Gnade - Gottes Geschenk an den Menschen
Kardinal Schönborn
9. Katechese vom 12. Mai. 2002

 

Was ist das eigentlich, die Gnade? In dieser Katechese wird die Glaubenslehre der Kirche erkundet und das Wirken der Gnade in unserm Leben beobachtet.

 

Allmächtiger Gott, du hast uns durch das Wasser der Taufe neu geschaffen. Schütze dieses neue Leben, damit alle, die an dich glauben, dem Ansturm des Bösen standhalten und das Geschenk deiner Gnade treu bewahren. Darum bitten wir durch Christus, unsern Herrn. Amen (Tagesgebet, Samstag der 3. Osterwoche).

Heute ist von der Gnade die Rede. In der Osterzeit ist sehr viel von Gnade die Rede. Ich habe ein wenig die Tagesgebete aus der Osterzeit durchgesehen, also jene Gebete, die zu Beginn der Messe in diesen fünfzig Tagen der Osterzeit gebetet werden. Da ist zum Beispiel die Rede vom "Geschenk deiner Gnade", oder vom "Leben der Gnade". Einmal heißt es, dass wir die "Gnade des Glaubens" erbitten oder es heißt auch: "Erhalte in uns die Gnade". Ein Gebet sagt: "Du hast uns im österlichen Geheimnis die Quelle der Gnade erschlossen. Hilf uns im Guten voranzuschreiten, damit wir immer aus der Ostergnade leben."

Es ist also viel von Gnade die Rede. Aber was ist das eigentlich, die Gnade? Was heißt das? Wir wollen in dieser Katechese nicht nur die Glaubenslehre der Kirche erkunden, was der Katechismus dazu sagt, sondern vor allem schauen, wie das Wirken der Gnade aussieht, wie es sich in unserm Leben zeigt, versuchen, die Gnade gewissermaßen zu beobachten. Dabei stellt sich gleich die Frage: Kann man die Gnade überhaupt beobachten? Kann man sie kennen? Wissen wir überhaupt, erfahren wir, erleben wir die Gnade?

I.

Ich möchte mit einem Wort des hl. Paulus beginnen: "Wo die Sünde mächtig wurde, da ist die Gnade übergroß geworden" (Röm 5,20). In der letzten Katechese ging es um die Wirklichkeit der Sünde. Es ging mir darum zu zeigen, dass die Gnade eigentlich die Voraussetzung dafür ist, dass man die Sünde erkennt. Ich habe das Beispiel eines Kindes herangezogen: Ein Kind, das sich nicht angenommen weiß, dass sich abgelehnt fühlt, wird sich sehr schwer tun, seine Schuld, einen Fehler, eine Lüge zum Beispiel oder dass es etwas zerbrochen hat, einzugestehen.

Ein Kind, das sich nicht angenommen weiß wird andere beschuldigen, wird sich selber entschuldigen. Es kann sich nicht schuldig erkennen und bekennen, weil gar nicht der Raum dazu da ist, das Vertrauen, das notwendig ist, dass man seine Schuld überhaupt erkennen und benennen kann. Ich glaube, diese ganz einfache menschliche Erfahrung, dass es eigentlich erst in einer Umgebung, in der ich mich angenommen weiß, gelingt, wirklich meine Fehler einzugestehen, diese menschliche Erfahrung bestätigt und vertieft sich noch einmal im Glauben.

Weil ich im Glauben weiß, dass Gott mir gut will, brauche ich mich nicht von meiner Schuld zerstören zu lassen, sondern ich kann sie erkennen, ich kann sie bekennen, ich kann sie als meine Schuld annehmen, bereuen und kann neu beginnen. So stimmt es wirklich, was der Apostel sagt: Die Gnade ist immer größer als die Schuld. Erst im Licht der Gnade wird mir auch die Tiefe meiner Schuld bewusst.

Mich hat das im Leben der Heiligen immer wieder überrascht, wenn man bei ihnen liest, dass sie so ein starkes Schuldbewusstsein oder Sündenbewusstsein haben. Die große hl. Katharina von Siena hat am Ende ihres Lebens gesagt, sie sei Schuld an allen Übeln in der Welt. Das ist natürlich eine maßlose Übertreibung im alltäglichen Verständnis. Aber diese Überzeugung hatte sie, weil sie, wie wohl ganz wenige Menschen, die unfassliche Größe, Weite und Tiefe der Liebe Gottes erkannt hatte. Vor dieser Liebe kam ihr die eigene Armseligkeit so richtig zu Bewusstsein und sie konnte solche Worte sagen.

Aber was ist denn die Gnade? Sicher ein Wort, das uns etwas fremd geworden ist, aber wenn man genauer hinschaut, kommt es auch im heutigen Alltagssprachgebrauch durchaus vor. Auf jeden Fall ist das Evangelium, die Heilige Schrift voll von dem Wort Gnade, mehr noch von der Wirklichkeit, die hier gemeint ist. 155mal kommt das Wort Gnade im Neuen Testament vor. I

ch möchte versuchen anders zu sagen, was Gnade ist, mit einer Geschichte. Sie spielt im zwanzigsten Jahrhundert und hat sich mir sehr tief eingeprägt, ist für mich wie ein Schlüssel geworden, um zu verstehen, was Gnade bedeutet. Sie stammt von Nicolas Rajewski, einem alten Russen. Ich bin ihm im Jahr 1968 hier in Wien begegnet, ich war damals 23 Jahre, ein junger Dominikanerfrater. Er arbeitete damals am französischen Kulturinstitut. Er stammte aus einer alten russischen Adelsfamilie, die Fürsten Rajewski und war in seiner Jugend noch am Zarenhof Page gewesen. 1917, die kommunistische Revolution, dramatische Flucht, er kam nach Frankreich und verdingte sich in der Fremdenlegion und wurde Offizier. Dort, in der Fremdenlegion, spielt die Geschichte, die er mir damals, 1968 erzählt hat. Er hatte unter seinen Fremdenlegionären einen Deutschen, den er als "un vrai brut" beschrieben hat, einen brutalen Typ, unsympathisch, grausam. Dieser deutsche Fremdenlegionär wurde in einem Gefecht schwer verletzt, so dass er im Sterben lag. Er ließ seinen Offizier, Nicolas Rajewski, zu sich rufen, der eigentlich widerwillig hinging, weil er mit diesem Deutschen sehr negative Erfahrungen gemacht hatte. Zu seiner Überraschung sagte ihm der Schwerverletzte in ganz feinen und präzisen Worten: "Glauben Sie, dass Gott mir etwas von sich schenken kann?"

Dieser junge Offizier, der nicht besonders religiös war, war überrascht über diese Frage des deutschen Legionärs und fragte ihn zurück: "Was meinen Sie damit?" Darauf sagte ihm dieser Verwundete: "Wenn ich jetzt sterbe und mit meinem ganzen schmutzigen Leben vor Gott komme, dann werden die Heiligen auf mich zeigen und ich muss mich schämen und ich kann nicht in den Himmel kommen. Aber wenn Gott mir etwas von sich gibt, von sich selber gibt, dann können die Heiligen nichts gegen mich sagen." Nicolas Rajewski, der damals etwa das Alter hatte, das ich hatte als er mir das als alter Mann erzählt hat, war verlegen und hat ihm gesagt: "Gott wird dir sicher etwas von sich geben." Der Legionär ist dann gestorben.

Ich glaube, dieser Satz sagt ganz genau, worum es in der Gnade geht: "Wenn Gott mir etwas von sich gibt ..." glaube, Das ist eine ganz genaue Definition von Gnade. Nur so kann ich vor Gott erscheinen, wenn Gott mir etwas von sich gibt. Nur so bin ich gewissermaßen vor allen diesen Heiligen, die es da im Himmel gibt und die so gut gelebt haben, genehm, finde ich Gnade vor ihnen. Da können sie mich nicht ablehnen. "Etwas von sich selbst ..." – man könnte sagen, wenn Gott gewissermaßen seinen Mantel um meine Nacktheit wirft, dann bin ich unter seinem Schutz. Aber noch etwas mehr, es ist nicht nur das Äußerliche, dass er mich in seinen Mantel nimmt, sondern etwas von ihm selber. Ich glaube, das ist Gnade, etwas von Gott selbst.

Nun mag man einwenden: Wer so ein Leben geführt hat wie dieser Fremdenlegionär, der sicher viel am Kerbholz hatte, der ein schlechtes Leben geführt hat, der hat allen Grund Gott zu bitten, ihm etwas von sich selbst zu geben. Aber wenn man ein normales Leben geführt hat oder gar, wenn man zu den Heiligen gehört, die nicht nur ein normales, sondern ein außergewöhnliches, ein heiliges Leben geführt haben? Ich glaube, die Schwierigkeit mit der Gnade in der heutigen Zeit ist vor allem, dass viele Menschen, vielleicht wir alle mehr oder weniger, das Gefühl haben: Ich muss es selber schaffen. Ich muss mein Ziel erreichen. Ich muss in Ordnung sein. Ich muss sozusagen o.k. sein.

Das Wort Gnade erinnert uns doch an Abhängigkeit. Jeder, der im Berufsleben steht, kennt solche Situationen der Abhängigkeit. Das ist für viele Menschen nicht anders möglich, als dass man vom Wohlwollen eines Chefs abhängt, eines Politikers, eines Mächtigen, vielleicht gilt das auch für die Bischöfe, für den Pfarrer. Das Gefühl, in Ungnade fallen zu können, also abhängig zu sein von dem Wohlwollen oder dem Nichtwohlwollen des Chefs, ist das nicht etwas Demütigendes? Abhängig sein von der Huld oder der Antipathie eines anderen, darin liegt etwas Demütigendes. Man ist nicht sein eigener Herr oder seine eigene Frau, nicht sein eigener Chef. Irgendwie ist es nicht leicht, das Gnadenbrot zu essen. Auch wenn es ein gut bestrichenes Gnadenbrot ist, wenn man nicht hungert dabei, man ist abhängig. Kann man ein freier Mensch sein, wenn man von jemand anderes Gnaden abhängig ist? Wie ist das erst recht Gott gegenüber? Ist man Gott gegenüber nicht nur irgendwie sondern furchtbar abhängig? Ist also Gnade etwas, worum man betteln muss? Ist das nicht demütigend? Macht das uns nicht unmündig?

Wie ist das also mit der Gnade? Ist das eigentlich etwas, was der menschlichen Würde unwürdig ist, wenn man auf Gnade angewiesen ist? In der Reinkarnationslehre, die ja viele Menschen auch bei uns inzwischen sich zu eigen gemacht haben, dass man also immer wieder auf diese Welt kommen muss, steht dieser Gedanke im Vordergrund. Man muss es selber schaffen, nicht Gnade sondern eigene Arbeit, mühsam abarbeiten, was man an Fehlern hat. Aber auf der andern Seite ist man nicht abhängig.

II.

Versuchen wir ein wenig tiefer hineinzugehen in die Frage, was es mit der Gnade auf sich hat. Ich glaube, wir müssen mit einer ganz nüchternen Feststellung beginnen: Wir sind alle furchtbar abhängig. Es gibt gar kein Leben, das nicht in tausenderlei Weisen von anderen abhängig ist. In fast allem hängen wir von anderen ab. Unsere Autonomie, unsere Selbständigkeit gibt es natürlich, aber sie ist sehr begrenzt. Vor allem gibt es keine Selbständigkeit ohne ein klares Ja zu den vielen Abhängigkeiten. Wir hängen von unseren Eltern ab. Unser Dasein haben sie uns geschenkt. Wir hängen von unserer Umwelt ab, von der Luft, von allem, was Leben ermöglicht.

Wir hängen in zahllosen Zusammenhängen von andern Menschen ab. Was wäre unser Leben ohne die vielen Dienstleistungen, ohne die wir gar nicht leben könnten? Ist es mit meiner Freiheit vereinbar, dass ich in ein Flugzeug steige und einfach von den Piloten abhängig bin, von den Flutlotsen und noch von vielen anderen? Ist es unter meiner Würde, dass ich mich in so viele Abhängigkeiten begebe, dass ich so viel Hilfe brauche? Widerspricht das nicht meiner Eigenständigkeit, dass ich in fast allem in meinem Leben auf die Gnade anderer angewiesen bin?

Die Gnade, jetzt im umfassenden Sinn als Wohlwollen, als Hilfe, als Zuwendung, auch als Dienstleistungen, ich bin ständig abhängig von den Zuwendungen, den Gnaden anderer. Selbstverwirklichung, das große Stichwort unserer Zeit, Selbstverwirklichung gibt es eigentlich nicht. Sich selbst verwirklichen geht nur durch ein weites Netz von Abhängigkeiten, von Zuwendungen, von Diensten, die ich empfange und die ich natürlich auch leisten muss für andere.

"Alles ist Gnade", wir kennen dieses Wort der kleinen hl. Theresia "Toute est grâce" – "Alles ist Gnade", es ist vielleicht das bekannteste Wort der kleinen hl. Theresia. Im Grunde gilt das bereits im menschlichen Bereich. Alles ist Gabe. "Was hättest du, was du nicht empfangen hast?", sagt Paulus (1 Kor 4,7). Das kann ich, darf ich, muss ich aus ganzem Herzen sagen: Was hätte ich, was ich nicht empfangen hätte? Das Wissen darum ist nicht eine traurige Feststellung: Um Gottes willen, wie abhängig sind wir!, sondern ist eigentlich der Rahmen unserer Freiheit. Das zu wissen macht mich nicht unfrei.

Wenn ich nur dann frei wäre, wenn ich niemanden brauche, wenn ich nur dann mein eigener Herr oder meine eigene Frau wäre, wenn ich nichts brauche, das wäre ein trauriges Menschenbild. Jesus sagt, er habe sich zum Diener aller gemacht. Es gibt keinen Menschen, der freier ist, als Jesus. Es gibt keinen Menschen, der so entschieden gesagt hat, dass er in allem abhängig ist vom Vater. Er tut nichts aus sich selbst. Alles, was er tut, was er sagt, tut er, weil er es beim Vater sieht und der Vater es ihm aufträgt. Und er ist ganz frei.

Alles ist Gnade. Das gilt schon im menschlichen Bereich. Aber es gilt natürlich in ganz besonderer Weise von Gott her. "Was hättest du, was du nicht empfangen hast?" Wenn wir darüber ein bisschen nachdenken, dann wird klar, dass dieses Wort der kleinen Theresia: "Alles ist Gnade", wirklich alles betrifft, mein Sein, mein Dasein, mein Leben habe ich von Gott. Meine Fähigkeiten, den Verstand, den Willen, die Gefühle, alles habe ich von Gott. Die Welt, in der wir leben, haben wir von Gott. Kurz: Könnten wir etwas nennen, was nicht von Gott ist, außer dem Bösen? (Das ist ein Thema, das ich jetzt nicht noch einmal aufgreifen möchte.)

Nun stellt sich aber die Gegenfrage: Wenn wirklich alles Gnade, alles Geschenk ist, was ist dann das Besondere der Gnade? Gibt es dann auch so etwas wie die besondere Zuwendung Gottes, die über das hinausgeht, was sozusagen eh schon jeder Mensch hat, einfach dadurch, dass er liebt, dadurch, dass er in dieser Welt ist, Gaben, Befähigungen, Begabungen hat? Wenn das schon alles Gnade ist, was soll dann die Rede von der Gnade, von der wir vorhin in der Osterzeit gehört haben, die Taufgnade, oder die Gnade einer Berufung? Was ist das Besondere an der Gnade?

Schauen wir auf den Apostel Paulus. Paulus hat wie kein anderer ausgiebig und immer wieder über die Gnade gesprochen. Die Wurzel davon ist zweifellos seine Berufungserfahrung. Da ist ihm etwas ganz Besonderes widerfahren, etwas, was er nicht schon einfach mitgebracht hat. Er sagt es selber im Galaterbrief, als er über sein eigenes Leben nachdenkt und den Galatern beschreibt, wie er zum Glauben an Christus gekommen ist: "Als es aber dem gefiel, der mich vom Mutterschoß an erwählt hatte, seinen Sohn in mir zu offenbaren" (vgl. Gal 1,15f).

Es hat Gott gefallen, Paulus zu rufen. Er weiß, er hat das absolut nicht verdient, im Gegenteil, er hat die Christen verfolgt, er hat Christus verfolgt, völlig unverdient ist ihm das geschenkt worden. Auf dem Weg nach Damaskus ist ihm Jesus erschienen und hat sein Leben grundlegend verändert. Wenn wir von Gnade reden, dann meinen wir doch vor allem solche Erfahrungen, wo Gott in unser Leben in besonderer Weise eingreift. Später sagt der Apostel einmal im Rückblick auf seine eigene Bekehrung und Berufung: "Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin, und sein gnädiges Handeln ist in mir nicht ohne Wirkung geblieben" (1 Kor 15,10). Gottes Gnade hat ihn zu dem gemacht, was er ist. Hier geht es also offensichtlich um etwas anderes, etwas Größeres als das, was wir als natürliche Gaben mitbringen, auch etwas Größeres, etwas anderes als das, was wir von uns aus können. Auch wenn wir sagen müssen: Alles, was ich kann, ist auch Geschenk, auch das hat mir Gott geschenkt. Mit Gnade im eigentlichen Sinn bezeichnen wir eine besondere Zuwendung Gottes.

III.

Der deutsche Fremdenlegionär meinte wohl diese ganz besondere Zuwendung: Wenn Gott mir etwas von sich selber gibt, dann kann ich in den Himmel, etwas Besonderes, etwas, was wir nicht schon einfach auf unserem Lebensweg mitgebracht haben. Dieses besondere bezeichnet der Soldat: "etwas von sich selbst", etwas von Gott selber. Schauen wir also hinein, und jetzt muss es doch ein wenig Katechismuslehre werden: Was sagt der Katechismus über die Gnade? Ich möchte das in drei Punkten tun. Zuerst was sagt er über die Kennzeichen der Gnade, woran erkennt man die Gnade? 2. Welche Arten von Gnaden gibt es? Die dritte und letzte Frage wird dann sein: Kann man Gnade spüren, erfahren, erleben? Kann man wissen, ob man in der Gnade ist? Wie weiß ich, wie ich vor Gott stehe?

Kommen wir zuerst zu den Kennzeichen der Gnade. Der Apostel Paulus wusste, seine Berufung ist völlig ungeschuldet. Gnade ist ungeschuldet, etwas, das ich nicht mir selber verdienen kann, etwas was mir nicht geschuldet ist, so wie ich am Monatsende das Recht auf meinen Lohn habe oder wie ich ein Anrecht auf eine Krankenversicherung habe, wenn ich eingezahlt habe.

Ich habe kein Anrecht auf die Gnade. Aber das Rätselhafte ist, dass sie trotzdem notwendig ist. Sie ist absolut notwendig. Sie ist ungeschuldet, ich habe kein Recht darauf, aber ich brauche sie. Ohne Gnade, das wusste dieser Legionär in seiner letzten Stunde, ohne Gnade komme ich nicht in den Himmel. Ohne dieses Geschenk ist er chancenlos. Ist das nicht eine ungerechte Situation? Macht uns das nicht wieder bewusst, wie sehr wir abhängig sind? Wie ist diese Spannung zu verstehen?

Die klassische Theologie hat Jahrhunderte lang um diese Frage gerungen. Der hl. Augustinus hat die letzten Jahre seines Lebens bitter darum gekämpft, zu sagen: Die Gnade ist ungeschuldet. Wir haben kein Anrecht darauf, aber wir brauchen sie. Jahrhunderte lang haben die Dominikaner und die Jesuiten um diese Frage gerungen und miteinander gestritten, so sehr und so schlimm, dass eines Tages der Papst gesagt hat: Ihr dürft nicht mehr darüber diskutieren. Er hat die Diskussionen über die Gnade verboten. Aber diese Frage hat auch das Abendland gespalten. Luthers Reformation ging entscheidend um die Frage der Gnade: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Wie steht es mit dem, was der Mensch leisten muss? Muss er Werke tun um Gott gnädig zu stimmen? Wie steht das mit der Gnade – ungeschuldet und doch notwendig?

Ich möchte einen ganz einfachen Zugang versuchen, ohne zu behaupten, dass ich Jahrhunderte lange Diskussionen damit lösen kann. ganz einfacher Zugang. Gnade heißt doch, dass Gott sich dem Menschen frei zuwendet, dass er ihm ein Angebot macht, dass Gott dem Menschen das Angebot seiner Freundschaft macht, dass Gott dem Menschen anbietet: Komm und nimm teil an meinem Leben! Nimm teil an meiner Freude! Sie kennen vielleicht die Ikone von der heiligsten Dreifaltigkeit von Andrej Rubjow. Sie können sich diese Ikone vorstellen. Die drei Engel, die Abraham besuchen, sitzen um einen Tisch und in der Mitte des Tisches ist eine Schale, in der ein Opfertier gezeigt wird. Auf dieser Ikone sieht man symbolisch dargestellt die Gemeinschaft des Dreifaltigen Gottes, diese innige Verbundenheit der drei göttlichen Personen, der eine Gott in drei Personen. Der vierte Platz, der vordere Platz an diesem Tisch ist frei. Auf diesen Platz sind wir eingeladen: Komm und nimm meine Freundschaft an!

Gnade ist dieses Angebot. Aber wenn es ein Angebot der Freundschaft ist, dann ist diese Freundschaft nicht automatisch da. Sie ist ein Geschenk, das uns angeboten ist, dass aber auch angenommen werden muss. Sie ist nicht schon dadurch da, dass Gott in unser Herz die Sehnsucht gelegt hat, zu unserm Ursprung und Ziel zurückzukehren. Die Gottesfreundschaft ist nicht schon dadurch da, dass wir fromm sind oder religiös sind, sondern erst dadurch, dass wir ausdrücklich die Freundschaft, die Einladung Gottes annehmen. So wie Hananias, den Jesus gerufen und zu Paulus geschickt hat, geantwortet hat: Hier bin ich. Was willst du, Herr (Apg 9,10); so wie Maria auf die Einladung, das Angebot, die Botschaft Gottes gesagt hat: Mir geschehe nach deinem Wort! (Lk 1,38). Gnade heißt also Angebot, das Annahme braucht. Ein persönlicher Anruf: Willst du nur mein Geschöpf sein, willst du nicht auch mein Freund, mein Kind sein? Willst du nicht Sohn Gottes sein aus Gnade, wie Jesus selber? Wollt ihr nicht meine Kinder sein, meine Söhne und Töchter?

Auf dieses Angebot Gottes kann nur die Freiheit antworten, und ohne Freiheit gibt es keine Freundschaft. Diese Antwort muss ausdrücklich gegeben werden. Sie entspricht dem Angebot der Gnade, wenn ich dieses Angebot annehme. Diese beiden Momente zusammen machen erst die Gnade aus. Sonst bleibt, wie Paulus sagt, die Gnade vergeblich. Er kann sagen: Gottes Gnade ist in mir nicht vergeblich gewesen. Er hat sie angenommen und er hat mit ihr gewirkt, er ist auf die Freundschaft eingegangen. Ein ganz wichtiges Element: Auf die Freundschaft habe ich kein Anrecht, sie ist ein Geschenk.

Aber die Freundschaft mit Gott ist lebensnotwendig, denn Gott hat uns nicht nur geschaffen, dass wir seine Geschöpfe sind, sondern dass wir seine Kinder werden, dass wir im Sohn Gottes Söhne und Töchter Gottes werden. Er hat uns als freie Wesen geschaffen, damit wir frei auf sein Angebot eingehen können. Lebensgemeinschaft mit Gott, das ist Gnade. Der hl. Petrus sagt es so: dass wir teilhaftig werden der Natur Gottes, der göttlichen Natur (2 Petr 1,4). Die große Tradition der Kirche hat gesagt: Die Gnade vergöttlicht den Menschen, sie schenkt uns wirklich Gottes Leben.

IV.

Nun hat die Kirche versucht, und damit bin ich beim zweiten Punkt, diese Wirklichkeit des Angebotes Gottes zu ordnen, zu unterscheiden. Wie sieht dieses Angebot Gottes aus, diese vergöttlichende Gnade? Die Kirche unterscheidet im großen und ganzen drei Arten der Gnade. Da gibt es zuerst dieses Grundangebot Gottes, das uns in der Taufe geschenkt ist, das die Kirche die heiligmachende Gnade nennt, die uns zu neuen Menschen macht. Aber dann gibt es eine zweite Art von Gnaden, die jeden Tag da sind, in den verschiedensten Umständen und Situationen, die aktuellen Gnaden oder auch die helfenden Gnaden. Dann gibt es ein drittes, das sind die sogenannten Gnadengaben, die Charismen, besondere Gaben, die Gott gibt, prophetische Gaben, Dienstgaben, Begabungen, von denen wir noch kurz reden werden.

Zuerst das Fundament, die Taufgnade. Hier muss ich doch ein wenig in den Katechismus hineinhorchen. Was ist die Taufgnade? Der Katechismus sagt: "Die Gnade Christi besteht darin, dass uns Gott ungeschuldet sein Leben schenkt. Er gießt es durch den Heiligen Geist in unsere Seele ein, um sie von der Sünde zu heilen und sie zu heiligen. Das ist die heiligmachende oder vergöttlichende Gnade, die wir in der Taufe erhalten haben" (KKK 1999). Dann zitiert der Katechismus den hl. Paulus: "Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung ..." (2 Kor 5,17). Die Taufgnade ist etwas ganz Wunderbares. Freilich, wenn ich ein wenig hineinhorche in das, was der Katechismus über die Taufgnade sagt – das ist sehr viel – dann stellt sich sofort die Frage: Merkt man das auch? Merkt man, dass wir getauft sind? Spürt man das? I

ch lese Ihnen ein paar Worte des hl. Gregor von Nazianz vor, des großen Kirchenvaters, der den Neugetauften sozusagen die ganze Herrlichkeit dessen anpreist, was sie jetzt empfangen haben: "Die Taufe ist die schönste und herrlichste der Gaben Gottes ... Wir nennen sie Gabe, Gnade, Salbung, Erleuchtung, Gewand der Unverweslichkeit, Bad der Wiedergeburt, Siegel, und nach allem, was besonders wertvoll ist" (Oratio 40,3; KKK 1216).

Wenn die Taufe also die herrlichste, die schönste der Gaben Gottes ist, warum merkt man dann so wenig davon? Warum kann man die Taufgnade nicht unmittelbar spüren, sehen, wahrnehmen? Dieses Geschenk der heiligmachenden Gnade, wie kann man das feststellen? Wir werden gleich noch auf die Frage zurückkommen: Merkt man, ob man in der Gnade Gottes ist? Vorerst sei auf eines hingewiesen: Diese grundlegende Gnade Gottes, die wir in der Taufe empfangen, ist nicht zuerst Sache der Erfahrung, des Erlebens, sondern des Glaubens. Ich glaube, dass Christus mich in der Taufe in sein Leben hineingenommen hat.

 Ich glaube, dass mein Leben Christus gehört. Ich kann es vielleicht gelegentlich ahnen, auch vom Gefühl her, aber zuerst glaube ich es. Ich glaube, dass ich durch die Taufe mit Christus gestorben und auferstanden bin. Im Glauben bin ich dessen sicher, auch wenn ich es nicht spüre. Ich weiß, seit der Taufe gehört mein Leben Christus. Das ist der Grund, warum wir Kinder taufen, nicht um möglichst viele Katholiken im Register eingeschrieben zu haben, um möglichst früh Kirchenmitglieder zu haben, sondern weil wir glauben, dass durch die Taufe die heiligmachende Gnade geschenkt wird, das heißt, dass Gott dieses Menschenkind in sein Leben hineinnimmt, es zu einem Gotteskind macht, dass dieses Kind mit Christus bekleidet ist, dass künftig sein Leben in der Hand Gottes liegt und bei ihm geborgen ist. Trotzdem ist die Frage der Erfahrung natürlich wichtig. Kann man das irgendwie wahrnehmen? Ich will doch wissen, ob Gott mir gnädig ist. Wie erfahre ich das? Ich komme gleich noch darauf zurück.

Ich muss jetzt zuerst etwas sagen über die aktuellen Gnaden, denn dort erfahre ich Gnade wahrscheinlich direkter als die Taufgnade, aktuelle Gnade, Gnadenhilfen, eine unendliche Bandbreite: Gott in meinem täglichen Leben. Vieles von diesen Gnaden nehmen wir leider nicht wahr, weil wir zu oberflächlich sind, weil wir darüber weggehen, aber wenn wir hinschauen ist es unendlich viel, das Gott uns ständig an kleinen Zuwendungen, Aufmerksamkeiten, Hilfen gibt, "Gnadenschübe", große oder kleine. Große "Gnadenschübe", aktuelle Gnaden sind natürlich die Gnaden einer Bekehrung, das kann ein ganzes Leben umwälzen.

Aber auch ganz kleine Gnaden: Beim Gebet kommt mir ein Gedanke, eine Einsprechung, und ich erkenne: Gott gibt mir einen Wink; oder etwas drängt mich, zu einem Menschen hinzugehen und ihn anzusprechen, Anstoß des Heiligen Geistes; es steht mir ein schwieriges Gespräch bevor, ich bitte Gott um HIlfe und ich erfahre, das Gespräch geht erstaunlich gut, ich danke Gott für die aktuelle Hilfe; ich versäume den Autobus und stelle fest: Gott hat das zugelassen, damit ich eine ganz wichtige Begegnung mache, Gott hat es gefügt. Das sind helfende Gnaden, ständig erlebbar, wenn wir aufmerksam sind.

Dazu gehören auch die "Standesgnaden". Wie werde ich meine neue Aufgabe wahrnehmen, als Pfarrer in einer schwierigen Pfarre oder als Bischof in einer wunderschönen Diözese, in einer neuen Berufssituation? Ich erfahre, dass es besondere Hilfen gibt, Standesgnaden. In allen Ständen, Altersstufen, es gibt spezifische Gnaden der Kinderzeit und des Alters, es gibt Gnaden für den Krankenstand, Gnaden für den Witwenstand, aber alle diese Gnaden wollen auch erbeten sein, denn sie sind alle vielfältiger Ausdruck der Freundschaft mit Gott. Paulus macht die Erfahrung: Je mehr er wachsam ist auf diese Gnaden, desto mehr wird sein ganzes Leben ein Zusammenspiel mit der Gnade. "Mehr als alle habe ich mich abgemüht" sagt Paulus, und dann fügt er hinzu: "nicht ich, sondern die Gnade Gottes zusammen mit mir" (1 Kor 15,10).

Über eine aktuelle Gnade muss ich auf jeden Fall etwas sagen, über die Gnade der Vergebung. Sie ist vielleicht die Gnade, in der wir am stärksten erfahren, dass Gott wirklich Freundschaft schenkt, sich selber, etwas von sich. Vielleicht sind es gerade die Erfahrungen der Vergebung, wo wir auch erfahren, dass Gott mir wirklich gnädig ist. Ich müsste jetzt noch etwas über die Charismen sagen, aber die Zeit wird knapp. Sie wissen, es gibt sie, die besonderen Gnadengaben in großer Vielfalt.

Sie haben eines als Kennzeichen: Sie werden mir nicht für mich gegeben, sondern für andere. Wenn einer das Charisma der Verkündigung hat, dann hat er das nicht, um sich daran zu freuen, sondern um der Kirche nützlich zu sein. Wenn einer das Charisma der Prophetie hat, dann nicht für sich, sondern für die anderen. Charismen machen einen nicht heiliger. Jemand, der die Gabe der Wunderheilungen hat, ist deshalb noch nicht ein Heiliger. Er hat diese Gabe für andere bekommen. Auch das Bischofsamt oder das Priesteramt ist ein Charisma, eine Gabe, die man nicht für sich bekommen hat, sondern für die anderen (vgl. dazu KKK 799-801).

V.

Ich komme zum Schluss. Gott gibt mir etwas von sich selbst, das ist Gnade. Aber kann ich dessen gewiss sein? Kann man das erfahren? Nun sagt der Katechismus ganz entschieden und klar: "Da die Gnade übernatürlich ist, entzieht sie sich unserer Erfahrung und ist nur durch den Glauben zu erkennen" (KKK 2005). Weiß ich, ob ich Gott gefalle? Kann ich sicher sein, dass ich in Gottes Gnade bin? Ich sage das nicht, um uns Angst zu machen, aber der Katechismus sagt sehr klar: "Wir können uns nicht auf unsere Gefühle oder Werke verlassen." Selbst wenn ich noch so viel getan habe, bin ich nicht sicher, dass ich Gott gefalle. Aber der Katechismus sagt: "Doch nach dem Wort des Herrn: ‚An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen‘ (Mt 7,20), können wir, wenn wir an die Wohltaten Gottes in unserem Leben und im Leben der Heiligen denken, darin eine Gewähr entdecken, dass die Gnade in uns am Werk ist" (ebd.).

An den Früchten kann man erkennen, dass die Gnade in uns am Werk ist. Das ermutigt uns zu einem stets stärkeren Glauben und zu einer Haltung vertrauender Armut. "Ich stehe mit leeren Händen vor Gott", sagt die kleine Theresia, "und ich bitte dich nicht, dass du meine Werke zählst, sondern dass du mich mit deiner Gerechtigkeit bekleidest."

Ich möchte schließen mit einem wunderbaren Wort einer anderen Heiligen, der hl. Jeanne d'Arc, der Jungfrau von Orléans, die mit 21 Jahren vor ihren Richtern stand, das waren die großen Theologen der damaligen Zeit, die dieses analphabetische Mädchen geplagt haben mit ihren hinterlistigen Fragen. Eine Frage, die sie ihr stellten, war, ob sie gewiss sei, dass sie in der Gnade ist. Und darauf hat Jeanne d'Arc eine wunderbare Antwort gegeben, und ich möchte Ihnen diese Antwort mitgeben als ein Gebet auch für jeden von uns. Auf französisch hat sie gesagt: "Si je n'y suis que Dieu m'y mette; si j'y suis que Dieu m'y garde" – auf deutsch: Wenn ich nicht in der Gnade Gottes bin, möge mich Gott in die Gnade versetzen. Wenn ich in der Gnade Gottes bin, dann möge er mich darin bewahren." Ich glaube dieses 21jährige Mädchen, die hl. Jeanne d'Arc hat damit wunderbar gesagt, mit welchem Vertrauen wir auf die Gnade hoffen, ja in diesem Sinn sogar mit ihr rechnen dürfen.

(Kardinal Christoph Schönborn)



 



 

 
  









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