Allmächtiger Gott, du hast uns durch das
Wasser der Taufe neu geschaffen. Schütze dieses neue Leben, damit
alle, die an dich glauben, dem Ansturm des Bösen standhalten und das
Geschenk deiner Gnade treu bewahren. Darum bitten wir durch Christus,
unsern Herrn. Amen (Tagesgebet, Samstag der 3. Osterwoche).
Heute ist von der Gnade die Rede. In der
Osterzeit ist sehr viel von Gnade die Rede. Ich habe ein wenig die
Tagesgebete aus der Osterzeit durchgesehen, also jene Gebete, die zu
Beginn der Messe in diesen fünfzig Tagen der Osterzeit gebetet werden.
Da ist zum Beispiel die Rede vom "Geschenk deiner Gnade", oder vom
"Leben der Gnade". Einmal heißt es, dass wir die "Gnade des Glaubens"
erbitten oder es heißt auch: "Erhalte in uns die Gnade". Ein Gebet
sagt: "Du hast uns im österlichen Geheimnis die Quelle der Gnade
erschlossen. Hilf uns im Guten voranzuschreiten, damit wir immer aus
der Ostergnade leben."
Es ist also viel von Gnade die Rede. Aber
was ist das eigentlich, die Gnade? Was heißt das? Wir wollen in dieser
Katechese nicht nur die Glaubenslehre der Kirche erkunden, was der
Katechismus dazu sagt, sondern vor allem schauen, wie das Wirken der
Gnade aussieht, wie es sich in unserm Leben zeigt, versuchen, die
Gnade gewissermaßen zu beobachten. Dabei stellt sich gleich die Frage:
Kann man die Gnade überhaupt beobachten? Kann man sie kennen? Wissen
wir überhaupt, erfahren wir, erleben wir die Gnade?
I.
Ich möchte mit einem Wort des hl. Paulus
beginnen: "Wo die Sünde mächtig wurde, da ist die Gnade übergroß
geworden" (Röm 5,20). In der letzten Katechese ging es um die
Wirklichkeit der Sünde. Es ging mir darum zu zeigen, dass die Gnade
eigentlich die Voraussetzung dafür ist, dass man die Sünde erkennt.
Ich habe das Beispiel eines Kindes herangezogen: Ein Kind, das sich
nicht angenommen weiß, dass sich abgelehnt fühlt, wird sich sehr
schwer tun, seine Schuld, einen Fehler, eine Lüge zum Beispiel oder
dass es etwas zerbrochen hat, einzugestehen.
Ein Kind, das sich nicht angenommen weiß
wird andere beschuldigen, wird sich selber entschuldigen. Es kann sich
nicht schuldig erkennen und bekennen, weil gar nicht der Raum dazu da
ist, das Vertrauen, das notwendig ist, dass man seine Schuld überhaupt
erkennen und benennen kann. Ich glaube, diese ganz einfache
menschliche Erfahrung, dass es eigentlich erst in einer Umgebung, in
der ich mich angenommen weiß, gelingt, wirklich meine Fehler
einzugestehen, diese menschliche Erfahrung bestätigt und vertieft sich
noch einmal im Glauben.
Weil ich im Glauben weiß, dass Gott mir
gut will, brauche ich mich nicht von meiner Schuld zerstören zu
lassen, sondern ich kann sie erkennen, ich kann sie bekennen, ich kann
sie als meine Schuld annehmen, bereuen und kann neu beginnen. So
stimmt es wirklich, was der Apostel sagt: Die Gnade ist immer größer
als die Schuld. Erst im Licht der Gnade wird mir auch die Tiefe meiner
Schuld bewusst.
Mich hat das im Leben der Heiligen immer
wieder überrascht, wenn man bei ihnen liest, dass sie so ein starkes
Schuldbewusstsein oder Sündenbewusstsein haben. Die große hl.
Katharina von Siena hat am Ende ihres Lebens gesagt, sie sei Schuld an
allen Übeln in der Welt. Das ist natürlich eine maßlose Übertreibung
im alltäglichen Verständnis. Aber diese Überzeugung hatte sie, weil
sie, wie wohl ganz wenige Menschen, die unfassliche Größe, Weite und
Tiefe der Liebe Gottes erkannt hatte. Vor dieser Liebe kam ihr die
eigene Armseligkeit so richtig zu Bewusstsein und sie konnte solche
Worte sagen.
Aber was ist denn die Gnade? Sicher ein
Wort, das uns etwas fremd geworden ist, aber wenn man genauer
hinschaut, kommt es auch im heutigen Alltagssprachgebrauch durchaus
vor. Auf jeden Fall ist das Evangelium, die Heilige Schrift voll von
dem Wort Gnade, mehr noch von der Wirklichkeit, die hier gemeint ist.
155mal kommt das Wort Gnade im Neuen Testament vor. I
ch möchte versuchen anders zu sagen, was
Gnade ist, mit einer Geschichte. Sie spielt im zwanzigsten Jahrhundert
und hat sich mir sehr tief eingeprägt, ist für mich wie ein Schlüssel
geworden, um zu verstehen, was Gnade bedeutet. Sie stammt von Nicolas
Rajewski, einem alten Russen. Ich bin ihm im Jahr 1968 hier in Wien
begegnet, ich war damals 23 Jahre, ein junger Dominikanerfrater. Er
arbeitete damals am französischen Kulturinstitut. Er stammte aus einer
alten russischen Adelsfamilie, die Fürsten Rajewski und war in seiner
Jugend noch am Zarenhof Page gewesen. 1917, die kommunistische
Revolution, dramatische Flucht, er kam nach Frankreich und verdingte
sich in der Fremdenlegion und wurde Offizier. Dort, in der
Fremdenlegion, spielt die Geschichte, die er mir damals, 1968 erzählt
hat. Er hatte unter seinen Fremdenlegionären einen Deutschen, den er
als "un vrai brut" beschrieben hat, einen brutalen Typ, unsympathisch,
grausam. Dieser deutsche Fremdenlegionär wurde in einem Gefecht schwer
verletzt, so dass er im Sterben lag. Er ließ seinen Offizier, Nicolas
Rajewski, zu sich rufen, der eigentlich widerwillig hinging, weil er
mit diesem Deutschen sehr negative Erfahrungen gemacht hatte. Zu
seiner Überraschung sagte ihm der Schwerverletzte in ganz feinen und
präzisen Worten: "Glauben Sie, dass Gott mir etwas von sich schenken
kann?"
Dieser junge Offizier, der nicht besonders
religiös war, war überrascht über diese Frage des deutschen Legionärs
und fragte ihn zurück: "Was meinen Sie damit?" Darauf sagte ihm dieser
Verwundete: "Wenn ich jetzt sterbe und mit meinem ganzen schmutzigen
Leben vor Gott komme, dann werden die Heiligen auf mich zeigen und ich
muss mich schämen und ich kann nicht in den Himmel kommen. Aber wenn
Gott mir etwas von sich gibt, von sich selber gibt, dann können die
Heiligen nichts gegen mich sagen." Nicolas Rajewski, der damals etwa
das Alter hatte, das ich hatte als er mir das als alter Mann erzählt
hat, war verlegen und hat ihm gesagt: "Gott wird dir sicher etwas von
sich geben." Der Legionär ist dann gestorben.
Ich glaube, dieser Satz sagt ganz genau,
worum es in der Gnade geht: "Wenn Gott mir etwas von sich gibt ..."
glaube, Das ist eine ganz genaue Definition von Gnade. Nur so kann ich
vor Gott erscheinen, wenn Gott mir etwas von sich gibt. Nur so bin ich
gewissermaßen vor allen diesen Heiligen, die es da im Himmel gibt und
die so gut gelebt haben, genehm, finde ich Gnade vor ihnen. Da können
sie mich nicht ablehnen. "Etwas von sich selbst ..." – man könnte
sagen, wenn Gott gewissermaßen seinen Mantel um meine Nacktheit wirft,
dann bin ich unter seinem Schutz. Aber noch etwas mehr, es ist nicht
nur das Äußerliche, dass er mich in seinen Mantel nimmt, sondern etwas
von ihm selber. Ich glaube, das ist Gnade, etwas von Gott selbst.
Nun mag man einwenden: Wer so ein Leben
geführt hat wie dieser Fremdenlegionär, der sicher viel am Kerbholz
hatte, der ein schlechtes Leben geführt hat, der hat allen Grund Gott
zu bitten, ihm etwas von sich selbst zu geben. Aber wenn man ein
normales Leben geführt hat oder gar, wenn man zu den Heiligen gehört,
die nicht nur ein normales, sondern ein außergewöhnliches, ein
heiliges Leben geführt haben? Ich glaube, die Schwierigkeit mit der
Gnade in der heutigen Zeit ist vor allem, dass viele Menschen,
vielleicht wir alle mehr oder weniger, das Gefühl haben: Ich muss es
selber schaffen. Ich muss mein Ziel erreichen. Ich muss in Ordnung
sein. Ich muss sozusagen o.k. sein.
Das Wort Gnade erinnert uns doch an
Abhängigkeit. Jeder, der im Berufsleben steht, kennt solche
Situationen der Abhängigkeit. Das ist für viele Menschen nicht anders
möglich, als dass man vom Wohlwollen eines Chefs abhängt, eines
Politikers, eines Mächtigen, vielleicht gilt das auch für die
Bischöfe, für den Pfarrer. Das Gefühl, in Ungnade fallen zu können,
also abhängig zu sein von dem Wohlwollen oder dem Nichtwohlwollen des
Chefs, ist das nicht etwas Demütigendes? Abhängig sein von der Huld
oder der Antipathie eines anderen, darin liegt etwas Demütigendes. Man
ist nicht sein eigener Herr oder seine eigene Frau, nicht sein eigener
Chef. Irgendwie ist es nicht leicht, das Gnadenbrot zu essen. Auch
wenn es ein gut bestrichenes Gnadenbrot ist, wenn man nicht hungert
dabei, man ist abhängig. Kann man ein freier Mensch sein, wenn man von
jemand anderes Gnaden abhängig ist? Wie ist das erst recht Gott
gegenüber? Ist man Gott gegenüber nicht nur irgendwie sondern
furchtbar abhängig? Ist also Gnade etwas, worum man betteln muss? Ist
das nicht demütigend? Macht das uns nicht unmündig?
Wie ist das also mit der Gnade? Ist das
eigentlich etwas, was der menschlichen Würde unwürdig ist, wenn man
auf Gnade angewiesen ist? In der Reinkarnationslehre, die ja viele
Menschen auch bei uns inzwischen sich zu eigen gemacht haben, dass man
also immer wieder auf diese Welt kommen muss, steht dieser Gedanke im
Vordergrund. Man muss es selber schaffen, nicht Gnade sondern eigene
Arbeit, mühsam abarbeiten, was man an Fehlern hat. Aber auf der andern
Seite ist man nicht abhängig.
II.
Versuchen wir ein wenig tiefer
hineinzugehen in die Frage, was es mit der Gnade auf sich hat. Ich
glaube, wir müssen mit einer ganz nüchternen Feststellung beginnen:
Wir sind alle furchtbar abhängig. Es gibt gar kein Leben, das nicht in
tausenderlei Weisen von anderen abhängig ist. In fast allem hängen wir
von anderen ab. Unsere Autonomie, unsere Selbständigkeit gibt es
natürlich, aber sie ist sehr begrenzt. Vor allem gibt es keine
Selbständigkeit ohne ein klares Ja zu den vielen Abhängigkeiten. Wir
hängen von unseren Eltern ab. Unser Dasein haben sie uns geschenkt.
Wir hängen von unserer Umwelt ab, von der Luft, von allem, was Leben
ermöglicht.
Wir hängen in zahllosen Zusammenhängen von
andern Menschen ab. Was wäre unser Leben ohne die vielen
Dienstleistungen, ohne die wir gar nicht leben könnten? Ist es mit
meiner Freiheit vereinbar, dass ich in ein Flugzeug steige und einfach
von den Piloten abhängig bin, von den Flutlotsen und noch von vielen
anderen? Ist es unter meiner Würde, dass ich mich in so viele
Abhängigkeiten begebe, dass ich so viel Hilfe brauche? Widerspricht
das nicht meiner Eigenständigkeit, dass ich in fast allem in meinem
Leben auf die Gnade anderer angewiesen bin?
Die Gnade, jetzt im umfassenden Sinn als
Wohlwollen, als Hilfe, als Zuwendung, auch als Dienstleistungen, ich
bin ständig abhängig von den Zuwendungen, den Gnaden anderer.
Selbstverwirklichung, das große Stichwort unserer Zeit,
Selbstverwirklichung gibt es eigentlich nicht. Sich selbst
verwirklichen geht nur durch ein weites Netz von Abhängigkeiten, von
Zuwendungen, von Diensten, die ich empfange und die ich natürlich auch
leisten muss für andere.
"Alles ist Gnade", wir kennen dieses Wort
der kleinen hl. Theresia "Toute est grâce" – "Alles ist Gnade", es ist
vielleicht das bekannteste Wort der kleinen hl. Theresia. Im Grunde
gilt das bereits im menschlichen Bereich. Alles ist Gabe. "Was hättest
du, was du nicht empfangen hast?", sagt Paulus (1 Kor 4,7). Das kann
ich, darf ich, muss ich aus ganzem Herzen sagen: Was hätte ich, was
ich nicht empfangen hätte? Das Wissen darum ist nicht eine traurige
Feststellung: Um Gottes willen, wie abhängig sind wir!, sondern ist
eigentlich der Rahmen unserer Freiheit. Das zu wissen macht mich nicht
unfrei.
Wenn ich nur dann frei wäre, wenn ich
niemanden brauche, wenn ich nur dann mein eigener Herr oder meine
eigene Frau wäre, wenn ich nichts brauche, das wäre ein trauriges
Menschenbild. Jesus sagt, er habe sich zum Diener aller gemacht. Es
gibt keinen Menschen, der freier ist, als Jesus. Es gibt keinen
Menschen, der so entschieden gesagt hat, dass er in allem abhängig ist
vom Vater. Er tut nichts aus sich selbst. Alles, was er tut, was er
sagt, tut er, weil er es beim Vater sieht und der Vater es ihm
aufträgt. Und er ist ganz frei.
Alles ist Gnade. Das gilt schon im
menschlichen Bereich. Aber es gilt natürlich in ganz besonderer Weise
von Gott her. "Was hättest du, was du nicht empfangen hast?" Wenn wir
darüber ein bisschen nachdenken, dann wird klar, dass dieses Wort der
kleinen Theresia: "Alles ist Gnade", wirklich alles betrifft, mein
Sein, mein Dasein, mein Leben habe ich von Gott. Meine Fähigkeiten,
den Verstand, den Willen, die Gefühle, alles habe ich von Gott. Die
Welt, in der wir leben, haben wir von Gott. Kurz: Könnten wir etwas
nennen, was nicht von Gott ist, außer dem Bösen? (Das ist ein Thema,
das ich jetzt nicht noch einmal aufgreifen möchte.)
Nun stellt sich aber die Gegenfrage: Wenn
wirklich alles Gnade, alles Geschenk ist, was ist dann das Besondere
der Gnade? Gibt es dann auch so etwas wie die besondere Zuwendung
Gottes, die über das hinausgeht, was sozusagen eh schon jeder Mensch
hat, einfach dadurch, dass er liebt, dadurch, dass er in dieser Welt
ist, Gaben, Befähigungen, Begabungen hat? Wenn das schon alles Gnade
ist, was soll dann die Rede von der Gnade, von der wir vorhin in der
Osterzeit gehört haben, die Taufgnade, oder die Gnade einer Berufung?
Was ist das Besondere an der Gnade?
Schauen wir auf den Apostel Paulus. Paulus
hat wie kein anderer ausgiebig und immer wieder über die Gnade
gesprochen. Die Wurzel davon ist zweifellos seine Berufungserfahrung.
Da ist ihm etwas ganz Besonderes widerfahren, etwas, was er nicht
schon einfach mitgebracht hat. Er sagt es selber im Galaterbrief, als
er über sein eigenes Leben nachdenkt und den Galatern beschreibt, wie
er zum Glauben an Christus gekommen ist: "Als es aber dem gefiel, der
mich vom Mutterschoß an erwählt hatte, seinen Sohn in mir zu
offenbaren" (vgl. Gal 1,15f).
Es hat Gott gefallen, Paulus zu rufen. Er
weiß, er hat das absolut nicht verdient, im Gegenteil, er hat die
Christen verfolgt, er hat Christus verfolgt, völlig unverdient ist ihm
das geschenkt worden. Auf dem Weg nach Damaskus ist ihm Jesus
erschienen und hat sein Leben grundlegend verändert. Wenn wir von
Gnade reden, dann meinen wir doch vor allem solche Erfahrungen, wo
Gott in unser Leben in besonderer Weise eingreift. Später sagt der
Apostel einmal im Rückblick auf seine eigene Bekehrung und Berufung:
"Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin, und sein gnädiges Handeln
ist in mir nicht ohne Wirkung geblieben" (1 Kor 15,10). Gottes Gnade
hat ihn zu dem gemacht, was er ist. Hier geht es also offensichtlich
um etwas anderes, etwas Größeres als das, was wir als natürliche Gaben
mitbringen, auch etwas Größeres, etwas anderes als das, was wir von
uns aus können. Auch wenn wir sagen müssen: Alles, was ich kann, ist
auch Geschenk, auch das hat mir Gott geschenkt. Mit Gnade im
eigentlichen Sinn bezeichnen wir eine besondere Zuwendung Gottes.
III.
Der deutsche Fremdenlegionär meinte wohl
diese ganz besondere Zuwendung: Wenn Gott mir etwas von sich selber
gibt, dann kann ich in den Himmel, etwas Besonderes, etwas, was wir
nicht schon einfach auf unserem Lebensweg mitgebracht haben. Dieses
besondere bezeichnet der Soldat: "etwas von sich selbst", etwas von
Gott selber. Schauen wir also hinein, und jetzt muss es doch ein wenig
Katechismuslehre werden: Was sagt der Katechismus über die Gnade? Ich
möchte das in drei Punkten tun. Zuerst was sagt er über die
Kennzeichen der Gnade, woran erkennt man die Gnade? 2. Welche Arten
von Gnaden gibt es? Die dritte und letzte Frage wird dann sein: Kann
man Gnade spüren, erfahren, erleben? Kann man wissen, ob man in der
Gnade ist? Wie weiß ich, wie ich vor Gott stehe?
Kommen wir zuerst zu den Kennzeichen der
Gnade. Der Apostel Paulus wusste, seine Berufung ist völlig
ungeschuldet. Gnade ist ungeschuldet, etwas, das ich nicht mir selber
verdienen kann, etwas was mir nicht geschuldet ist, so wie ich am
Monatsende das Recht auf meinen Lohn habe oder wie ich ein Anrecht auf
eine Krankenversicherung habe, wenn ich eingezahlt habe.
Ich habe kein Anrecht auf die Gnade. Aber
das Rätselhafte ist, dass sie trotzdem notwendig ist. Sie ist absolut
notwendig. Sie ist ungeschuldet, ich habe kein Recht darauf, aber ich
brauche sie. Ohne Gnade, das wusste dieser Legionär in seiner letzten
Stunde, ohne Gnade komme ich nicht in den Himmel. Ohne dieses Geschenk
ist er chancenlos. Ist das nicht eine ungerechte Situation? Macht uns
das nicht wieder bewusst, wie sehr wir abhängig sind? Wie ist diese
Spannung zu verstehen?
Die klassische Theologie hat Jahrhunderte
lang um diese Frage gerungen. Der hl. Augustinus hat die letzten Jahre
seines Lebens bitter darum gekämpft, zu sagen: Die Gnade ist
ungeschuldet. Wir haben kein Anrecht darauf, aber wir brauchen sie.
Jahrhunderte lang haben die Dominikaner und die Jesuiten um diese
Frage gerungen und miteinander gestritten, so sehr und so schlimm,
dass eines Tages der Papst gesagt hat: Ihr dürft nicht mehr darüber
diskutieren. Er hat die Diskussionen über die Gnade verboten. Aber
diese Frage hat auch das Abendland gespalten. Luthers Reformation ging
entscheidend um die Frage der Gnade: Wie bekomme ich einen gnädigen
Gott? Wie steht es mit dem, was der Mensch leisten muss? Muss er Werke
tun um Gott gnädig zu stimmen? Wie steht das mit der Gnade –
ungeschuldet und doch notwendig?
Ich möchte einen ganz einfachen Zugang
versuchen, ohne zu behaupten, dass ich Jahrhunderte lange Diskussionen
damit lösen kann. ganz einfacher Zugang. Gnade heißt doch, dass Gott
sich dem Menschen frei zuwendet, dass er ihm ein Angebot macht, dass
Gott dem Menschen das Angebot seiner Freundschaft macht, dass Gott dem
Menschen anbietet: Komm und nimm teil an meinem Leben! Nimm teil an
meiner Freude! Sie kennen vielleicht die Ikone von der heiligsten
Dreifaltigkeit von Andrej Rubjow. Sie können sich diese Ikone
vorstellen. Die drei Engel, die Abraham besuchen, sitzen um einen
Tisch und in der Mitte des Tisches ist eine Schale, in der ein
Opfertier gezeigt wird. Auf dieser Ikone sieht man symbolisch
dargestellt die Gemeinschaft des Dreifaltigen Gottes, diese innige
Verbundenheit der drei göttlichen Personen, der eine Gott in drei
Personen. Der vierte Platz, der vordere Platz an diesem Tisch ist
frei. Auf diesen Platz sind wir eingeladen: Komm und nimm meine
Freundschaft an!
Gnade ist dieses Angebot. Aber wenn es ein
Angebot der Freundschaft ist, dann ist diese Freundschaft nicht
automatisch da. Sie ist ein Geschenk, das uns angeboten ist, dass aber
auch angenommen werden muss. Sie ist nicht schon dadurch da, dass Gott
in unser Herz die Sehnsucht gelegt hat, zu unserm Ursprung und Ziel
zurückzukehren. Die Gottesfreundschaft ist nicht schon dadurch da,
dass wir fromm sind oder religiös sind, sondern erst dadurch, dass wir
ausdrücklich die Freundschaft, die Einladung Gottes annehmen. So wie
Hananias, den Jesus gerufen und zu Paulus geschickt hat, geantwortet
hat: Hier bin ich. Was willst du, Herr (Apg 9,10); so wie Maria auf
die Einladung, das Angebot, die Botschaft Gottes gesagt hat: Mir
geschehe nach deinem Wort! (Lk 1,38). Gnade heißt also Angebot, das
Annahme braucht. Ein persönlicher Anruf: Willst du nur mein Geschöpf
sein, willst du nicht auch mein Freund, mein Kind sein? Willst du
nicht Sohn Gottes sein aus Gnade, wie Jesus selber? Wollt ihr nicht
meine Kinder sein, meine Söhne und Töchter?
Auf dieses Angebot Gottes kann nur die
Freiheit antworten, und ohne Freiheit gibt es keine Freundschaft.
Diese Antwort muss ausdrücklich gegeben werden. Sie entspricht dem
Angebot der Gnade, wenn ich dieses Angebot annehme. Diese beiden
Momente zusammen machen erst die Gnade aus. Sonst bleibt, wie Paulus
sagt, die Gnade vergeblich. Er kann sagen: Gottes Gnade ist in mir
nicht vergeblich gewesen. Er hat sie angenommen und er hat mit ihr
gewirkt, er ist auf die Freundschaft eingegangen. Ein ganz wichtiges
Element: Auf die Freundschaft habe ich kein Anrecht, sie ist ein
Geschenk.
Aber die Freundschaft mit Gott ist
lebensnotwendig, denn Gott hat uns nicht nur geschaffen, dass wir
seine Geschöpfe sind, sondern dass wir seine Kinder werden, dass wir
im Sohn Gottes Söhne und Töchter Gottes werden. Er hat uns als freie
Wesen geschaffen, damit wir frei auf sein Angebot eingehen können.
Lebensgemeinschaft mit Gott, das ist Gnade. Der hl. Petrus sagt es so:
dass wir teilhaftig werden der Natur Gottes, der göttlichen Natur (2
Petr 1,4). Die große Tradition der Kirche hat gesagt: Die Gnade
vergöttlicht den Menschen, sie schenkt uns wirklich Gottes Leben.
IV.
Nun hat die Kirche versucht, und damit bin
ich beim zweiten Punkt, diese Wirklichkeit des Angebotes Gottes zu
ordnen, zu unterscheiden. Wie sieht dieses Angebot Gottes aus, diese
vergöttlichende Gnade? Die Kirche unterscheidet im großen und ganzen
drei Arten der Gnade. Da gibt es zuerst dieses Grundangebot Gottes,
das uns in der Taufe geschenkt ist, das die Kirche die heiligmachende
Gnade nennt, die uns zu neuen Menschen macht. Aber dann gibt es eine
zweite Art von Gnaden, die jeden Tag da sind, in den verschiedensten
Umständen und Situationen, die aktuellen Gnaden oder auch die
helfenden Gnaden. Dann gibt es ein drittes, das sind die sogenannten
Gnadengaben, die Charismen, besondere Gaben, die Gott gibt,
prophetische Gaben, Dienstgaben, Begabungen, von denen wir noch kurz
reden werden.
Zuerst das Fundament, die Taufgnade. Hier
muss ich doch ein wenig in den Katechismus hineinhorchen. Was ist die
Taufgnade? Der Katechismus sagt: "Die Gnade Christi besteht darin,
dass uns Gott ungeschuldet sein Leben schenkt. Er gießt es durch den
Heiligen Geist in unsere Seele ein, um sie von der Sünde zu heilen und
sie zu heiligen. Das ist die heiligmachende oder vergöttlichende
Gnade, die wir in der Taufe erhalten haben" (KKK 1999). Dann zitiert
der Katechismus den hl. Paulus: "Wenn also jemand in Christus ist,
dann ist er eine neue Schöpfung ..." (2 Kor 5,17). Die Taufgnade ist
etwas ganz Wunderbares. Freilich, wenn ich ein wenig hineinhorche in
das, was der Katechismus über die Taufgnade sagt – das ist sehr viel –
dann stellt sich sofort die Frage: Merkt man das auch? Merkt man, dass
wir getauft sind? Spürt man das? I
ch lese Ihnen ein paar Worte des hl.
Gregor von Nazianz vor, des großen Kirchenvaters, der den Neugetauften
sozusagen die ganze Herrlichkeit dessen anpreist, was sie jetzt
empfangen haben: "Die Taufe ist die schönste und herrlichste der Gaben
Gottes ... Wir nennen sie Gabe, Gnade, Salbung, Erleuchtung, Gewand
der Unverweslichkeit, Bad der Wiedergeburt, Siegel, und nach allem,
was besonders wertvoll ist" (Oratio 40,3; KKK 1216).
Wenn die Taufe also die herrlichste, die
schönste der Gaben Gottes ist, warum merkt man dann so wenig davon?
Warum kann man die Taufgnade nicht unmittelbar spüren, sehen,
wahrnehmen? Dieses Geschenk der heiligmachenden Gnade, wie kann man
das feststellen? Wir werden gleich noch auf die Frage zurückkommen:
Merkt man, ob man in der Gnade Gottes ist? Vorerst sei auf eines
hingewiesen: Diese grundlegende Gnade Gottes, die wir in der Taufe
empfangen, ist nicht zuerst Sache der Erfahrung, des Erlebens, sondern
des Glaubens. Ich glaube, dass Christus mich in der Taufe in sein
Leben hineingenommen hat.
Ich glaube, dass mein Leben Christus
gehört. Ich kann es vielleicht gelegentlich ahnen, auch vom Gefühl
her, aber zuerst glaube ich es. Ich glaube, dass ich durch die Taufe
mit Christus gestorben und auferstanden bin. Im Glauben bin ich dessen
sicher, auch wenn ich es nicht spüre. Ich weiß, seit der Taufe gehört
mein Leben Christus. Das ist der Grund, warum wir Kinder taufen, nicht
um möglichst viele Katholiken im Register eingeschrieben zu haben, um
möglichst früh Kirchenmitglieder zu haben, sondern weil wir glauben,
dass durch die Taufe die heiligmachende Gnade geschenkt wird, das
heißt, dass Gott dieses Menschenkind in sein Leben hineinnimmt, es zu
einem Gotteskind macht, dass dieses Kind mit Christus bekleidet ist,
dass künftig sein Leben in der Hand Gottes liegt und bei ihm geborgen
ist. Trotzdem ist die Frage der Erfahrung natürlich wichtig. Kann man
das irgendwie wahrnehmen? Ich will doch wissen, ob Gott mir gnädig
ist. Wie erfahre ich das? Ich komme gleich noch darauf zurück.
Ich muss jetzt zuerst etwas sagen über die
aktuellen Gnaden, denn dort erfahre ich Gnade wahrscheinlich direkter
als die Taufgnade, aktuelle Gnade, Gnadenhilfen, eine unendliche
Bandbreite: Gott in meinem täglichen Leben. Vieles von diesen Gnaden
nehmen wir leider nicht wahr, weil wir zu oberflächlich sind, weil wir
darüber weggehen, aber wenn wir hinschauen ist es unendlich viel, das
Gott uns ständig an kleinen Zuwendungen, Aufmerksamkeiten, Hilfen
gibt, "Gnadenschübe", große oder kleine. Große "Gnadenschübe",
aktuelle Gnaden sind natürlich die Gnaden einer Bekehrung, das kann
ein ganzes Leben umwälzen.
Aber auch ganz kleine Gnaden: Beim Gebet
kommt mir ein Gedanke, eine Einsprechung, und ich erkenne: Gott gibt
mir einen Wink; oder etwas drängt mich, zu einem Menschen hinzugehen
und ihn anzusprechen, Anstoß des Heiligen Geistes; es steht mir ein
schwieriges Gespräch bevor, ich bitte Gott um HIlfe und ich erfahre,
das Gespräch geht erstaunlich gut, ich danke Gott für die aktuelle
Hilfe; ich versäume den Autobus und stelle fest: Gott hat das
zugelassen, damit ich eine ganz wichtige Begegnung mache, Gott hat es
gefügt. Das sind helfende Gnaden, ständig erlebbar, wenn wir
aufmerksam sind.
Dazu gehören auch die "Standesgnaden". Wie
werde ich meine neue Aufgabe wahrnehmen, als Pfarrer in einer
schwierigen Pfarre oder als Bischof in einer wunderschönen Diözese, in
einer neuen Berufssituation? Ich erfahre, dass es besondere Hilfen
gibt, Standesgnaden. In allen Ständen, Altersstufen, es gibt
spezifische Gnaden der Kinderzeit und des Alters, es gibt Gnaden für
den Krankenstand, Gnaden für den Witwenstand, aber alle diese Gnaden
wollen auch erbeten sein, denn sie sind alle vielfältiger Ausdruck der
Freundschaft mit Gott. Paulus macht die Erfahrung: Je mehr er wachsam
ist auf diese Gnaden, desto mehr wird sein ganzes Leben ein
Zusammenspiel mit der Gnade. "Mehr als alle habe ich mich abgemüht"
sagt Paulus, und dann fügt er hinzu: "nicht ich, sondern die Gnade
Gottes zusammen mit mir" (1 Kor 15,10).
Über eine aktuelle Gnade muss ich auf
jeden Fall etwas sagen, über die Gnade der Vergebung. Sie ist
vielleicht die Gnade, in der wir am stärksten erfahren, dass Gott
wirklich Freundschaft schenkt, sich selber, etwas von sich. Vielleicht
sind es gerade die Erfahrungen der Vergebung, wo wir auch erfahren,
dass Gott mir wirklich gnädig ist. Ich müsste jetzt noch etwas über
die Charismen sagen, aber die Zeit wird knapp. Sie wissen, es gibt
sie, die besonderen Gnadengaben in großer Vielfalt.
Sie haben eines als Kennzeichen: Sie
werden mir nicht für mich gegeben, sondern für andere. Wenn einer das
Charisma der Verkündigung hat, dann hat er das nicht, um sich daran zu
freuen, sondern um der Kirche nützlich zu sein. Wenn einer das
Charisma der Prophetie hat, dann nicht für sich, sondern für die
anderen. Charismen machen einen nicht heiliger. Jemand, der die Gabe
der Wunderheilungen hat, ist deshalb noch nicht ein Heiliger. Er hat
diese Gabe für andere bekommen. Auch das Bischofsamt oder das
Priesteramt ist ein Charisma, eine Gabe, die man nicht für sich
bekommen hat, sondern für die anderen (vgl. dazu KKK 799-801).
V.
Ich komme zum Schluss. Gott gibt mir etwas
von sich selbst, das ist Gnade. Aber kann ich dessen gewiss sein? Kann
man das erfahren? Nun sagt der Katechismus ganz entschieden und klar:
"Da die Gnade übernatürlich ist, entzieht sie sich unserer Erfahrung
und ist nur durch den Glauben zu erkennen" (KKK 2005). Weiß ich, ob
ich Gott gefalle? Kann ich sicher sein, dass ich in Gottes Gnade bin?
Ich sage das nicht, um uns Angst zu machen, aber der Katechismus sagt
sehr klar: "Wir können uns nicht auf unsere Gefühle oder Werke
verlassen." Selbst wenn ich noch so viel getan habe, bin ich nicht
sicher, dass ich Gott gefalle. Aber der Katechismus sagt: "Doch nach
dem Wort des Herrn: ‚An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen‘ (Mt
7,20), können wir, wenn wir an die Wohltaten Gottes in unserem Leben
und im Leben der Heiligen denken, darin eine Gewähr entdecken, dass
die Gnade in uns am Werk ist" (ebd.).
An den Früchten kann man erkennen, dass
die Gnade in uns am Werk ist. Das ermutigt uns zu einem stets
stärkeren Glauben und zu einer Haltung vertrauender Armut. "Ich stehe
mit leeren Händen vor Gott", sagt die kleine Theresia, "und ich bitte
dich nicht, dass du meine Werke zählst, sondern dass du mich mit
deiner Gerechtigkeit bekleidest."
Ich möchte schließen mit einem wunderbaren
Wort einer anderen Heiligen, der hl. Jeanne d'Arc, der Jungfrau von
Orléans, die mit 21 Jahren vor ihren Richtern stand, das waren die
großen Theologen der damaligen Zeit, die dieses analphabetische
Mädchen geplagt haben mit ihren hinterlistigen Fragen. Eine Frage, die
sie ihr stellten, war, ob sie gewiss sei, dass sie in der Gnade ist.
Und darauf hat Jeanne d'Arc eine wunderbare Antwort gegeben, und ich
möchte Ihnen diese Antwort mitgeben als ein Gebet auch für jeden von
uns. Auf französisch hat sie gesagt: "Si je n'y suis que Dieu m'y
mette; si j'y suis que Dieu m'y garde" – auf deutsch: Wenn ich nicht
in der Gnade Gottes bin, möge mich Gott in die Gnade versetzen. Wenn
ich in der Gnade Gottes bin, dann möge er mich darin bewahren." Ich
glaube dieses 21jährige Mädchen, die hl. Jeanne d'Arc hat damit
wunderbar gesagt, mit welchem Vertrauen wir auf die Gnade hoffen, ja
in diesem Sinn sogar mit ihr rechnen dürfen.
(Kardinal Christoph Schönborn) |