Herr, Jesus Christus, am Osterabend tratst
du in die Mitte deiner Jünger und sprachst den Friedensgruß. So bitten
wir dich: Du Sieger über Sünde und Tod, schau nicht auf unsere Sünden,
sondern auf den Glauben deiner Kirche und schenke ihr nach deinem
Willen Einheit und Frieden, der du lebst und herrschest in Ewigkeit.
Amen.
I.
Das Thema der heutigen Katechese ist die
Sünde. Wenn wir die Grundlagen des sittlichen Handelns besprechen,
können wir nicht umhin, auch von dieser Wirklichkeit zu sprechen, die
uns so oft dem Namen und auch der Wirklichkeit nach begegnet. Wenn
jemand, der unsere liturgische Sprache nicht gewohnt ist, in einen
Gottesdienst kommt, mag ihm auffallen, wie oft von der Sünde die Rede
ist: vom Beginn des Gottesdienstes bis zum Schluss, vom
Sündenbekenntnis angefangen, wenn wir sagen "Ich bekenne ... dass ich
gesündigt habe ... durch meine große Schuld", bis hin zu dem Gebet vor
dem Friedensgruß, das ich eben jetzt in der Osterfassung gebetet habe:
"Schau nicht auf unsere Sünden sondern auf den Glauben deiner Kirche."
Zwischen diesen Texten am Anfang und am Ende des eucharistischen
Gottesdienstes kommen viele Stellen vor, wo immer wieder von der Sünde
die Rede ist. Selbst im Gloria, in diesem Lobpreis auf die
Herrlichkeit Gottes, ist die Rede von dem Lamm Gottes, das die Sünde
der Welt hinweg nimmt. Und dieses Wort vom Lamm Gottes kommt noch
mindestens zweimal im Gottesdienst vor, im Agnus Dei, dem dreimaligen
"Lamm Gottes, das du hinwegnimmst die Sünde der Welt, erbarme dich
unser – gib uns deinen Frieden", und schließlich bei der Einladung zur
Kommunion: "Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt
hinwegnimmt."
Aber auch in den stillen Gebeten, die der
Priester für sich alleine spricht, kommt das Thema Sünde immer wieder
vor. Ich nenne nur drei Beispiele, die wir meist nicht hören, weil der
Priester sie leise spricht. Etwa, wenn er nach dem Evangelium sagt:
"Per Evangelica dicta deleantur nostra delicta" – "Herr, durch dein
Evangelium nimm hinweg unsere Sünden"; oder wenn er bei der
Händewaschung sagt: "Herr, wasche ab meine Schuld und von meinen
Sünden mache mich rein" (Ps 51,4); oder wenn er vor der Kommunion für
sich und für alle Gläubigen, die die Kommunion empfangen, still betet:
"Erlöse mich durch deinen Leib und dein Blut von allen Sünden und
allem Bösen".
Ein Beobachter von außen mag den Eindruck
haben, die Katholische Kirche sei geradezu besessen von der Frage der
Sünde. Das komme wie bei einer "Obsession" fast ständig vor. Ist das
nicht etwas Krankhaftes, dauernd von Sünde zu reden? Sind die Christen
Menschen, die überall die Sünde wittern, die alles in dem negativen
Licht der Sünde sehen? Ist das nicht ein Anzeichen einer krankhaften
Haltung, die wiederum andere Menschen und den, der sie hat, krank
macht? Diesen Vorwurf kann man immer wieder hören, dass das
Christentum neurotisierend sei, dass es krank mache, eben wegen dieser
ständigen Betonung der Sünde.
Was hat es mit der Sünde auf sich? Wir
müssen vorweg sagen, das Wort von der Sünde ist in den zentralsten,
wesentlichsten Worten unseres Glaubens zu finden, deshalb wohl auf
keinen Fall einfach zu streichen. Selbst wenn es uns fremd geworden
ist, ist es durch kein anderes Wort zu ersetzen. Nehmen wir die Mitte,
den wesentlichsten Teil der Eucharistiefeier, die Wandlungsworte, das
heißt die Worte, die der Priester im Namen Jesu über Brot und Wein
spricht. Wenn es dort von dem Kelch, eben mit den Worten Jesus selbst,
heißt: "Das ist der Kelch des neuen und ewigen Bundes, mein Blut, das
für euch und für alle vergossen wird, zur Vergebung der Sünden", dann
heißt das doch, dass die Vergebung der Sünden das Anliegen des Todes
Jesu ist. Der Evangelist Matthäus erklärt uns sogar den Namen Jesu
selbst von dieser Sendung her, die das ganze Leben bestimmt: Jesus
soll er genannt werden, sagt der Engel dem Josef, "denn er wird sein
Volk von seinen Sünden erlösen" (Mt 1,21). Jesus ist also zur
Vergebung der Sünden gekommen und gestorben. Im Glaubensbekenntnis,
Credo bekräftigen wir am Ende feierlich, dass wir an die Vergebung der
Sünden glauben. Wenn wir an ihre Vergebung glauben, dann glauben wir
auch, dass es sie gibt.
Dieser so wesentlichen Bedeutung steht
eine Banalisierung, eine Veroberflächlichung des Wortes "Sünde" im
heutigen Sprachgebrauch gegenüber. Das Wort Sünde kommt in allen
möglichen Kontexten, Zusammenhängen vor. Ich nenne drei Beispiele, die
man immer wieder hören kann: Wenn von Verkehrssünden die Rede ist, von
Bausünden – ich will jetzt keine Beispiele nennen, wo man von
Bausünden redet –, Umweltsünden, ist ein beliebtes Wort, und speziell
in Österreich, vermerkt der Duden, sagt man, wenn etwas besonders
teuer ist, es sei sündteuer. Aber am meisten kommt das Wort Sünde im
Umfeld des sechsten Gebotes vor. "Kann denn Liebe Sünde sein?", ist
ein beliebtes Wort, ein immer wieder zu findender Ausdruck, wobei
sowohl Liebe wie Sünde auf Sexualität fixiert und beschränkt
erscheinen.
II.
Was also ist Sünde? Wir müssen uns von
vorn herein klar sein, dass das Gewicht dieses Wortes und dieser
Wirklichkeit sich nicht bloß dem Nachdenken erschließt. Das ist nicht
zuerst eine Frage der gelehrten Theologie. Es gibt noch eine andere
Art von Einsicht, von Erkenntnis, die nicht nur vom Verstand ausgeht,
sondern, sagen wir einmal vorweg, die vom Herzen ausgeht. Dort, im
Herzen begreifen wir, was Sünde ist, entdecken wir diese Wirklichkeit.
Aber bevor wir uns dem nähern, beginnen wir mit diesen etwas
oberflächlichen Beispielen, die ich genannt habe. Vielleicht führen
sie doch etwas tiefer. Vielleicht steckt in ihnen eine verwehte Ahnung
von dem, was Sünde wirklich ist. Verkehrssünden, Bausünden,
Umweltsünden – was bezeichnet man mit diesen Worten?
Zuerst einmal ist gemeint, dass gegen
bestehende Regeln verstoßen wird, gegen die Straßenverkehrsordnung,
gegen die Bauordnung oder gegen die Umweltschutzordnung. Darin kündigt
sich etwas Richtiges an: Sünde hat immer zu tun mit einem Verstoß
gegen eine Ordnung. Aber wir sehen gleich, nicht jeder Verstoß gegen
jegliche Ordnung wird als Sünde bezeichnet. Selbst in diesem etwas
oberflächlichen Sprachgebrauch, wenn man von Verkehrssünden redet,
meint man doch etwas Besonderes. Nicht jeder Verstoß gegen die
Straßenverkehrsordnung ist eine Verkehrssünde. Wenn jemand schlecht
parkt, dann sagt man vielleicht, dass er nicht gut Auto fahren kann.
Aber man wird das wahrscheinlich nicht als Verkehrssünde bezeichnen.
Und dasselbe gilt sicher auch von den beiden anderen Beispielen.
Es muss wohl etwas dazu kommen, ein
zusätzliches Element, zu einem Verstoß gegen eine Regel, die das Wort
Sünde auch in diesem oberflächlichen Sprachgebrauch rechtfertigt, ein
Element der Absichtlichkeit. Wir müssen noch weitergehen: ein Element
der Böswilligkeit gehört wohl dazu, dass man von Verkehrssünden
spricht. Das heißt übrigens nicht, dass dem Verkehrssünder das bewusst
sein muss im Moment, wo er es tut. Aber die anderen erfahren es so. Es
kann sein, dass dem Täter nachher schmerzlich bewusst wird, dass das,
was er getan hat, nicht einfach nur ein Regelverstoß war. Da war etwas
Schlimmeres dabei. Dieses Schlimmere kann einem allmählich bewusst
werden oder plötzlich erschreckend bewusst werden, dass man schuldig
geworden ist.
Beim Nachdenken über diese Dinge kam mir
wieder ein Mitschüler aus der Mittelschule in Erinnerung, der von zu
Hause sehr verwöhnt war. Die Eltern waren wohlhabend, er das einzige
Kind. Schon mit fünfzehn, sechzehn, die Eltern ließen ihn oft alleine,
hat er begonnen, sich unerlaubterweise den Wagen der Eltern
auszuborgen und wilde Autorasereien zu machen. Ich kann mich gut
erinnern, wie ich ihn einmal zur Rede gestellt habe, als er damit in
der Klasse geprahlt hat, weil ich wusste, dass auf der selben Strecke
am selben Tag meine Mutter zur Arbeit fuhr. Und ich habe ihn sehr
erregt angesprochen: Weißt du, was du da tust, dass du andere Menschen
in Gefahr bringst? Einige Monate später ist er mit 140
Stundenkilometern gegen einen Baum gerast, als sechzehnjähriger mit
drei anderen im Auto, alle unter achtzehn. Alle vier waren tot.
Wenn wir von Umweltsünden sprechen, dann
meinen wir auch nicht einfach Dinge, die so zufällig passieren oder
die unabsichtlich passieren, sondern wir meinen zum Beispiel das so
tragische, schlimme Zusammenspiel von verschiedensten wirtschaftlichen
und politischen Interessen, die zum Beispiel dazu führen, dass die
Regenwälder hemmungslos abgeholzt werden. Ich werde auf diese Frage
der Verknüpfung von verschiedenen Elementen noch zurückkommen, die man
heute auch "Strukturen der Sünde" nennt.
III.
Wir haben bisher festgestellt, dass auch
zu der etwas oberflächlichen Rede von Sünden des Alltags das Element
der Mutwilligkeit oder Böswilligkeit gehört, zumindest so, dass es
entdeckt werden kann, wenn das Gewissen aufwacht. Nun stelle ich mir
die Frage: Ist diese Rede von Sünde in außerkirchlichen Zusammenhängen
ein Überrest von religiöser Sprache? Sind das so Versatzstücke, die
aus dem Museum des Christentums noch in der Gesellschaft
übriggeblieben sind? Oder drückt sich darin doch ein tieferes Gespür
aus, vielleicht eine verwehte Ahnung von dem, was Sünde wirklich ist.
Aber was ist Sünde? Schlagen wir im
Katechismus nach. Dort werden zwei Definitionen gegeben. Und aufs
erste gesehen sind diese beiden Definitionen widersprüchlich. In der
einen Nummer heißt es: "Die Sünde ist ein Verstoß gegen die Vernunft,
die Wahrheit und das rechte Gewissen" (KKK 1849). Im nächsten Absatz
heißt es: "Die Sünde ist eine Beleidigung Gottes" (KKK 1850).
Ist das nicht ein gewisser Widerspruch?
Zumindest gibt es Einsprüche gegen diese beiden Definitionen. Ein
Verstoß gegen die Vernunft, ist das schon Sünde? Hat Sünde nicht immer
etwas mit Gott zu tun, mit einem religiösen Zusammenhang? Manche sagen
deshalb, im Bereich der Vernunft sollte man gar nicht von Sünde reden.
Da redet man vielleicht von Schuld, aber nicht von Sünde. Sünde ist
ein ausgesprochen religiöses Wort. Schuld gibt es auch im
nichtreligiösen Bereich. Sünde hat immer einen religiösen Klang, hat
mit Gott zu tun. Was hat sie im profanen, weltlichen Bereich zu
suchen? Dort gibt es schuldig Werden, aber Sünde? Wenn anderseits
gesagt wird: Sünde ist eine Beleidigung Gottes, dann sagen manche – es
war auch in diesen Tagen wieder zu hören: Man kann doch Gott nicht
beleidigen. Gott ist doch unendlich erhaben über das, was wir tun
können. Wir können ihm nichts anhaben.
In der Diskussion um ein Karikaturenbuch
kam immer wieder diese Frage: Kann man denn Gott, kann man Christus
beleidigen? Gott ist erhaben über alle menschlichen Verfehlungen. So
kann man fragen: Ist im Grunde Sünde ein "Fehlbegriff", ein Begriff,
den wir am besten eigentlich weglassen sollten? Im menschlichen
Bereich sollte man von Schuld sprechen und Gott gegenüber eine
Beleidigung, das kann es doch gar nicht geben. Gott kann nicht
getroffen werden, so wird gesagt. Sollen wir also das Wort Sünde doch
sozusagen im Museum der religiösen Versatzstücke ablegen?
Es gibt einen berühmten mittelalterlichen
Dialog zwischen einem Abt und seinem Schüler, der auch ein Mönch ist,
wo es um die Frage geht: Warum ist Gott eigentlich Mensch geworden?
Warum hat Gott seinen Sohn gesandt, dass er Mensch werde? Was konnte
Gott bewegen, seinen Sohn in diese Welt zu senden, dass er Mensch
werde? In diesem langen Dialog zwischen dem Abt und seinem
Mönchsschüler kommt das Gespräch an einer Stelle zum Stoppen. Dann
sagt der Abt, es handelt sich um den hl. Anselm von Canterbury (†1109)
– am 21. April ist sein Fest, an diesem Tag ist er gestorben –, zu
seinem Schüler Boso: "Du hast noch nicht bedacht, welches Gewicht die
Sünde hat" (Cur Deus homo I,2).
Es bedarf eines ganz anderen Schrittes, um
sich des Gewichts der Sünde bewusst zu werden. Ich lade Sie jetzt ein,
dass wir diesen Schritt versuchen, mit dem Herzen, mit dem Glauben.
Versuchen wir uns einmal ganz schlicht vor Augen zu halten, was uns
der Glaube als Gewissheit sagt, was wir also im Glauben festhalten,
auch wenn wir es gefühlsmäßig nicht immer spüren. Im Glauben halten
wir fest als eine Tatsache: Die Sünde hat so ein Gewicht, dass sie
Gott das Leben gekostet hat. Um unserer Sünden willen ist der Sohn
Gottes gestorben. Was die Sünde wiegt, das erschließt sich erst, das
ahnen wir erst, wenn wir schauen, welchen Lösepreis, welches Lösegeld
Gott dafür zahlen musste, wollte, gezahlt hat, wenn wir bedenken, was
Gott der Loskauf von der Sünde gekostet hat. "Du hast noch nicht
bedacht, welches Gewicht die Sünde hat", sagt Abt Anselm zu seinem
Schüler Boso.
Ich habe am Anfang gefragt, warum in der
heiligen Messe so oft die Rede von der Sünde ist. Vielleicht haben wir
jetzt schon eine deutlichere Antwort: Weil gerade in der Eucharistie
Tod und Auferstehung Jesu gefeiert werden, gegenwärtig werden. "So oft
wir dieses Opfer feiern", sagt die Liturgie, "vollzieht sich das Werk
der Erlösung" (II. Vatikanisches Konzil, Liturgiekonstitution
Sacrosanctum Concilium 2). Immer, wenn die Eucharistie gefeiert wird,
geschieht, wird das Werk der Erlösung gegenwärtig. Damit wird die
ganze Tragweite dessen gegenwärtig, was unsere Sünde Gott gekostet
hat. Oder, wir können es jetzt anders sagen: Im Blick auf die
Eucharistie, im Blick auf das Kreuz, auf Tod und Auferstehung Jesu
wird uns erst die Sünde offenbar.
Vielleicht verstehen wir von daher, warum
speziell im Christentum so viel von der Sünde die Rede ist, weil erst
durch Christus die Sünde wirklich geoffenbart ist. Vorher konnte man
sich noch ein wenig darüber hinwegtäuschen oder zumindest hatte man
nicht die ganzen Ausmaße der Wirklichkeit der Sünde erkannt. Erst vom
Kreuz her wird sichtbar, was für ein Gewicht die Sünde hat. Meine
Sünde, sie hat Gott das Leben gekostet, unser aller Sünde, die Sünde
der Welt, das ganze Gewicht der Sünde, das das Lamm Gottes auf sich
nimmt.
IV.
Aber das können wir auch jetzt anders noch
einmal sagen. Erst wenn uns das Ausmaß der vergebenden Liebe Gottes im
Kreuz begegnet, ahnen wir, wie groß, tief, gewichtig, wie schwer
unsere Sünden sind. Daher glaube ich, dass wir sagen können und
müssen: Christus hat die Realität, das Gewicht der Sünde erst ganz
geoffenbart. Vorher ist noch vieles verhüllt geblieben. Aber als Jesus
am Kreuz den Geist aushauchte und dann am Ostertag den Jüngern den
Geist einhauchte und dann am Pfingstfest den Heiligen Geist über sie
ausgegossen hat, da ist die Sünde ganz offenbar geworden. Jesus selber
hat es im Abendmahlssaal angekündigt, als er beim letzten Mahl zu den
Aposteln gesprochen hat, dreimal redete er von dem Geist, der kommen
wird, den er verheißen hat, und beim drittenmal sagte der:
Der Geist, der Tröster, den er senden
wird, "er wird die Welt der Sünde überführen" (Joh 16,7f). Das heißt,
der Heilige Geist wird erst bewusst machen, offen machen, was für ein
Gewicht die Sünde hat. Erst wo Gnade und Vergebung überreich geschenkt
werden, kann sich die Wirklichkeit der Sünde zeigen.
Ich möchte ein Beispiel bringen, um das zu
verdeutlichen. Eine ganz einfache menschliche Erfahrung zeigt uns,
dass es tatsächlich so ist, wie es uns geoffenbart ist. Ein Kind, das
nicht geliebt ist, das sich nicht angenommen weiß, wird sich sehr
schwer tun, zu seinen Eltern zu gehen, wenn es etwas angestellt hat
und das zu sagen. Es wird alle Schuld abstreiten, wird zumachen,
abblocken, es wird sich trotzig hinter seiner Unschuld verstecken,
diese behaupten, vielleicht andere beschuldigen, aber sicher nicht
selber Schuld zugeben.
Ein Kind, das sich geliebt weiß, das aus
dieser inneren Sicherheit heraus lebt, angenommen zu sein, gewollt zu
sein, wird sich vielleicht auch schwer tun, eine Schuld zuzugeben.
Aber es wird nicht diese Blokade da sein. Es weiß, wenn es zur Mutter
oder zum Vater geht und zugibt, dass es etwas angestellt hat, dann
wird es nicht verstoßen werden, sich nicht abgelehnt finden. Ein Kind,
das abgelehnt ist, das mit dieser Ablehnung aufwächst, darf in
gewisser Weise, fast möchte ich sagen aus seelischer Hygiene, Schuld
gar nicht zugeben, weil es fast so etwas wie seelischer Selbstmord
wäre, wenn man sich nicht angenommen weiß. Ein Kind, das sich in der
Liebe der Eltern nicht sicher ist, sondern immer am Gängelband
gehalten wird: Wenn du brav bist, liebe ich dich, wenn du nicht brav
bist, bist du nicht geliebt, ein solches Kind wird auch nicht
vertrauen können, seine Schuld einzugestehen. Aber ein Kind, dass sich
in der Liebe der Eltern geborgen weiß, kann mit der Schuld offen zu
den Eltern gehen. Es wird nicht Ablehnung erfahren, sondern Vergebung.
Nun das erstaunliche, das uns die
Erfahrung ja auch beweist: Gerade in solchem Angenommensein wird einem
erst die Tiefe der eigenen Schuld wirklich bewusst. Wenn man sich
wirklich geliebt weiß von den Eltern, dann tut das Wehtun über die
Schuld wirklich weh, weil man merkt, man hat die Liebe verletzt. Je
tiefer die Annahme ist, desto größer kann das Bewusstsein der eigenen
Schuld werden. Das klingt vielleicht aufs erste überraschend, aber ist
es nicht so, gerade dann, wenn die Eltern das Kind nicht mit Vorwürfen
überhäufen, ihm Vorhaltungen machen: Warum hast du das getan? Wenn sie
ihm mit der Liebe zuvorkommen, ist der Raum eröffnet, dass das Kind
auch sein Versagen erkennen und aussprechen kann und dass die heilende
Reue geschehen kann, weil es wehtut, denen wehzutun, die man liebt und
von denen man sich geliebt weiß.
Jetzt können wir fragen: Ist das nicht der
Kern der Frohen Botschaft? Der Apostel Johannes sagt uns: "Er hat uns
zuerst geliebt" (Joh 4,19). Nicht, weil wir brav sind, liebt uns Gott,
sondern weil Gott uns liebt, können wir auch erkennen, wie armselig
wir sind, wie viel in uns Sünde ist. Erst im Licht dieser Liebe
erkennen wir überhaupt, welches Gewicht die Sünde hat. Andernfalls
müssen wir sein wie ein Kind, das immer abblockt, das immer die andern
beschuldigt, das nie etwas zugeben kann aus Angst, abgelehnt,
verworfen zu sein.
Es gibt wohl kein Wort des Evangeliums,
das so tief diese Wirklichkeit sagt, wie das Wort Jesu zur
Ehebrecherin: "Ich verurteile dich nicht. Geh und sündige fortan nicht
mehr!" (Joh 8,11). Erst in diesem Raum, wirklich nicht verurteilt zu
sein, kann die wirkliche Einsicht in die Sünde kommen. Daher ist immer
die Gnade der Sünde voraus. Diese Gnadenerfahrung macht Petrus, als er
dem Blick Jesu begegnet. Wir haben diesen Blick nicht gesehen, aber
wir glauben ihn und im Glauben haben wir ihn wahrgenommen. Es ist ein
Blick, in dem keine Spur von Verurteilung ist, nur die zuvorkommende,
alles schenkende und annehmende Liebe. Deshalb weint Petrus
bitterlich.
Nachdem Petrus den Herrn in der Nacht des
Prozesses dreimal verraten hat, ist er seinem Blick begegnet. Ich
glaube, der Blick hat ihm die ganze Tiefe, den ganzen Schrecken seiner
Sünde geoffenbart aber untrennbar damit verbunden die Vergebung. Denn
nur in dem Maß, wie die Vergebung erkannt wird, kann auch die Sünde
erfasst werden. Nur wer dieser Liebe begegnet, beginnt zu ermessen,
welches Gewicht die Sünde hat, weil sie ein Nein zu dieser Liebe ist
und nicht nur ein Verstoß gegen eine Regel. Der hl. Franziskus sagt:
Weil die Liebe nicht geliebt wird. Es ist der Schmerz darüber, dass
ich die Liebe nicht geliebt habe.
V.
Ist also Sünde "Beleidigung Gottes"? Hören
wir noch einmal den Katechismus: "Die Sünde ist eine Beleidigung
Gottes: ‚Gegen dich allein habe ich gesündigt, ich habe getan, was dir
missfällt (Ps 51,6). Die Sünde lehnt sich gegen die Liebe Gottes zu
uns auf und wendet unsere Herzen von ihm ab ... Die Sünde ist somit
‚die bis zur Verachtung Gottes gesteigerte Selbstliebe‘ (Augustinus,
De civitate Dei 14,28)" (KKK 1850). Aber wieso ist dann Sünde auch ein
Verstoß gegen die Vernunft, wenn sie doch zuerst und in dem Sinn
Beleidigung Gottes ist, dass sie ein Nein zu seiner Liebe ist. Was hat
das mit der Vernunft zu tun?
Der hl. Anselm, den ich schon genannt
habe, hat in seinem langen Gespräch mit seinem Schüler Boso lange
darüber nachgedacht. Er kommt dazu, zu sagen: Alles, was gegen die
Ordnung Gottes verstößt, verstößt auch gegen die Vernunft. Denn unsere
Vernunft lässt uns ja die Ordnung Gottes erkennen, zumindest
bruchstückhaft, die Schöpfungsordnung, die Lebensordnung, die Ordnung
des zwischenmenschlichen Zusammenlebens, alles das, was uns unser
Verstand, das Licht unserer Vernunft oft sehr deutlich, deutlich genug
sagt, um es zu wissen. Ein Verstoß gegen die Vernunft ist ein Verstoß
gegen die Ordnung Gottes, die uns die Vernunft zeigt.
Ein Beispiel: Umweltsünde. In diesem Sinn
kann man tatsächlich sagen, eine Umweltsünde ist eine Sünde gegen
Gott, weil es eine Missachtung der Schöpfungsordnung ist. Diese
Schöpfungsordnung ist Ausdruck des Willens Gottes. Wer Gottes Werk
verachtet, beleidigt Gott, verstößt gegen Gottes Willen und damit
gegen Gottes Liebe. Weil Gott den Menschen, wie die Bibel sagt, als
seinen Augapfel betrachtet (Ps 17,8; Sach 2,12), das kostbarste
Geschöpf auf Erden, ist die Ausbeutung des Armen, nach dem Zeugnis der
Bibel, eine "himmelschreiende Sünde" (KKK 1867). Weil Gott den
Menschen schützt, ist ein Verstoß gegen die zwischenmenschliche
Ordnung auch ein Verstoß gegen Gott. Die Sünde ist daher immer
widervernünftig und beleidigt Gott.
VI.
Wir haben versucht, ein wenig darüber
nachzudenken, was das Gewicht der Sünde ist. Aber haben alle Sünden
das selbe Gewicht? Ist alles auf einer Ebene? Gibt es nicht Sünden,
wie wir das so zu sagen pflegen: das, was so passiert, das Übliche?
Hat das das selbe Gewicht wie eine schwere Sünde? Gibt es diesen
Unterschied, und was bedeutet er? Ich möchte zum Schluss ein wenig
über diesen Unterschied sagen: schwere Sünde – sogenannte lässliche
Sünde, und dann auch ein Wort über die Sünde wider den Heiligen Geist,
dieses rätselhafte Wort Jesu im Evangelium.
"Du hast noch nicht bedacht, welches
Gewicht die Sünde hat." Es kann im Glaubensweg des einzelnen, in
unserm persönlichen Glaubensweg auch eine scheinbar ganz kleine Sünde
ein immenses Gewicht haben. Es kann in einem kleinen, verächtlichen
Blick mir erschreckend das ganze Gewicht der Sünde, die in mir ist,
bewusst werden. Trotzdem unterscheiden wir lässliche Sünden und
sogenannte Todsünden. Der Katechismus sagt: "Die Todsünde zerstört die
Liebe im Herzen des Menschen durch einen schweren Verstoß gegen Gottes
Gesetz" (KKK 1855). Sie ist sozusagen ein Bruch in der Lebenslinie hin
auf Gott, ein Abbruch des Weges hin zu Gott. Dem gegenüber wäre die
lässliche Sünde sozusagen "nur" ein kurzes Abweichen, aber nicht ein
grundsätzliches Verlassen des Weges zu Gott.
Aber gibt es das überhaupt wirklich,
Todsünde? Wir wissen, früher hat man allzu leicht vieles als Todsünde
bezeichnet. Heute haben wir die andere Gefahr, dass man fast nichts
mehr als Todsünde empfindet oder bezeichnet. Kann man wirklich von
Todsünde sprechen? Die Lehre sagt, zur Todsünde gehören drei Elemente:
Erstens, dass es wirklich etwas ganz Schwerwiegendes ist, Mord,
schwerer Diebstahl, Ehebruch werden normalerweise genannt,
Gotteslästerung, Glaubensabfall, eine schwerwiegende Materie
sozusagen.
Aber zwei weitere Elemente gehören dazu,
dass man von Todsünde sprechen kann, die volle Erkenntnis, dass es
wirklich etwas so Schweres ist, und noch schwieriger die volle
Zustimmung, also der volle freie Wille (KKK 1858-1859). Wo kommt so
etwas schon vor? Kommt es vor, dass wir im vollen Wissen um die
Schwere einer Tat, die uns aus der Liebe Gottes herausnimmt, die uns
trennt von Gott, mit voller Zustimmung und voller Klarheit eine solche
Sünde tun? Möglich ist es. "Die Todsünde ist wie auch die Liebe eine
radikale Möglichkeit, die der Mensch in Freiheit wählen kann" (KKK
1861).
Aber im Katechismus steht auch: Es kann
auch Todsünde etwas sein, was durch Herzensverhärtung geschieht (KKK
1859). Wenn wir ins Evangelium schauen, dann ist eigentlich das
Erschreckendere nicht so sehr die willentliche, ganz bewusste schwere
Sünde, sondern die Unterlassung, das schwere Versäumnis. Der reiche
Prasser sieht den Lazarus vor seiner Tür nicht mehr (Lk 16,19-31). Das
Erblinden seines Herzens ist das viel Schwerwiegendere als die aktive
böse Tat. Im Matthäusevangelium sagt uns der Herr über das
Weltgericht: "Ich war krank und du hast mich nicht besucht, ich war
arm und du hast mir nicht geholfen, ich war nackt, du hast mich nicht
bekleidet – was ihr dem geringsten meiner Brüder nicht getan habt, das
habt ihr mir nicht getan" (vgl. Mt 25,42-45). Unterlassungen können
schwere Sünden sein. Das Gefährliche daran ist, dass wir sie nicht
mehr merken, weil das Herz hart geworden ist.
Die Lässigkeit mit den lässlichen Sünden
kann auch zur Verhärtung des Herzens führen. Augustinus sagt: "Falls
du sie für harmlos hältst, wenn du sie wägst, zittere, wenn du sie
zählst" (Auslegung zum Johannesbrief 1,6). Es mag im einzelnen harmlos
sein, eine kleine Lieblosigkeit. Aber viele kleine Lieblosigkeiten
können mein Herz hart machen. Darum beten wir vor der Kommunion so
inständig: "Lass nicht zu, dass ich jemals von dir getrennt werde",
denn um diese Gefährdung muss jeder von uns wissen, die gibt es auch
in meinem Leben.
Nun das Entscheidende, die Frage nach der
Sünde wider den Heiligen Geist. Jesus sagt: Jede Sünde wird vergeben,
jede Lästerung wird vergeben, auch die Lästerung gegen den
Menschensohn, gegen Christus. Nicht vergeben wird die Lästerung gegen
den Heiligen Geist (Mk 3,29). Was heißt das? Es gibt nur eine Sünde,
sagt die hl. Katharina von Siena, die Gott nicht verzeihen kann, zu
glauben, dass unsere Sünden größer sind als Gottes Barmherzigkeit, zu
glauben, dass das Erbarmen Gottes nicht ausreicht für meine Sünden.
Oder anders, wie es der Katechismus sagt: sich absichtlich zu weigern,
"durch Reue das Erbarmen Gottes anzunehmen" (KKK 1864). Demgegenüber
ist Gott ohnmächtig. Es geht also, ob schwere oder leichte Sünde, um
die Reue, um das grenzenlose Vertrauen in die Barmherzigkeit Gottes.
Ich kehre zurück zum Anfang. Was macht die
Sünde zur Sünde? Was offenbart uns die Sünde? Erst das Erbarmen
Gottes, erst Jesus hat wirklich geoffenbart, warum die Sünde so ein
Gewicht hat. Erst wenn wir das erkennen, ahnen wir, dass die Sünde
nicht eine Banalität ist. Ich schließe mit einem Wort aus dem ersten
Johannesbrief, einem Wort des Lieblingsjüngers, der wirklich wusste,
wie groß die Liebe des Herrn ist. Johannes sagt: "Wenn wir sagen, dass
wir keine Sünde haben, führen wir uns selbst in die Irre und die
Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir unsere Sünden bekennen, ist er
treu und gerecht. Er vergibt uns die Sünden und reinigt uns von allem
Unrecht" (1 Joh 1,8-9).
(Kardinal Christoph Schönborn) |