"Die
Wurzel trägt dich!" - Christentum und Judentum
von Kardinal Dr.
Christoph Schönborn
5. Kathechese
1999/2000, Stephansdom, Wien
am 30. Jänner 2000
Lasset uns beten! Komm Heiliger Geist, Geist der Wahrheit und der Liebe,
Geist der Erkenntnis und der Stärke, stärke unseren Willen, erleuchte
unsere Erkenntnis und wohne in unserem Gedächtnis. Führe uns in die ganze
Wahrheit ein, führe uns zu Christus unserem Herrn. Amen!
Es freut mich, den koptischen Bischof von Deutschland heute in unserer
Mitte begrüßen zu dürfen, der aber etwas früher weg muß, weil der Zug dann
schon nach Berlin zurückgeht. Wir teilen mit ihm die Trauer um den
plötzlichen Tod, den plötzlichen Heimgang des langjährigen koptischen
Priesters von Wien, P. Johannes El Baramousy, der ein wirklich treuer
Diener Christi war, ein Priester mit ganzem Herzen. Wir trauern auch um
den für die Kontakte mit den östlichen Kirchen so verdienten Präsidenten
Dkfm. Alfred Stirnemann, der am Freitag verstorben ist.
Das Thema der heutigen Katechese, der ersten im neuen Jahrtausend - wenn
man es so nennen darf, oder sagen wir zur Sicherheit im Jahr 2000, im
Heiligen Jahr -, ist: “Die Wurzel trägt dich und nicht du die Wurzel -
Christentum und Judentum.” Es werden sicher viele Fragen heute
offenbleiben und wahrscheinlich müßten wir eine ganze Reihe von Katechesen
haben, um die vielen Fragen, die mit diesem so lebenswichtigen Thema für
unseren Glauben verbunden sind, ausführlich zu behandeln. Ich bitte auch,
wie ich es immer wieder sage, mir schriftlich Fragen zukommen zu lassen,
wenn manches unklar ist oder wenn Sie zu dem einen oder anderen Thema
gerne noch Ergänzungen, Vertiefungen gehört hätten.
Zu diesem Thema gibt es natürlich viele Zugänge. Es gibt einmal den ganz
einfachen Zugang, daß wir als Christen und Juden versuchen, miteinander
gut auszukommen, tolerant zu sein, die Religionsfreiheit gegenseitig zu
achten, und das gilt nicht nur für das Verhältnis von Christen und Juden,
das gilt für alle Religionen. Und hier hat uns der Heilige Vater sicher
ein großes Vorbild gegeben, indem er in den vergangenen Jahren immer und
immer wieder den Dialog der Religionen, das gegenseitige Interesse, die
Wachheit füreinander gefördert hat. Wir denken hier an die Begegnung der
Religionen, der Religionsgemeinschaften in Assisi. Aber das wird heute
nicht unser Zugang sein. So wichtig es ist, daß es dieses ganz einfache
gegenseitige Verständnis unter den Religionen gibt: Wir haben zum Judentum
eine ganz einzigartige Beziehung wie zu keiner anderen Religion. So sehr,
daß unser Glaube ohne diese Beziehung gar nicht bestehen könnte. Wir haben
das AT - heute haben wir wie an jedem Sonntag im Gottesdienst, in der
Eucharistie eine Lesung aus dem AT gehört - und sind mit ihm mehr oder
weniger vertraut, werden aber doch immer wieder von der Kirche zum AT
hingeführt. Wir beten die Psalmen, zahllose Menschen beten auf der ganzen
Welt das Stundengebet, die Tagzeiten und damit die Psalmen des Alten
Bundes. Als Edith Stein nach ihrer Taufe mit ihrer Mutter in Breslau in
die Synagoge ging, hatte sie ihr lateinisches Brevier mit dabei und zur
großen Verwunderung der gläubigen jüdischen Mutter hat Edith im Brevier
mitbeten können, was in der Synagoge gebetet wurde.
Wir lesen die Propheten. Wie wichtig sind die Propheten für unseren
Glauben? In den Kirchen und Domen finden wir die Darstellungen der
Propheten, weil sie hinweisen auf das kommende Heil, auf Christus. Wir
haben die Geschichtsbücher des Alten Bundes, von der Genesis angefangen
bis hin zu den wunderbaren, aber auch dramatischen Geschichtsbüchern, in
denen uns die lange Geschichte des Volkes Gottes vor Augen geführt wird.
Wir haben die Weisheitsbücher. Wieviel an menschlicher Erfahrung, an
Glaubenserfahrung wird vermittelt durch die alttestamentlichen
Weisheitsbücher, die Sprichwörter, Jesus Sirach, das Buch der Weisheit,
Hiob, um nur einige zu nennen. Wir beten das Magnificat im Tagzeitengebet,
jeden Abend in der Vesper betet die Kirche das Magnificat Mariens, wo es
ganz am Schluß heißt: “Er nimmt sich seines Knechtes Israel an und denkt
an sein Erbarmen, das er unseren Vätern verheißen hat, Abraham und seinen
Nachkommen auf ewig” (Lk 1,54-55). Das beten wir Christen: “Er nimmt sich
seines Knechtes Israel an, er denkt an sein Erbarmen, das er unseren
Vätern verheißen hat, Abraham und seinen Nachkommen.”
Wir beten das so selbstverständlich, aber was bedeutet das eigentlich, daß
unser ganzes christliches Leben zusammengefaßt ist in einem solchen Gebet,
das wir mit Maria sprechen? Was haben wir denn mit Abraham zu tun? Was
haben wir Europäer mit der Geschichte eines kleinen, unbedeutenden Volkes
aus dem Vorderen Orient zu tun? Diese Frage wird heute von manchen
gestellt, in den großen Regionen Asiens, wo uralte Religionen die Mehrheit
der Bevölkerung bestimmen. In Indien etwa, wo manche Christen verlegen
sind und sich fragen, ist es nicht besser, die Bücher dieser alten
Religionen zu verwenden als dieses seltsame AT? Was soll es in Afrika, was
in Lateinamerika? Und immerhin fragen auch Menschen bei uns in Europa:
Wozu haben wir eigentlich das AT? Aber die Frage ist uralt, und bereits im
Jahre 44 hat die Kirche, die Gemeinde von Rom, eine ganz wichtige
Entscheidung getroffen. Damals lehrte ein sehr brillanter, intelligenter
Mann in Rom, Markion mit Namen, der die Überzeugung vertrat, jetzt mit
Jesus Christus sei Neues gekommen. Das Alte sei wirklich vergangen, der
Gott des AT sei ein rächender, strafender Gott, das sei nicht der liebende
Gott Jesu Christi. Deshalb, so lehrte Markion, müsse man das AT
abschaffen. Aber die Kirche hat nicht das AT verworfen, sondern Markion.
Es war die erste ausdrückliche Häretiker-Verurteilung in der alten Kirche,
die Kirche hat sich klar zum AT bekannt.
Was bedeutet dieses “Ja” zum AT für die Kirche? Es bedeutet, daß die
Geschichte, die uns im AT berichtet wird, unsere Geschichte ist. Wir sind
Mitglieder des Volkes Gottes geworden, wir sind, wie Papst Leo der Große
einmal sagt, “in die Familie der Patriarchen aufgenommen”. Wir haben, wie
es in der Osternacht in einem Gebet heißt, Anteil bekommen an der
israelitica dignitas, an der Würde des Volkes Israel. Wir sind, wie Pius
XI. gesagt hat, geistlich Semiten geworden. Seien wir ehrlich, viele tun
sich schwer mit dem AT. Es ist uns oft zu unbekannt und es ist uns einfach
fremd, vieles von dem, was uns da berichtet wird, hat für unser heutiges
Leben wirklich den Charakter eines fernen, fremden Textes. Aber
andererseits, wie viele wunderbare Stellen gibt es im AT, und je mehr wir
uns darauf einlassen, desto mehr sehen wir, wie sehr das AT unsere
Geschichte ist - ich werde darauf gleich noch einmal zurückkommen.
Wir kommen damit zu einer ganz schwierigen Frage: Was bedeutet für uns das
heutige Judentum? Was bedeutet für uns das jüdische Volk, der jüdische
Glaube? Ist das einfach eine Religion unter anderen? Haben wir eine
besondere Beziehung zu dieser Religion, zu diesem Glauben? Ein
interessantes Zeichen war, als es nach dem zweiten Vatikanischen Konzil in
diesem großen Aufbruch des Ökumenismus und des Dialogs darum ging, zu
fragen, wohin eigentlich der Dialog mit dem Judentum gehört, hat Papst
Paul VI. im Anschluß an Papst Johannes XXIII. sich dafür entschlossen, daß
der Dialog mit dem Judentum zum Rat für die Einheit der Christen gehört.
Nicht zu dem Rat, der sich mit den Weltreligionen beschäftigt, mit dem
Gespräch mit den Weltreligionen. Darin kommt zum Ausdruck, daß die
Beziehung vom Christentum zum Judentum etwas ganz Einzigartiges ist.
Die zentrale Frage ist sicher: Was bedeutet Jesus, der Messias? Was
bedeutet es für uns, daß er Jude ist, daß er der Messias Israels ist, also
des Volkes Gottes? Und was bedeutet es für die Juden, daß wir glauben, daß
Jesus der erwartete Messias ist? Was bedeutet die Tatsache, daß ein
Großteil des jüdischen Volkes Jesus nicht als den erwarteten Messias
angenommen hat, sondern weiter auf den Messias wartet? Das ist sehr
beeindruckend in der jüdischen Paschafeier, wenn nach alter Tradition das
jüngste Kind an einer Stelle die Tür öffnet und hinausschaut in die
Dunkelheit, ob vielleicht Elia, ob vielleicht der Messias vor der Tür
steht, diese bei vielen gläubigen Juden sehnsüchtige Erwartung nach dem
Kommen des Messias.
Simeon, der Greis, der das Kind in die Arme nimmt - wir werden es diese
Woche feiern -, als Maria und Josef das Kind in den Tempel bringen zur
Darstellung, Simeon grüßt das Kind und sagt: “Meine Augen haben das Heil
gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast. Ein Licht, das die Heiden
erleuchtet und Herrlichkeit für dein Volk Israel.” Dieses Kind, Jesus von
Nazareth, ist also Licht für die Heiden. Lumen gentium heißt es in der
lateinischen Übersetzung, und mit diesen Worten beginnt die große
Konstitution des zweiten Vatikanums über die Kirche. Die Kirche spiegelt
das Licht wieder, das Jesus Christus ist. Christus ist das Licht der
Völker, Licht zur Erleuchtung der Heiden, aber auch Herrlichkeit für sein
Volk Israel. Wir stehen vor der Frage: Hat Israel diese Herrlichkeit nicht
erkannt? Haben sie “den Herrn der Herrlichkeit gekreuzigt”, wie Paulus
sagt? Sie haben ihn nicht erkannt. Ist deshalb das jüdische Volk
verworfen? Hat Gott deshalb sein Volk verworfen, weil es den von ihm
gesandten Messias, seinen Sohn, nicht erkannt hat?
Eines ist eine traurige Gewißheit: die Christen haben immer wieder in den
2000 Jahren unserer Geschichte deshalb Juden verfolgt, als Gottes Mörder,
als die, die den Messias Jesus nicht erkannt haben, und die deshalb, so
glaubte man, von Gott verworfen sind. Ein Rabbinersohn, David Tulman -
sein Vater war Rabbiner aus Rußland, nach Ungarn geflüchtet vor den
Pogromen, zu Beginn unseres Jahrhunderts -, schreibt in seinen
Erinnerungen, seinen Kindheitserinnerungen, welchen Schrecken es für diese
kleine jüdische Gemeinde in dem ungarischen Dorf bedeutet hat, wenn der
Karfreitag der Christen kam. Denn an diesem Tag sind immer wieder die
Pogrome passiert, da hat sich das Volk gegen die Juden gewandt, weil sie
den Messias umgebracht haben. Es ist zweifellos eine ganz schmerzliche
Geschichte, der “Antijudaismus” in der christlichen Geschichte. Wir haben
jetzt nicht die Zeit darauf einzugehen, das wäre ein eigenes Thema, das
ich heute nicht besprechen möchte.
Im 19. Jahrhundert ist etwas anderes dazugekommen, der sogenannte
Antisemitismus, der zwar am Antijudaismus anknüpfen konnte, aber doch
etwas anderes war: Mit der Rassentheorie, mit seinem Gefolge von Hetze und
Häme, und schließlich als Endpunkt die schlimmste Judenverfolgung der
Geschichte, die Schoah mit den zahllosen Opfern. Was in diesem Jahrhundert
geschehen ist, hat bei den Christen zu einer Neubesinnung geführt.
Unvergeßliche Bilder, die Begegnung von Papst Johannes XXIII. mit einigen
Juden, auf die er zugegangen ist und gesagt hat: “Ich bin Josef, euer
Bruder” (Papst Johannes hieß mit seinem Taufnamen Giuseppe). Oder jene
anderen Bilder, wie Papst Johannes Paul II. die große Synagoge in Rom
besucht: Der erste Besuch eines Papstes in der Synagoge von Rom seit der
Zeit der Apostel. Paulus ist natürlich in Rom in die Synagoge gegangen,
und Petrus auch. Aber das soll heute nicht unser Thema sein, es wäre
sicher lohnend, darauf einmal eigens einzugehen.
Was ich heute versuchen möchte, ist eine Sicht des Glaubens, warum es
überhaupt ein auserwähltes Volk gibt. Ist diese Idee, daß Gott ein Volk,
ein Volk unter vielen anderen erwählt, überhaupt eine annehmbare Idee,
wird sie nicht von vielen verworfen, abgelehnt? Ich darf - das mache ich
nicht oft, aber ich möchte doch - auf ein Buch hinweisen, das mich
besonders beeindruckt hat. Es ist etwas dick, es ist vielleicht zu dick,
um gleich verlockend zu sein, aber ich habe selten so eindringlich, klar,
einfach und gut verständlich die Frage dargestellt gefunden, warum
eigentlich Gott ein Volk erwählt hat. Es ist das Buch des Neutestamentlers
Gerhard Lohfink “Braucht Gott die Kirche?” (Herder 1998). Braucht Gott die
Kirche, braucht Gott ein auserwähltes Volk? Sind nicht alle Menschen
gleicher Würde, sind nicht alle Menschen von Gott geliebt und gerufen,
warum dieser Weg über ein Volk? Dieser Frage möchte ich nachgehen. Ich
möchte ein wenig darüber mit Ihnen nachdenken, was es bedeutet, daß unter
den vielen Völkern, die es auf der Welt gibt, eines Gottes erste, Gottes
große Liebe ist.
Ich glaube, an dieser Frage hängt auch sehr entscheidend das Verständnis
für die Kirche. Warum ist die Kirche nicht einfach irgendeine
Religionsgemeinschaft unter den vielen, die es gibt? Warum glauben wir,
daß die Kirche Zeichen und Werkzeug Gottes für das Heil aller Menschen
ist? Warum glauben wir, daß Gott in Jesus Christus alles Heil durch die
Kirche den Menschen schenken will? Das können wir nur verstehen, wenn wir
auf das Geheimnis Israels schauen. Das zweite Vatikanische Konzil hat ein
ganz kurzes Dokument verfaßt über die Beziehung der Kirche zu den
Religionen (“Nostra Aetate”). Kardinal König hat an diesem Dokument sehr
stark mitgewirkt. Und dort heißt es im vierten Artikel: “Bei ihrer
Besinnung auf das Geheimnis der Kirche gedenkt die Heilige Synode des
Bandes, wodurch das Volk des Neuen Bundes mit dem Stamme Abrahams
geistlich verbunden ist.” Und der Heilige Vater hat, wie er in Rom in die
Synagoge gegangen ist, diesen Text lange und gründlich ausgelegt. Die
Kirche besinnt sich auf ihr eigenes Geheimnis und stößt dabei auf Israel.
Ich sage “Geheimnis”, denn es ist mit Israel wie mit der Kirche, eine
sichtbare Wirklichkeit, oft eine sehr menschliche Wirklichkeit. Mit allen
menschlichen Schwächen, von denen das jüdische Volk genauso wenig
ausgenommen ist wie die Kirche, und doch ist dieses auserwählte Volk ein
Geheimnis, wie die Kirche eines ist. Israel trägt das Siegel Gottes, es
ist mit dem Siegel Gottes geprägt, und deshalb in all seinen menschlichen
Schwächen und Größen mehr als nur ein Volk.
Als am Katechismus für die Katholische Kirche gearbeitet wurde, stand im
Entwurf ein kleiner Satz, der zu großer Aufregung geführt hat. Dort stand:
“Israel ist nicht eine Nation.” Dieser Text wurde irgendwie bekannt und es
gab in der Presse in Israel, im Staat Israel große Aufregung: “Die
Katholische Kirche leugnet, daß der Staat Israel eine Nation ist.” Das war
natürlich ganz und gar nicht gemeint. Es war damit gemeint, und in der
Endfassung wurde das auch klarer formuliert, das jüdische Volk Israel -
nicht jetzt der Staat Israel, sondern das von Gott erwählte Volk - ist
nicht einfach ein Volk unter anderen, eine Nation unter anderen, es ist
etwas ganz Besonderes mit diesem Volk.
Was heißt das: erwähltes Volk? Das jüdische Volk hat seine Identität nicht
durch die Rasse, das war ein gravierend schwerer Fehler in der
Rassentheorie, das jüdische Volk läßt sich nicht von der Rasse her
bestimmen, es läßt sich auch nicht als Nationalität definieren. Wenn wir
die Heilige Schrift befragen, dann ist klar: Dieses Volk verdankt sein
Volksein ganz und gar der Berufung, es entsteht dadurch, daß Gott es
herausruft aus den Völkern, und das ein für alle Mal. Paulus wird im
Römerbrief ganz klar sagen, im 11. Kapitel: “Gnade und Berufung Gottes
sind unwiderruflich.” Es beginnt mit der Erwählung Abrahams. Gott ruft
einen Menschen heraus aus seiner vertrauten Umwelt: “Ziehe fort aus deiner
Heimat, aus deiner Familie... Ich werde dich zu einem großen Volk machen
und du wirst ein Segen sein und in dir werden alle Nationen, alle Völker
gesegnet sein.” So heißt es im 12. Kapitel der Genesis.
Wir verstehen, warum der Heilige Vater so gerne nach Ur in Chaldäa
gefahren wäre, in den Irak. Leider ist es ihm nicht vergönnt, diese Reise
zu machen. Seine große Idee für das Heilige Jahr war, daß er alle die
Stätten der Berufung des Volkes Gottes der Reihe nach besucht. Ur in
Chaldäa, von wo Gott den Abraham berufen hat, den Berg Sinai, wo er sich
seinem Volk geoffenbart hat und es zu einem Volk gemacht hat. Nun wird er
doch nach Ägypten fahren können, so hören wir, und er wird wahrscheinlich
auch auf den Berg Nebo fahren, wo Mose gestorben ist, um noch in das
Heilige Land schauen zu können.
Der Heilige Vater erinnert uns durch diese Gesten daran, daß das Volk
Gottes nicht durch eine Rasse, eine Sprache, eine Kultur, sondern ganz und
gar durch den Ruf Gottes zustande kommt. Gott hat Abraham herausgerufen,
Gott hat die Nachkommen Abrahams gesammelt und das Wort, das die Bibel
dafür gebraucht, ist genau dasselbe Wort, das dann im NT für Kirche steht,
Ecclesia, “die Herausgerufene”. Wir können sagen, von Anfang an ist das
Volk Gottes so etwas wie Kirche, Versammlung von Menschen, die Gott
gerufen hat. Nun muß man aber die Frage stellen: Warum ruft Gott Menschen
heraus, um sie zu seinem Volk zu machen? Ist nicht soviel Mißbrauch
getrieben worden mit der Idee des erwählten Volkes? Wie viele Staaten,
Nationen, Länder haben sich groß machen wollen dadurch, daß sie sich für
das erwählte Volk gehalten haben? Die Erwählung Israels, die Erwählung des
auserwählten Volkes steht in einem Zusammenhang, den wir nur sehen, wenn
wir zurückgehen bis zu Adam und Eva. (Ich weiß nicht ob wir so lange Zeit
haben werden bis zu Adam und Eva zurückzugehen!)
Wenn wir verstehen wollen, was Gottes Plan mit diesem Volk ist und bis zum
Ende der Welt sein wird, dann müssen wir wirklich zu Adam und Eva
zurückgehen. Dann müssen wir uns das ansehen, was in der Bibel als das
große Drama der Menschheitsgeschichte am Anfang gezeichnet wird. Gott hat
die Menschheit geschaffen als seine Familie. Die große Vision, der große
Plan Gottes ist nicht eine in viele zahllose Völker, Sprachen, Rassen
zerspaltene und darin zerstrittene Menschheit, sondern seine Familie, die
Menschheitsfamilie. Übrigens eine Idee, ein Gedanke, der ganz auf dem
biblischen Boden zu Hause ist und der in vielen anderen Kulturen und
Religionen in dieser Weise nicht gedacht wird. Das ist wirklich biblische
Offenbarung: Gott hat den Menschen geschaffen, damit die Menschheit seine
Familie sei.
Sie ist es nicht geworden durch die Sünde: Die Menschheit ist zerspalten
in viele Sprachen, viele Kulturen, Rassen, Stämme, Völker und wenn es auch
immer wieder ein Miteinander gibt, so ist doch das Gegeneinander oft
stärker. Demnächst darf ich nach Nigeria fahren, dort gibt es in diesem
einen Land, es ist das größte von Afrika, 250 Sprachen. Gott will eine
Familie, seine Familie. Um diesen ursprünglichen Schöpfungsplan trotz der
Sünde zu verwirklichen, beginnt er an einem Eck zu sammeln, und durch
dieses eine Eck, durch diesen aus Ur in Chaldäa gerufenen Abraham, will er
alle Völker segnen: “In dir sollen alle Völker der Erde gesegnet sein”,
einer für alle. In dem einen segnet er alle, und die Nachkommen Abrahams
sollen Segen sein für alle Völker.
Wenn wir also fragen, was das jüdische Volk ausmacht, so können wir sagen,
es ist - mit einem theologischen Ausdruck gesagt - das Sakrament Gottes
für die Einheit der Menschen. Es ist jenes Werkzeug und Zeichen, das Gott
sich gewissermaßen geschaffen hat, um durch dieses Werkzeug allen Menschen
Segen zukommen zu lassen. Wenn wir jetzt in die Geschichte dieses Volkes
schauen, so ist es doch ein eigenartiges, rätselhaftes Phänomen, daß
dieses Volk, obwohl es so klein, so unscheinbar ist, bis heute besteht.
Was ist aus den Völkern des Vorderen Orients geworden? Natürlich gibt es
die Menschen, die dort gelebt haben, in ihren Nachfahren. Aber die Völker,
die Reiche, die Staaten sind längst zugrunde gegangen und andere sind
ihnen nachgefolgt. Aber dieses kleine, jüdische Volk besteht bis heute.
Schon alleine vom geschichtlichen Standpunkt aus ist das rätselhaft, vom
Glauben her ist es ein Geheimnis, es ist das Geheimnis der Erwählung. Gott
hat dieses Volk geliebt und diesem Volk einen einzigartigen Auftrag
gegeben, den kein anderes Volk hat. Darum unterscheidet sich das Judentum
von allen anderen Religionen.
Man hat schon im Altertum den Juden vorgeworfen, sie seien hochmütig, weil
sie sich für das auserwählte Volk halten. Dieser Vorwurf gilt heute noch
der Kirche, wenn wir sagen, daß die Kirche das Heilsinstrument Gottes ist.
In dem etwas mißverständlichen Satz formuliert: “Außerhalb der Kirche kein
Heil.” Das heißt: Alles, was Gott der Menschheit schenken will, schenkt er
durch dieses Volk, durch diese Volksversammlung, die Kirche. Dieses kleine
Volk, das jüdische Volk, so klein es ist, hat also eine universelle, eine
weltweite Berufung, alle Menschen sollen durch “es” Segen empfangen. Das
bedeutet aber auch: Niemand kann das Heil erlangen, die Verheißungen
Gottes empfangen, als durch dieses Volk. Ist das nicht etwas seltsam? Aber
Jesus hat es ganz ausdrücklich gesagt, als er der Samariterin am Brunnen
gesagt hat: “Das Heil kommt von den Juden.”
Gilt das auch heute noch? Ist das nicht längst überholt? Ist die Synagoge
nicht oft in unseren Domen, in den mittelalterlichen Kathedralen, als
blind dargestellt? Man stellte sie dar mit einem Band über den Augen, weil
sie den Messias nicht erkannt haben, und daneben steht die Ecclesia, die
Kirche, die auf Christus hinschaut, weil sie ihn gläubig angenommen hat.
Hat Israel nicht seine Berufung verspielt? Sagt nicht das NT an vielen
Stellen ganz klar, daß der Alte Bund vorbei ist und der Neue jetzt gilt?
So heißt es etwa im Hebräerbrief in Bezug auf die Verheißungen - die es
schon im AT gibt -, daß Gott einmal einen Neuen Bund machen wird, es heißt
in Hebräer 8,13: “Indem er von einem neuen Bund spricht, hat er den ersten
für veraltet erklärt. Was aber veraltet und überlebt ist, das ist dem
Untergang nahe.” Ist nicht das neue Volk Gottes, die Kirche, an die Stelle
des alten Volkes getreten?
Irgendwie ist dieser Gedanke doch bei uns sehr weit verbreitet: Sie sind
aus der Verheißung herausgefallen, weil sie Jesus nicht als Messias
erkannt haben. Hat nicht Jesus geweint über Jerusalem, als er die Stadt
vor sich liegen sah und gesagt hat: “Wie oft habe ich versucht, deine
Kinder zu sammeln, wie eine Henne ihre Küken sammelt, und ihr habt nicht
gewollt.” Und hat er nicht in einem Gleichnis von den bösen Winzern
gesagt: “Was wird der Weinbergsbesitzer tun mit den unguten Knechten, die
sogar den Sohn umgebracht haben? Er wird ihnen den Weinberg wegnehmen und
ihn anderen geben.” Hat also Gott nicht die Juden verworfen, um dem neuen
Volk Gottes die Verheißungen zu übergeben?
Es stimmt, daß es immer wieder so dargestellt wurde. Und doch, und das ist
nicht einfach eine neue Lehre, die das zweite Vaticanum uns heute sagt,
sondern es ist eine Vertiefung unserer Glaubenssicht über das Geheimnis
der Kirche: “Gottes Gnade und Erwählung ist unwiderruflich”, sagt Paulus.
Gott hat sein Volk nicht verworfen. Es stimmt, daß viele in seinem eigenen
Volk ihn nicht als Messias erkannt haben, aber hat Gott deshalb seine
Liebe seinem Volk entzogen? Hat er nicht gerade deshalb seine Liebe diesem
Volk ganz besonders gezeigt, weil es ihn nicht erkannt hat? Es gibt einige
ganz klare Hinweise im NT, daß Gottes Treue unverbrüchlich ist, auch dort,
wo Menschen untreu geworden sind.
Ich erinnere an ein Wort Jesu in der Bergpredigt. Ganz am Anfang der
Bergpredigt sagt er: “Glaubt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und
die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen, sie aufzulösen, sondern
sie zu erfüllen.” Das heißt doch, Jesus hat das Gesetz und damit den Alten
Bund nicht verworfen, sondern ihn in seiner tiefsten Bedeutung erfüllt,
nämlich das, was Gott damit wollte: Daß Menschen, daß sein Volk nach
seinem Willen lebt - das hat Jesus getan. Und als sie ihn schließlich
verworfen, nicht angenommen haben, und ihn ausgeliefert haben, damit er
gekreuzigt wird: Hat Jesus sie deshalb verworfen? Hat Jesus nicht, als man
ihn gekreuzigt hat, gebetet: “Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht,
was sie tun.” Vater vergib ihnen: Das heißt doch, er hat sein Leben nicht
nur für uns eingesetzt, sondern zuerst für sein eigenes Volk, und durch
sein eigenes Volk für alle Menschen: “Vater vergib ihnen, denn sie wissen
nicht, was sie tun.” Und Paulus ist ein Echo darauf, wenn er dann im
ersten Korintherbrief sagt: “Sie hätten ihn nicht gekreuzigt, wenn sie den
Herrn der Herrlichkeit erkannt hätten.” Petrus sagt in Jerusalem: “Aus
Unwissenheit habt ihr gehandelt.”
Nun das Entscheidende: Jesus hat die Verheißungen, die Gott den Vätern
gegeben hat, durch seinen Gehorsam erfüllt. Durch ihn ist das erfüllt
worden, was Gott durch die Propheten, durch die Patriarchen, durch das
Gesetz des Alten Bundes gesagt, mitgeteilt hat. Jesus ist, so könnten wir
sagen, die Zusammenfassung des ganzen Volkes Israel, er ist das wahre
Israel. In ihm ist verwirklicht, was Gott mit seiner Berufung für sein
Volk wollte. Deshalb kann es nicht sein, daß Jesus sein eigenes Volk
verworfen hat, daß Gottes Treue diesem Volk entzogen worden ist, als es
seinen Messias, den Sohn Gottes, nicht erkannt hat.
Aber dann stellt sich natürlich die Frage: Was bedeutet dann die heutige
Situation zwischen Christen und Juden? Was bedeutet es, daß das jüdische
Volk in seiner Mehrheit bis heute Jesus nicht als Messias anerkennt? Was
bedeutet für uns das Miteinander - leider manchmal auch das Gegeneinander
- mit dem jüdischen Volk? Zuerst: Die Treue Gottes ist unwiderruflich,
auch der Unglaube an seinen Sohn hat diese Treue nicht aufgehoben, Gott
bleibt seiner ersten Liebe treu. Viele Juden bezeugen durch ihren Glauben
und durch ihre Treue zum Gesetz Gottes diese Treue Gottes in unsere Welt.
So möchte ich zum Abschluß auf einige Punkte hinweisen, die uns gemeinsam
sind, zum Schluß auf den Punkt, der uns zugleich am tiefsten verbindet und
auch am tiefsten trennt. Noch einmal: Wie vieles haben wir gemeinsam! Das
Großartige, das in den letzten Jahren und Jahrzehnten gewachsen ist, ist
das immer tiefere Entdecken dieser Gemeinsamkeiten. Wieviel in unserer
Liturgie haben wir aus der jüdischen Liturgie, als Erbe bekommen! Ich
könnte jetzt lange und vieles aufzählen, das uns aus dieser Quelle des
Volkes Gottes zugekommen ist. Die Psalmen habe ich schon genannt, unser
Eucharistisches Hochgebet, das Herz der Eucharistie hat ganz tiefe
jüdische Wurzeln, vieles an unseren Kirchengesängen - ich denke vor allem
an den gregorianischen Choral - stammt aus der Synagogenliturgie. Was uns
miteinander verbindet, sind die großen Gestalten der Bibel, des AT. Was
uns verbindet, ist die Hoffnung auf das Kommen des Messias. Wir hoffen auf
die Wiederkunft Christi, unsere jüdischen Mitbürger hoffen auf das kommen
des Messias. Wir glauben, daß Jesus dieser Messias ist und wir hoffen auf
seine Wiederkommen.
Damit bin ich beim Schluß. Was ist das, was uns am tiefsten verbindet, was
uns am tiefsten trennt? Zweifellos die Person Jesu selber. “Jesus von
Nazareth, Sohn der Jüdin Miriam aus Nazareth, aus dem Geschlecht Davids
dem Fleische nach”, sagt Paulus. Jesus von Nazareth, der Sohn des
lebendigen Gottes. An ihm scheiden sich die Geister, und an ihm finden wir
auch immer wieder zusammen. “Er ist der, der durch sein Kreuz aus den
beiden Völkern eines gemacht hat”, sagt Paulus. Er hat durch sein Kreuz
die Trennwand der Feindschaft niedergerissen und uns in einem Leib
verbunden. Freilich: Die vielen Hindernisse, auch von unserer Seite, daß
Juden in Jesus auch ihren Messias erkennen könnten. Eigenartig - es sei
nur ganz kurz erwähnt - die wachsende Zahl von Juden, die ganz persönliche
Begegnungen mit Jesus haben, man spricht von den messianischen Juden,
jenen, die in Jesus den Messias Israels erkannt haben.
Eines ist sicher, die Zukunft ist ganz entscheidend auch von dieser Frage
bestimmt: Werden wir Jesus, dem Messias, treu sein, dem Sohn Gottes?
Werden wir ihn glaubwürdig als den Messias leben? Aber gleichzeitig die
Verheißung - und mit ihr möchte ich schließen -, die Paulus uns in den
großen Kapiteln 9-11 im Römerbrief sagt: Das Gleichnis vom Ölbaum. Wir
sind aufgepfropft, die Wurzel ist Israel. Nicht du trägst die Wurzel,
sondern die Wurzel trägt dich. Und dann sagt Paulus: “Wenn schon ihre
Verwerfung für die Welt Versöhnung gebracht hat” - dadurch, daß wir an
ihrer Stelle aufgepfropft wurden auf dem Wurzelstamm Israel -, “dann wird
ihre Annahme nichts anderes sein als Leben aus dem Tod.” Was wird es
Großes sein, wenn einmal das geliebte Volk Gottes, Gottes erste Liebe,
erkennen wird, wie sehr diese Liebe ihm gilt und wie tief sie ist, so
sehr, daß Gott sogar seinen Sohn für dieses Volk und durch es für alle
Menschen geschenkt hat.
Damit schließe ich. Ich weiß, es sind viele Fragen offen. Bitte zögern Sie
nicht, auch Fragen zu schicken, zu schreiben. Die nächste Katechese am 20.
Februar geht über ein ganz anderes Thema, über “Schöpfung und Evolution”.
Vielleicht werden wir doch auch auf dieses heutige Thema einmal
zurückkommen.
Gelobt sei Jesus Christus!
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