Kirche und Israel
(Teil II)
von Kardinal Dr.
Christoph Schönborn,
8. Kathechese
1999/2000, Stephansdom, Wien, am 9. April 2000
Komm Heiliger Geist, Geist des Vaters und des Sohnes, Geist der Wahrheit
und der Liebe. Sei Du das Licht unserer Vernunft, die Stärke unseres
Willens, die Treue unseres Gedenkens. Führe Du uns mit Deinem Licht in die
ganze Wahrheit ein, führe uns zu Christus, unserem Herrn. Amen!
Die heutige Katechese möchte noch einmal das Thema Christentum und
Judentum, Kirche und Israel aufgreifen. Doch zuerst möchte ich danken,
Gott danken, und allen, die mitgeholfen haben, dass die Stadtmission, die
heute Mittag zu Ende gegangen ist, ein großer Segen war, auch wenn wir es
nicht messen können. Dank und Freude für dieses große Geschenk, das sicher
vielen Menschen die Liebe Christi und das Licht des Heiligen Geistes näher
gebracht hat. Großes ist auch in der Weltkirche geschehen, seit unserer
letzten Katechese im März: Die Reise des Heiligen Vaters in das Land
Israel, in das Gelobte Land, wie man es auch nennt. Ein Ereignis, das wohl
kaum in seiner Bedeutung überschätzt werden kann. Es gäbe viel zu sagen
über diese Reise, aber zweifellos hat sich ein Bild ganz tief in die
Herzen eingeprägt, ein Bild, das vielleicht mehr bewirkt hat als viele
Worte: das Gebet des Papstes an der Klagemauer.
An der Westmauer des Tempels, dem heiligsten
Ort des Judentums, dort wo nach jüdischer Tradition die Stelle ist, die am
nächsten dem zerstörten Heiligtum, dem Ort der Gegenwart Gottes in
Jerusalem liegt. An dieser Stelle hat der Papst gebetet wie ein Jude, so
hat ein Berichterstatter gesagt. Wie ein Jude hat er gebetet, die Hand an
die Mauer gelehnt, ins Gebet versunken. Dann hat er einen Zettel in eine
Mauerritze hineingeschoben, wie es viele Juden tun, wenn sie dort beten.
Der Text sollte eigentlich dort bleiben, aber die Neugierde war so groß,
dass sich schnell Leute gefunden haben, diesen Text herauszunehmen und
anzusehen. Es war noch einmal jene Vergebungsbitte, die der Heilige Vater
im Petersdom am 12. März, unter dem großen Kreuz stehend, an dieses Kreuz
gelehnt, gebetet hat. Ich darf den Text noch einmal in Erinnerung rufen:
“Gott unserer Väter, du hast Abraham und seine Nachkommen auserwählt,
deinen Namen zu den Völkern zu tragen: Wir sind zutiefst betrübt über das
Verhalten aller, die im Laufe der Geschichte deine Söhne und Töchter
leiden ließen. Wir bitten um Verzeihung und wollen uns dafür einsetzen,
dass echte Brüderlichkeit herrsche mit dem Volk des Bundes.” Diese Bitte
hat der Heilige Vater - mit seiner Unterschrift besiegelt - in die Ritze
der Mauer gesteckt. Diese Geste, dass der Papst dort gebetet hat wie ein
Jude, hat - so war in vielen Echos zu hören - mehr bewirkt als viele
Worte, denn diese Geste ist direkt ins Herz Vieler in Israel gegangen.
Zweifellos können wir ohne zu übertreiben sagen, was viele jüdische und
christliche Kommentatoren gesagt haben: das war ein Wendepunkt. Von jetzt
an ist wirklich eine Seite in der Geschichte des Volkes Gottes gewendet,
eine neue Seite aufgeschlagen. Sicher werden wir noch vieles zu vertiefen
haben, noch vieles im Glauben tiefer zu erfassen haben, was uns in dieser
Geste und in diesen Schritten des Papstes eröffnet ist.
Auf jeden Fall ist die Frage Christentum und
Judentum, Kirche und Israel eine umso drängendere, umso lebendigere Frage
geworden. So möchte ich sie heute noch einmal aufgreifen und die vorletzte
Katechese ein wenig weiter führen. Die dabei waren erinnern sich, es ging
vor allem um die Frage: Warum hat Gott gerade ein Volk erwählt? Warum hat
er so ein kleines, unbedeutendes Volk erwählt, um durch dieses Volk und
durch dieses Land alle Menschen dieser Erde zu segnen? Und warum hat er
gerade diesen Weg gewählt, durch Einen alle zu segnen, durch das eine,
kleine Volk die vielen großen Völker der Erde? Und welche Bedeutung hat
es, dass der Bund mit diesem Volk, wie der Papst seit dem Beginn seines
Pontifikats immer wiederholt hat, ein unverbrüchlicher Bund ist? Etwas,
das Paulus so klar im Römerbrief gesagt hat, im 11. Kapitel, das doch von
den Christen immer wieder vergessen worden ist: Die bleibende Bindung, die
unverbrüchliche Treue des Bundes, den Gott einmal und ein für alle mal mit
seinem Volk geschlossen hat.
Es ist sicher eine Fügung Gottes, dass wir
jetzt einen Papst haben, einen Nachfolger Petri, der selber am
Schnittpunkt der Dramen des 20. Jahrhunderts gelebt hat. In einem Land, in
dem der Nationalsozialismus so schreckliche Verwüstungen angerichtet hat,
unter der jüdischen, aber auch unter der polnischen Bevölkerung, ganz in
der Nähe der großen Vernichtungslager, in denen Millionen Juden und
zahllose Polen und andere Menschen vernichtet worden sind. Der
gleichzeitig die Erfahrung des Kommunismus gemacht hat, der totalitären
Ideologie in ihrer menschenverachtenden, zerstörerischen Wirkung. Der
selber aus einer Kultur stammt, in der Christen und Juden so eng
zusammengelebt haben. Wir haben gerade in seiner Rede und in seinen Gesten
in Yad Vashem, in Jerusalem, am Ort, wo des Holocaust gedacht wird,
berührend sehen können, wie diese christlich-jüdische Nähe aus seiner
Heimat Wadowice bis heute prägend in seinem Leben Gegenwart ist. Wie sein
Freund JiÍi ihm, als ebenso alter Mann wie er, dort wiederbegegnet ist,
und besonders jene Frau, die heute in Haifa lebt, die er als junger Kaplan
auf seinen Schultern stundenlang getragen hat, weil sie vor Schwäche nicht
mehr gehen konnte nach ihrer Befreiung aus dem KZ.
Diese Fügungen sind sicher auch Fügungen
Gottes, dass wir erkennen, wie unverbrüchlich die Liebe Gottes zu seinem
Volk, zu seinem erwählten Volk, auch heute ist. Was aber bedeutet das für
die Kirche?
Heute, in der Katechese, soll es um die Frage
gehen: In welchem Sinn ist nun die Kirche Volk Gottes? Gibt es zwei Völker
Gottes, die Juden und die Kirche, die Synagoge und die Ecclesia? Ist die
Kirche an die Stelle Israels getreten? Ist sie jetzt das auserwählte Volk?
Ist das Volk des Alten Bundes abgelöst worden, ersetzt durch das Volk des
Neuen Bundes, das neue Volk Gottes, das das alte Volk abgelöst hätte? Nun
hat der Papst uns immer wieder klar gesagt: Gott hat seinen Bund nie
zurückgenommen, er bleibt treu bei seinem Bund mit seinem Volk. Aber
dieser Bund ist ausgeweitet, auf geheimnisvolle Weise hat er sich
ausgeweitet über das Volk des Alten Bundes hinaus, auf alle die, die in
Jesus den Messias Israels und das Licht zur Erleuchtung der Heiden
erkennen. So wie der Greis Simeon das Jesuskind in den Armen seiner Eltern
grüßt.
So lade ich Sie zu einer kleinen Wallfahrt
ein, gehen wir im Geiste auf den Berg der Seligpreisungen nach Galiläa, an
den Ort, wo vor kurzem der Heilige Vater mit vielen Pilgern aus der ganzen
Welt (ich durfte auch dabei sein) die heilige Messe gefeiert hat. Den
Blick über den ganzen See Genezareth, an dem Berg, wo Jesus damals vor den
vielen Menschen die Bergpredigt gehalten hat, die Seligpreisungen
gesprochen hat, und dort, wo er sich wahrscheinlich mit seinen Jüngern
nach Ostern wiedergetroffen hat. “Ich gehe euch voraus nach Galiläa auf
den Berg.” Dort hat er ihnen die Worte gesagt, die der Heilige Vater
wieder auf diesem Berg hat er klingen lassen: “Mir ist alle Macht gegeben
im Himmel und auf der Erde. Darum geht zu allen Völkern, und macht alle
Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des
Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich
euch geboten habe. Seid gewiß: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der
Welt” (Mt 28,18-20). Wenn Sie sich dort, jetzt sozusagen geistig, im
grünen Gras niedergelassen haben, dann können wir in die Katechese
eintreten, und versuchen, ein wenig dem Geheimnis Israels und der Kirche
nachzusinnen.
Was hat nun Jesus dort auf dem Berg in
der Bergpredigt gesagt? Unter anderem hat er gesagt, wir erinnern uns an
diese Worte: “Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die
Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben” - man kann
auch übersetzen “aufzulösen” - “sondern um zu erfüllen. Amen, das sage ich
euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe
des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist” (Mt 5,17-18).
Jesus ist nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen. Jesus hat nicht
eine neue Religion gegründet, er ist nicht ein Religionsstifter, so wie es
andere Religionsstifter gibt. Er hat den Bund, den Gott mit seinem Volk
auf dem Sinai und zuvor schon mit Abraham geschlossen hat, erfüllt, ihn
zur Fülle gebracht. Sozusagen geoffenbart, was alles in diesem Bund noch
verborgen, noch drin steckt. Nun mag man sagen:
Aber das Christentum ist doch eine neue
Religion! Es ist eine neue Glaubensgemeinschaft entstanden: die Kirche,
das Christentum. Und es hat doch eine Loslösung vom Judentum gegeben!
Übrigens eine gegenseitige, eine allmähliche, gegenseitige Entfremdung,
die immer schärfer geworden ist bis hin zur jener 19. Segensbitte im
täglichen, jüdischen Gebet, die eigentlich ein Fluch ist, ein Wort, das
dem Christen den Zugang zum Gebet in der Synagoge verschließen soll. Und
umgekehrt, die lange Geschichte der Entfremdung bis hin zur Verfolgung von
Seiten der Kirche, der Christen gegenüber den Juden. So stellt sich die
Frage: Hat Jesus auf dem Berg der Seligpreisungen eigentlich eine Kirche
gewollt, hat er die Kirche gegründet, als er dort die Charta des neuen
Bundes verkündet hat? Aber hat Jesus nicht vielmehr vom Reich Gottes
gesprochen?
Zu Beginn des Markusevangeliums lesen wir:
“Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an
das Evangelium!” (Mk 1,15). Ist also Jesus der Verkünder des Reiches
Gottes oder hat er eine Kirche gewollt? Eine Frage, die die Theologie in
den letzten 150 Jahren intensiv bewegt hat: Was war Jesu Absicht? Wollte
er eine neue Religion, oder wollte er seinen Glauben, den Glauben seiner
Väter, den Glauben, den Gott seinem Volk geschenkt hat, erneuern? Nun
horchen wir ein wenig hinein in die Heilige Schrift, was sie uns bezeugt.
Jesus sagt einmal, wir erinnern uns an die Szene: Eine heidnische Frau in
der Nähe von Tyrus und Sidon, also in der Gegend des Mittelmeers, dort wo
die heidnische Bevölkerung lebt, kommt und bittet um Heilung ihrer
Tochter. Jesus weist sie ab mit barschen Worten, er sagt: “Es ist nicht
recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den Hunden vorzuwerfen” (Mt
15,26). “Hunde” ist ein Schimpfwort für die Heiden. Jesus sagt ganz klar:
“Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israels gesandt.” (Mt
15, 24). Jesus weiss sich von Gott, den er seinen Vater nennt, gesandt zu
seinem Volk, zu den verlorenen Schafen Israels. Als er seine Jünger
aussendet und ihnen den Auftrag gibt, die frohe Botschaft zu verkünden,
die Kranken zu heilen, Dämonen auszutreiben, da sagt er ihnen: “Geht nicht
zu den Heiden, und betretet keine Stadt der Samariter” (dem Mischvolk aus
Juden und Heiden) “sondern geht zu den verlorenen Schafen des Hauses
Israel” (Mt 10, 5-6). Jesu Absicht, Jesu Sendung ist also offensichtlich:
dass Israel wieder aufgerichtet wird, dass das Volk Gottes wieder
aufsteht, aufersteht, dass es umkehrt, dass es Gott wieder treu wird, dass
es seinen Bund mit Gott nicht vergisst, sondern aus ihm lebt.
Und da steht Jesus ganz in der Verkündigung
der Propheten, die vor ihm das Volk zur Umkehr gerufen haben, dass es dem
Bund wieder treu sei. Wir erinnern uns an die erschütternden Worte Jesu in
Jerusalem, als er kurz vor seiner Passion, seinem Leiden in Jerusalem
ausruft: “Jerusalem, Jerusalem, du tötest die Propheten und steinigst die
Boten, die zu dir gesandt sind. Wie oft wollte ich deine Kinder um mich
sammeln, so wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt; aber ihr
habt nicht gewollt. Darum wird euer Haus von Gott verlassen. Und ich sage
euch: Von jetzt an werdet ihr mich nicht mehr sehen, bis ihr ruft:
Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn!” (Mt 23,37-39). “Wie oft
wollte ich deine Kinder um mich sammeln” - das bezieht sich doch
offensichtlich nicht nur auf die drei Jahre des öffentlichen Wirkens Jesu.
Jesus hat hier ein wenig das Geheimnis seiner Person gelüftet. Durch alle
die Jahrhunderte, durch die die Propheten das Volk gerufen haben zur
Umkehr, zur Treue, zum Bund, in allen diesen Propheten hat er schon
gerufen: “Wie oft wollte ich deine Kinder um mich sammeln, so wie eine
Henne ihre Küken, und ihr habt nicht gewollt.” Ich werde später noch
einmal darauf zurückkommen, was dieses “und ihr habt nicht gewollt”
bedeutet. Eines können wir sagen, von diesem späten Wort Jesu in
Jerusalem, schon kurz vor seiner Passion, und zurückblickend auf die erste
Zeit seiner Predigt in Galiläa: Jesus sammelt leidenschaftlich sein Volk,
dazu weiss er sich gesandt, das ist sein Auftrag. Er will sein Volk
sozusagen zum Vater zurückführen, denn er weiss, dass der Vater durch sein
Volk, durch das erwählte Volk des Bundes alle Völker der Erde segnen will.
Und die Sehnsucht nach dem Reich Gottes, die
Jesus uns in Herz gelegt hat - wir sollen ja beten: “Vater dein Reich
komme” - diese Sehnsucht nach dem Reich Gottes ist die Sehnsucht, dass
Israel in der Hand Gottes ein treues Werkzeug sei, sozusagen brauchbar,
verfügbar für den Willen Gottes, der das Heil aller Völker will. Israel
soll heilig sein, soll ganz in der Treue mit dem Bund Gottes leben, damit
Gott durch dieses Volk alle Menschen segnen kann. Es soll gewissermaßen
geschmeidig in der Hand Gottes sein. Wir können mit einem theologischen
Begriff sagen, Israel soll das “Sakrament” Gottes sein für alle Völker.
“Sakrament” ist im Lateinischen ursprünglich das aufgerichtete Zeichen,
durch das ein Signal gegeben wird. Israel soll das Signal Gottes sein für
alle Völker. Gott möchte es mit allen Völkern zu seiner Familie, zu seinem
Bund zusammenfassen. Es ist gar keine Frage, dass Jesus diese Heiligkeit
Israels will, das ist seine Sehnsucht.
Und wenn er manchmal mit harten Worten,
sozusagen mit dem Schwert des Wortes Gottes dreinfährt, dann ist es die
Leidenschaft dieser Liebe, weil er den Willen des Vaters für sein Volk
erfüllt sehen will. Wenn Jesus kranke Menschen heilt, dann ist es, um zu
zeigen, ein Signal aufzurichten: das Reich Gottes ist nahe, kehrt um. Gott
will seine Herrschaft errichten, ihr sollt sein Volk sein, und Er will
euer Gott sein. Und wenn Jesus Dämonen austreibt, dann ist es auch wieder,
damit das Reich des Vaters ankommt, damit die Menschen aus der
Knechtschaft des anderen Reiches, des Reiches Satans, befreit werden.
Alles im Leben Jesu drängt also hin auf die Heiligkeit, die Bekehrung, die
Erneuerung Israels. Abraham hatte von Gott gehört, wir erinnern uns an den
Abraham-Segen in Genesis 12: “In dir sollen sich Segen zusprechen alle
Geschlechter der Erde.” Das ist auch Jesu Sendung, Auftrag und Plan, dazu
hat der Vater ihn gesandt. Aber wozu braucht es dann die Kirche? Wie kommt
es überhaupt zur Kirche? Sehen wir uns ein wenig an, wie Jesus es
angegangen ist, das Volk Israel im Bund wieder herzustellen. Wie hat er
das ins Werk gesetzt? Sicher, zuerst einmal durch seine Predigt, durch
seine Verkündigung, durch die Gleichnisse, durch das, was er von den
Propheten her, was er letztlich vom Vater her seinem Volk ins Herz
gesprochen hat: “Das Reich Gottes ist nahe, kehrt um, glaubt an die frohe
Botschaft.”
Aber Jesus hat auch ganz konkrete Schritte
gesetzt die zeigen, was seine Absicht war. Ganz am Anfang beginnt er schon
mit der Sammlung von Menschen. Wir sind wieder in Galiläa. Wenn wir jetzt
vom Berg der Seligpreisungen ein wenig herunter gehen, wenn wir zum Ufer
kommen, dann erinnern wir uns an die Orte, wo Jesus vorbeigegangen ist und
die ersten Fischer gesehen hat, die dann seine Jünger wurden: die Berufung
der ersten Jünger, Simon und Andreas, Jakobus und Johannes. Jesus sammelt
Menschen. Jesus ruft nicht abstrakt das Volk Gottes zur Umkehr, sondern er
sammelt Menschen um sich. Wenn wir hineinschauen in die Methode Jesu, dann
können wir sagen, Jesus ist nie alleine, er ist immer mit dem Vater und
mit seinen Jüngern.
Die ersten sind Fischer und er macht sie
zu Menschenfischern. Das heißt, sie haben von Anfang an Anteil an seinem
Auftrag, mit ihm sollen sie Fischer werden, Menschenfischer. Sie sollen
tun, was er tut: mit ihm sammeln. Sie sollen das Volk Gottes wieder
sammeln, sie sollen dazu zuerst seine Familie werden. Wir erinnern uns an
eine Szene in Kafarnaum, wie Jesus im Haus ist und man sagt ihm: “Draußen
stehen deine Mutter und deine Brüder”, und er sagt: “Wer ist meine Mutter
und wer sind meine Brüder?” Er schaut herum, er schaut seine Jünger an und
sagt: “Wer den Willen meines himmlischen Vaters erfüllt, der ist für mich
Bruder und Schwester und Mutter.” Das ist seine Familie. Diese Familie hat
in seiner Sendung eine ganz unersetzliche Rolle, nicht er alleine, sondern
immer er mit den Seinen. Ist das schon Kirche? Ist das schon Keim und
Anfang der Kirche? Es ist seine Familie, und in dieser Familie soll das
Kommen des Reiches Gottes sichtbar werden. Dieser Familie, diesen Jüngern
gibt er die Regeln des Reiches Gottes und ihnen spricht er ein Wort zu,
das eigentlich so gewaltig ist, dass wir es kaum fassen können, wenn er
ihnen einmal sagt: “Fürchte dich nicht, du kleine Herde! Denn euer Vater
hat beschlossen, euch das Reich zu geben”(Lk 12,32).
Was das Gewaltiges heißt! Dieser kleinen Schar
von Jüngern, die nur ein kleiner Teil des auserwählten Volkes ist, dieser
kleinen Herde spricht er Mut zu. Denn so Gewaltiges hat Gott ihr
zugetraut, dass er dieser kleinen Familie Jesu die ganze Basileia, die
ganze Königsherrschaft Gottes, das Reich Gottes anvertraut hat. So hat es
dem Vater gefallen. Wir erinnern uns an ein Wort, das bei der Taufe Jesu
gesprochen wird, als die Himmelsstimme, die Stimme des Vaters sagt:
“Dieser ist mein geliebter Sohn, an ihm habe ich mein Wohlgefallen.” Und
an euch, der kleinen Herde, hat der Vater sein Wohlgefallen. Wir sehen,
Jesus und seine Jünger gehören untrennbar zusammen, Gott gibt ihnen sein
Reich. Diese kleine Herde ist sozusagen der Kern des wieder hergestellten
Gottesvolkes. Wir werden gleich auf die Frage zurückkommen: Hat das etwas
mit Kirche zu tun? Eines sehen wir schon, wer immer zu dieser kleinen
Herde stoßen wird, wer also zur Familie Jesu dazustößt, weil er den Willen
des Vaters tut, der wird zum Volk Gottes gehören, der wird zum Gottesvolk
dazustoßen. In dieser kleinen Herde, in der Familie Jesu, ist
gewissermaßen das Gottesvolk ganz gegenwärtig.
Fast könnten wir sagen, diese kleine Herde,
diese Schar um Jesus ist das Sakrament des Gottesvolkes. Da wird es
zeichenhaft sichtbar, da wird es gegenwärtig. Aber Jesus tut noch einen
weiteren, sehr entscheidenden, sehr bedeutungsschweren Schritt, für seine
jüdischen Mitbürger ein symbolischer Schritt, dessen Bedeutung sie sehr
deutlich erkannt haben. Im Markus Evangelium lesen wir im dritten Kapitel:
“Jesus stieg auf einen Berg und rief die zu sich, die er erwählt hatte,
und sie kamen zu ihm.
Und er setzte zwölf ein, die er bei sich haben und die er dann aussenden
wollte, damit sie predigten und mit seiner Vollmacht Dämonen austrieben”
(Mk 3,13-15). Eine eigenartige Formulierung. Lukas fügt noch hinzu, dass
Jesus die ganze Nacht davor gebetet hat, so entscheidend war diese Stunde.
Es ist ein entscheidendes Ereignis in der Heilsgeschichte. Jesus macht sie
zu Zwölf, das heißt, Jesus bedeutet damit, jetzt werden die zwölf Stämme
Israels wieder errichtet, jetzt wird das Volk Gottes wieder hergestellt.
In der jüdischen Erwartung erhofft man ja, dass der Messias, wenn er
kommt, die zwölf Stämme Israels wieder aufrichten wird, das wird ein
Zeichen sein, das es wirklich der Messias ist, der gekommen ist. Jesus
macht sie zu Zwölf, heißt es. Das Wort “macht sie zu Zwölf” erinnert an
die Stellen im AT, wo Gott das Volk Israel macht, schafft.
Und es ist noch einmal dasselbe Wort, das wir
im ersten Satz der Genesis lesen “Im Anfang machte Gott Himmel und Erde”.
Gott macht Neues, er macht sein Volk neu. Die Zwölf sind der Anfang und
die Mitte des Wachstums des endgültigen Gottesvolkes. Was will er von den
Zwölf? Zwei Dinge: dass sie mit ihm seien für immer, so wie er ihnen am
Schluß am Berg in Galiläa sagen wird: “Ich bin bei euch, alle Tage, bis
ans Ende der Zeit”. Sie sollen mit ihm sein, untrennbar werden sie zu ihm
gehören, “Jesus und seine Hawara”. Seien Sie nicht erschrocken, wenn ich
das sage, denn es ist genau das hebräische Wort, das hier hingehört. Die
“Havura” ist die Gemeinschaft, das Wort “Hawara”, das wir in Wien
gebrauchen, kommt aus dem Jüdischen. Jesus und seine “Havura” - seine
“Hawara” dürfen wir in Wien sagen - seine Gemeinschaft gehört untrennbar
zu ihm, Christus ist nicht ohne sie denkbar. Können wir von daher sagen,
Christus ist nicht ohne die Kirche denkbar?
Wir sind schon ganz nahe an dieser Frage.
Paulus wird sagen: “Das Haupt ist nicht ohne die Glieder, die Glieder
nicht ohne das Haupt, ein Leib”. So eng gehören Jesus und seine Zwölf
zusammen. Gott und sein Volk Israel sind untrennbar, denn der Bund, den
Gott geschlossen hat, ist untrennbar. Sichtbar wird das in Jesus, der
nicht von seinen Jüngern zu trennen ist. Also er macht sie zu Zwölf, er
richtet die zwölf Stämme Israels wieder auf und zeigt dadurch, jetzt wird
das Volk Gottes wieder hergestellt. Das Zweite, neben dem, dass sie mit
ihm seien, ist, das er sie sendet zum Verkündigen und mit der Vollmacht,
Dämonen auszutreiben. Genau das, was Jesus tut, das sollen auch sie tun.
Er hat Vollmacht zu verkündigen und Dämonen auszutreiben, und sie bekommen
diese Sendung von ihm: “Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich
euch.” Diese Sendung wird weitergehen bis er wiederkommt, auch heute. Ist
das vielleicht Gründung der Kirche? Hat die Kirche so ihren Ursprung in
Jesu Willen? Hat Jesus Kirche so gewollt, dass sie bei ihm seien und dass
er sie sende zum Verkündigen und um Dämonen auszutreiben? Vielleicht war
die Stadtmission in der letzten Woche eine Erinnerung für uns, dass das
Jesu Auftrag ist: “damit sie mit ihm seien und er sie sende zu
verkündigen.” Also noch einmal die Frage: Hat Jesus die Kirche gewollt?
Zweifellos hat Jesus die Familie Gottes gesammelt, die Kinder des Vaters.
Wir können sagen, unmittelbar hat er die Kirche nicht im Auge gehabt,
unmittelbar ging seine Sendung auf die Wiederherstellung Israels. “Ich bin
nicht gekommen aufzulösen, sondern zu vollenden.” Kirche im vollen Sinne
gibt es erst nach Ostern, wenn es zum “Nein” zu Jesus und zu seiner
Sendung gekommen ist, wenn also das Kreuz die Konsequenz von diesem “Nein”
gewesen ist. Und schließlich die Auferstehung Jesu als Antwort Gottes.
Doch darauf komme ich gleich noch einmal zurück. Zweifellos hat Jesus mit
seiner Sammlung, mit der Sammlung seines Volkes, mit der Wahl der Zwölf so
etwas wie den Grundstein der Kirche gelegt.
Aber jetzt eine eigenartige Frage: Was wäre
passiert, wenn Israel Jesus als seinen Messias ganz und gar angenommen
hätte? Hätte es dann eine Kirche gegeben? Was wäre dann geschehen? Nun,
wir wissen, dass solche “Was-wenn-Fragen” eigentlich nicht viel Sinn
ergeben, zumindestens kaum zu beantworten sind, denn es ist eben nicht so
gekommen. Aber vielleicht können wir doch zumindestens zwei Dinge behutsam
sagen: Erstens, dass Jesus zweifellos eine aus tiefstem Herzen, sozusagen
aus dem Herzen seines Vaters kommende Sehnsucht nach der Umkehr Israels
hatte. Wir erinnern uns an die so erschütternde Szene, als Jesus in
Jerusalem einzieht, und an der Stelle, an der die Pilger zum ersten Mal
die Stadt sehen und in Jubel ausbrechen und im Psalm 122 beten: “Ich
freute mich, als man mir sagte: Zum Haus des Herrn wollen wir pilgern.
Schon stehen unsere Füße in deinen Toren. Jerusalem, du starke Stadt,
dicht gebaut und fest gefügt”, so wie die Pilger nach Santiago am Monte
Gozo zum ersten Mal Santiago sehen und dort in Freude ausbrechen, an
dieser Stelle also weint Jesus über Jerusalem. “Als er näher kam und die
Stadt sah, weinte er über sie und sagte: ‘Wenn doch auch du an diesem Tag
erkannt hättest, was dir Frieden bringt, jetzt aber bleibt es vor deinen
Augen verborgen. Es wird eine Zeit für dich kommen, in der deine Feinde
rings um dich einen Wall aufwerfen, dich einschließen und von allen Seiten
bedrängen. Sie werden dich und deine Kinder zerschmettern und keinen Stein
auf dem anderen lassen, denn du hast die Zeit der Gnade nicht erkannt.’”
Wie tragisch, wie erschütternd dieses Klagen,
diese Tränen Jesu über das Haus seines Vaters - so hat er den Tempel
genannt - den Ort, den er so geliebt hat, dass er nicht wollte, dass er
eine Räuberhöhle wird, sondern Haus des Gebetes sei: die Zeit der Gnade
haben sie nicht erkannt. Was also wäre gewesen, wenn sie sich damals
bekehrt hätten? Nun, behutsam können wir sagen, der Segen Gottes wäre von
Israel auf alle Völker übergegangen. “Aber ihr habt nicht gewollt” - und
hier kommen wir zum entscheidenden Punkt der Heilsgeschichte und zum
entscheidenden Punkt der Frage Judentum und Christentum, Israel und die
Kirche: “Ihr habt nicht gewollt, ihr habt die Zeit der Gnade nicht
erkannt”, sagt Jesus ihnen. Was ist die Antwort darauf? Es kann nur sein:
Verwerfung. Ihr habt die Gnade verspielt, es ist zu spät. Jesus war der
letzte Bote, im Winzergleichnis haben wir es gehört, zuerst hat Gott die
Propheten gesandt, die Knechte, am Schluß seinen Sohn, auch ihn haben sie
nicht gehört, sondern verworfen.
Jetzt geschieht das Unfassbare, das, was
Johannes der Täufer ganz am Anfang schon gesagt, gesehen hatte, als Jesus
vorüberging und er seinen Jüngern sagte: “Seht das Lamm Gottes, das die
Sünde der Welt hinwegnimmt.” Was Jesus in Jerusalem tat, nachdem er über
die Stadt geweint hatte: Er sammelt noch einmal die Zwölf, er sammelt sie
sozusagen ganz geheim und alleine im Obergemach, im Abendmahlsaal. Statt
das Scheitern seiner Sendung zu beklagen, vollendet er seine Sendung, und
er sagt: “Mit großer Sehnsucht habe ich mich danach gesehnt, mit euch
dieses Paschamahl zu essen”, mit ihnen, mit den Zwölf, die der Grundstock
des neuen, des vollendeten Israels sind, hält er das Pessach, das
Ostermahl. Da geschieht in dieser Nacht die große Wende, das Neue, das,
was die Propheten geahnt haben, aber wir nur von ferne gesehen haben: “Bei
dem Mahl nahm er das Brot, sprach den Segensspruch, brach es, gab es
seinen Jüngern und sagte: ‘Das ist mein Leib, hingegeben für euch.’ Als
dann das Pessachmahl zu Ende war, nahm er den Segensbecher (so nennt man
den dritten Becher, den man nach dem Mahl beim Pessach nimmt) und er
sprach darüber die ganz neuen Worte: ‘Das ist mein Blut, das Blut des
Bundes, das vergossen wird für viele.’” Jesus weiss, dass die
entscheidende Stunde gekommen ist, sein Volk hat die Sendung des Vaters
nicht angenommen. Jetzt vollendet er die Sendung, indem er sein Leben
einsetzt als Sühne für das “Nein” seines Volkes.
Und nicht nur für das “Nein” seines Volkes,
sondern für die Sünde aller Menschen, ohne Ausnahme. Sein vergossenes Blut
wird zum Blut des Bundes, das heißt doch, Gott bindet sich endgültig,
unverbrüchlich, trotz alles “Nein” seines Volkes, dieses Blut bindet Gott
und Mensch endgültig zusammen. Dieses Blut ist vergossen zur Sühne für die
Untreue, für die wiederholten “Nein” seines Volkes, so sehr, dass der
Vater den eigenen Sohn hingibt und der Sohn sich ganz hineinfügt in den
Willen dieses Vaters nach dem Ringen der Todesangst von Gethsemane. Wir
glauben, dass die Kirche diesen Auftrag von Jesus in dieser Stunde
bekommen hat: “Tut dies zu meinem Gedächtnis.”
Und jedesmal wenn wir die Messe feiern, dann
wird dieses Blut des Bundes gegenwärtig. Ich weiss, heute wird oft
gefragt: kann es überhaupt Sühne geben, Sühne für das, was andere getan
haben? Ist der Gedanke der Sühne nicht ein Fehlgedanke? Was kann denn
erlösend sein an der Sühne? Wenn Jesus sein Leben für viele, für die
Vielen, das heißt: für alle Menschen, für sein Volk und für alle Völker
hingegeben hat, was bewirkt da Sühne? Ich darf zum Schluß drei Stichworte
nennen, die Zeit wird zu kurz:
1) Was bewirkt Sühne? Als der Papst in
Jerusalem noch einmal die Vergebungsbitte in die Ritze der Westmauer
gesteckt hat, die er im Petersdom vor dem Gekreuzigten gesprochen hat,
gewissermassen stellvertretend für die ganze Christenheit, da hat ein
bekannter israelischer Journalist in einem Leitartikel in der Jerusalem
Post geschrieben: “Vergebungsbitte - und wir jetzt?” Und er hat gesagt:
“Wann werden wir jetzt beginnen, für unsere Vergehen, die wir, der Staat
Israel, begangen haben seit 1948, wann werden wir jetzt um Vergebung
bitten?” Was bewirkt stellvertretende Sühne? Sie öffnet den Raum, dass
auch andere um Vergebung bitten können, sie öffnet den Raum der
Versöhnung. Das haben wir beim Heiligen Vater so deutlich erleben dürfen.
2) Jesu Sühnetod, die Hingabe seines Lebens
für sein Volk und für alle Menschen, ist gewissermaßen zur Lebensform der
Christen geworden. Dieses ganz für die Anderen sein, das Kreuz
gewissermaßen als Lebensform der Christen. Seit Jesus sein Leben
hingegeben hat als Sühne, gibt es eine nicht endenwollende Schar von
Menschen, Heilige, Heiliggesprochene und Unbekannte, die wie Jesus ihr
Kreuz auf sich genommen und ihr Leben eingesetzt haben für die anderen. Am
Kreuz hat Jesus die Kirche gestiftet, vom Kreuz her hat die Kirche
gewissermaßen ihre Existenzform bekommen. Ein vor kurzem verstorbener
Exeget, Heinz Schürmann, hat von der “Proexistenz” gesprochen für Sein.
Das ist die Grundform, die Jesus uns als Lebensform am Kreuz geschenkt
hat.
3) Durch die Auferweckung Jesu ist sein
Tod nicht ein Schlußwort geworden. Seit Jesus auferstanden ist, strömt ein
unversiegbarer Lebensquell aus dem Leib Jesu, aus dem Leib des
Auferstandenen, den wir in der Eucharistie empfangen, aus dem Leib, der
die Kirche ist. Eine überströmende, nicht endenwollende Fülle von Leben,
die für alle Zeiten und für alle Menschen reicht, und die durch die Kirche
strömt, das ist der Segen, den Gott dem Abraham gegeben hat für alle
Völker. Er strömt vom Gekreuzigten und Auferstandenen für Israel und für
alle Völker ohne Ende. In zwei Wochen feiern wir Ostern, eben dieses
Geheimnis. Ich wünsche Ihnen allen ein gesegnetes Osterfest, und lade Sie
herzlich ein zu den beiden letzten Katechesen dieses Arbeitsjahres am 21.
Mai und am 18. Juni. Ich möchte dann das Thema des Weltjugendtreffens
thematisieren, das auch das Thema des Heiligen Jahres ist: “Das Wort ist
Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.”
Gelobt sei Jesus Christus!
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