diesem guten
Tun. Das wird besonders deutlich in dramatischen Situationen. Wenn ich
gar nicht die Zeit habe zu überlegen: Wie muss ich jetzt handeln?,
wenn ich nicht jemanden um Rat fragen kann, wenn es schnell zu handeln
gilt, dann zeigt sich in solchen Momenten, ob ich die feste,
beständige Neigung habe, dass Gute zu tun. Dann kommt das Gute aus mir
heraus wie aus einer Quelle, nicht über den Verstand sondern sozusagen
aus dem Herzen, ganz spontan und treffsicher.
Alexander Solschenitzin hat im Archipel
Gulag, diesem monumentalen Werk über die sowjetischen Lager – er war
selber jahrelang in einem solchen Lager – am Schluss dieses riesigen
Werkes die Frage gestellt: Warum bin ich auf der Seite gewesen und
nicht auf der anderen? Warum bin ich nicht ein KGBist, ein
Geheimdienstler, ein Unterdrücker geworden? Warum bin ich den Weg ins
Lager gegangen? In einer sehr eindrucksvollen Weise analysiert er, wie
es eigentlich dazu gekommen ist. Er sagt: Es waren immer wieder kleine
Weggabelungen, unmerklich in den Momenten, in denen er fast unbewusst
das Gute gewählt hat und nicht das Böse, ohne sich der Tragweite
dieser kleinen Entscheidungen bewusst zu sein. Diese Neigung zum
Guten, die wir Tugend nennen – er meinte, vielleicht kam sie auch
einfach von seiner Erziehung, von seiner Großmutter, wo immer her –
ließ ihn in den schwierigen, dramatischen Momenten seines Lebens der
Versuchung widerstehen und das Gute wählen. Viele unserer
Entscheidungen fallen nicht durch bewusste Entschlüsse, sondern aus
einem gewissen Instinkt heraus. Wenn wir diese feste, dauerhafte
Neigung zum Guten haben, die wir Tugend nennen, dann wird spontan auch
unser Entscheiden fast natürlich von innen heraus in die richtige
Richtung gehen.
Zum Abschluss dieses – zu langen – ersten
Teils zwei zusätzliche Beobachtungen. Wer Tugend erworben hat, hat
sozusagen ein natürliches Gespür für das Gute. Der hl. Thomas
gebraucht gerne ein Beispiel. Er sagt, ein Richter kann alle
Gesetzestexte perfekt kennen, kann studiert haben über die Fragen der
Gerechtigkeit, aber er kann persönlich ein sehr ungerechter Mensch
sein. Vielleicht kommt er sogar auf theoretischem Weg zu einem
gerechten Urteil in seinem Arbeiten als Richter, aber er selber ist
deswegen noch nicht ein gerechter Mensch. Dem stellt der hl. Thomas
einen ganz einfachen Menschen gegenüber, der nicht studiert hat, der
sich nicht auskennt in der Gesetzesflut, der keine Moralphilosophie
studiert hat, aber der ein ausgeprägtes inneres Gespür für
Gerechtigkeit hat und der durch langes Tun des Guten und des Gerechten
einen starken Spürsinn, eben jene Neigung zum Guten entwickelt hat,
die wir Tugend nennen. Nun sagt der hl. Thomas, ein solcher Mensch
kann gegebenenfalls gerechter urteilen als der Fachmann, weil er das
Gespür dafür hat. Sein Urteil kann treffsicherer sein als das des
Fachmanns, weil er selber gerecht ist durch die Tugend der
Gerechtigkeit.
Ein zweites gilt es dazu zu beobachten. Im
Katechismus heißt es: Die Tugenden "verleihen dem Menschen
Leichtigkeit, Sicherheit und Freude zur Führung eines sittlich guten
Lebens" – Leichtigkeit, Sicherheit und Freude (KKK 1804). So wie man
bei einem guten Handwerker, der sein Handwerk meisterhaft versteht,
den Eindruck der Leichtigkeit hat, der Sicherheit und auch der Freude,
so ist es beim tugendhaften Menschen. Wenn die sittliche
Persönlichkeit aufgebaut ist, dann tut man das Gute nicht mit Ächzen
und Stöhnen, mit ständig verbissener Selbstüberwindung, sondern mit
Leichtigkeit und Freude. Bei großen Künstlern hat man diesen Eindruck,
ich denke an einen Film über Yehudi Menuhin, den großen Geiger. Er hat
daran erinnert, wie schwer seine Kindheit war, wie er Tag für Tag üben
musste, draußen die Kinder spielen hörte und sah. Er musste üben. Aber
dann ist sein Spiel geflossen aus einer strömenden, strahlenden
Leichtigkeit, die eben das Kennzeichen der Tugend ist.
V.
Nun bleibt mir nicht mehr viel Zeit zu der
zweiten Frage: Was hat das eigentlich alles mit christlicher Tugend zu
tun? Das gilt doch für jeden Menschen. Das stimmt, auch die
heidnischen Philosophen, auch andere Kulturen und Religionen kennen
diesen Blick auf die Tugenden, die den Menschen erst richtig zum
Menschen machen. Was ist das besondere der christlichen Tugend? Wir
glauben in unserem christlichen Glauben, dass der Mensch nicht nur die
natürlichen Keime der Tugenden hat, sondern dass uns in der Taufe auch
die Keime der göttlichen Tugenden geschenkt wurden, dass in uns nicht
nur die natürlichen Tugenden gewissermaßen schlummern und auf
Entfaltung warten, sondern auch das göttliche Leben selbst, die
göttlichen Tugenden, Glaube, Hoffnung, Liebe. Wir glauben, dass uns in
der Taufe und dann immer wieder durch die Sakramente das göttliche
Leben wie ein Keim eingesenkt wurde und dass dieser Keim sich
entfalten will und uns wirklich verwandeln. Ist einer in Christus,
dann ist er eine neue Schöpfung (2 Kor 5,17).
Eine kleine Brücke, eine kleine Hilfe um
das deutlicher zu sehen: Die Kirchenväter sagen, der Mensch ist nach
dem Bild Gottes geschaffen, jeder Mensch. Das ist die Würde des
Menschen, selbst bei den größten Lastern, selbst bei den schlimmsten
Verbrechen bleibt dem Menschen die Würde, die unverlierbare Würde,
Bild Gottes zu sein. Aber in der Genesis heißt es auch, Gott habe den
Menschen "nach seinem Bild ihm ähnlich" geschaffen (Gen 1,26). Nun
sagen die Kirchenväter ja, wir sind alle nach dem Bild Gottes
geschaffen und wir sind alle dazu berufen, Gott ähnlich zu werden.
Erst in dem Maß, wie dieses Bild sich entfaltet, Gott immer mehr
anverwandelt wird, desto ähnlicher werden wir Gott, desto mehr
verwirklicht sich tatsächlich das Bild Gottes in uns.
Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei machen
uns Gott ähnlich. Ganz kurz ein Wort dazu, ich werde versuchen, Sie
nächstes Jahr, so Sie noch Geduld dazu haben, ausdrücklicher zu
behandeln, die drei göttlichen und die vier Kardinaltugenden,
Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maßhaltung. Jetzt nur ein kurzes
abschließendes Wort. Die göttlichen Tugenden, sagt uns der Glauben,
die Glaubenslehre der Kirche, sind ein Geschenk, sind eine Gnade. Ich
kann sie nicht erwerben. Ich kann sie nur, wenn ich sie geschenkt
bekommen habe, pflegen und entfalten. Die Eltern wissen, sie können
den Glauben vorleben, sie können ihn erklären, sie können versuchen,
ihn weiterzugeben, aber sie können ihn nicht machen. Er bleibt auch in
den eigenen Kindern Geschenk. Dennoch nennen wir sie Tugenden, weil
sie uns eigen werden. Ich glaube, ich hoffe, ich liebe. Gott schenkt
sie uns so, dass sie wie die natürlichen Tugenden sozusagen eine
Quelle in uns werden, aber nicht nur zum menschlichen sittlichen
Handeln, sondern zu einem Leben, das mit Gott in Verbindung ist, das
an Gott teilhat. Paulus sagt: "Christus wohne durch den Glauben in
euren Herzen" (Eph 3,17). Heute möchte ich abschließend auf zwei
Besonderheiten dieser göttlichen Tugenden hinweisen.
1. Der Katechismus sagt: "Die menschlichen
Tugenden wurzeln in den göttlichen Tugenden" (KKK 1812). Ist es nicht
genau umgekehrt? Brauchen nicht die göttlichen Tugenden eine gute,
solide, menschliche Grundlage? Die christliche Lebenserfahrung zeigt,
dass beides zutrifft. Wir brauchen, um ein christliches Leben zu
leben, eine gute menschliche Grundlage. Aber umgekehrt zeigt das
christliche Leben, dass durch den Glauben, die Hoffnung und die Liebe
auch die menschlichen Qualitäten sich entfalten. Das werde ich
nächstes Mal thematisieren mit den Gaben des Heiligen Geistes, wie
Glaube, Hoffnung und Liebe uns auch im Menschlichen fester verwurzeln
und stärken. Der Glaube stärkt die Vernunft, macht uns hellsichtig,
klarsichtig. Die Hoffnung gibt uns die Kraft, die göttliche Kraft des
Durchstehens von Widrigkeiten.
2. Am schönsten ist die Liebe, die das
Band der Vollkommenheit ist, wie Paulus sagt (Kol 3,14). Am
deutlichsten sieht man es im Leben der Heiligen, die gerade durch die
göttlichen Tugenden sich in ihrem Menschsein erst richtig entfaltet
haben. Das ist am deutlichsten bei der Liebe selbst. Der hl. Thomas
sagt: Es gibt überhaupt keine Tugend ohne Liebe. Eine Klugheit ohne
Liebe ist vielleicht Schlauheit. Eine Gerechtigkeit ohne Liebe droht
unbarmherzig zu werden. Die Liebe ist das Vollmaß aller auch
menschlichen Tugenden. Was wäre alle unsere Gerechtigkeit, Tapferkeit,
unser Maßhalten ohne die Liebe! Deshalb sagt der hl. Thomas, die Liebe
ist die Form aller Tugenden. Sie macht die Tugenden erst richtig zu
Tugenden; oder der hl. Paulus, wir haben es vorhin gehört, sagt: "Sie
macht alles vollkommen" (Kol 3,14).
(Kardinal Christoph Schönborn) |