Aufhalten ist alles!
Robert Spaemann über die Aufklärung,
die Grenzen des Fortschritts und das geschichtliche Scheitern des Christentums.
Von Oliver Maksan und Michael Stallknecht / Die Tagespost.
Herr Professor Spaemann, durch Ihr ganzes Denken, haben Sie einmal
geschrieben, ziehe sich wie ein roter Faden das Bemühen, die Aufklärung gegen
ihre Selbstdeutung zu verteidigen. Warum muss man die Aufklärung vor sich selbst
in Schutz nehmen? Ihrem Selbstverständnis nach ist sie doch der Mut, sich seines
Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen. Sie sollte also ganz gut
alleine zurechtkommen ...
Der erste, der das sah, war Nietzsche. Nietzsche schreibt einmal, dass die
Aufklärung letzten Endes zum Atheismus führe. Wenn aber dieses Ziel erreicht
wird, wird die Aufklärung selbst sinnlos, denn sie bringt eine Voraussetzung mit,
die sie vom Christentum geerbt hat, nämlich dass es Wahrheit gibt und – wie
Nietzsche sagt – dass die Wahrheit göttlich ist. Wenn es Gott nicht gibt, sagte
Nietzsche, dann gibt es keine Wahrheit, dann gibt es nur die individuellen
Perspektiven jedes Menschen auf die Welt, und die Frage nach einer wahren
Perspektive stellt sich nicht, denn das wäre die Perspektive Gottes. Wenn dem
aber so ist, folgt daraus, dass das ganze Geschäft der Aufklärung rückblickend
sinnlos war.
Wie kommt es denn dazu, dass die Aufklärung sich gegen ihre eigenen Prämissen
wendet? Warum kippt das Ganze?
In dem Augenblick, wo der Atheismus sich durchgesetzt hat. Die radikale
Aufklärung in Frankreich war ja schon atheistisch, zum Teil deistisch, zum Teil
materialistisch.
Aber so hätte es nicht kommen müssen, oder?
Nein, es gibt einen großen Strom von christlichen Aufklärern, die das
naturwissenschaftliche Weltbild akzeptieren und mit ihrem Glauben vereinbaren
können. Der christliche Glaube wird nicht notwendigerweise zerstört durch einen
Aufklärungsimpuls – im Gegenteil, der Aufklärungsimpuls entstammt gerade dem
Christentum. Eben wie Nietzsche sagte. Insofern ist die Aufklärung sich über
ihre eigenen Prämissen nicht klar gewesen.
Warum?
Das hängt natürlich mit der Dominanz eines naturwissenschaftlichen Weltbildes
zusammen, das mit der Abschaffung des teleologischen Denkens einhergeht, also
der Interpretation natürlicher Wesen als solcher, die auf etwas aus und damit
über sich hinaus sind. Es wird alles als Mechanismus interpretiert, in dem es
nur um bloße Selbsterhaltung geht. Francis Bacon zum Beispiel sagt, die
Naturwissenschaft ist definiert durch eine Absicht. Wir wollen nicht mehr das
Wesen der Dinge erkennen, sondern wir wollen wissen, wie man die Dinge
beherrschen kann, wie man die Natur beherrschen kann. Dazu ist eine
teleologische Betrachtung der Natur nur hinderlich. Wenn die Tierhaltung fragen
würde, was denn im Interesse der Tiere liegt, dann könnten manche zumachen.
Thomas Hobbes hat einmal geschrieben, eine Sache kennen heißt „to know what we
can do with it, when we have it“. Das ist die neuzeitliche Vorstellung von
Wissen. Und damit erlischt immer mehr das Interesse an unverzweckbarem Wissen
wie dem von Gott.
Nun gibt es gerade im 20. Jahrhundert den Gedanken, Oswald Spengler wäre etwa
zu nennen, dass die Aufklärung – verstanden als Prozess, der unser überliefertes
Selbstverständnis als auf Transzendenz angelegte Wesen beseitigt –, nicht nur an
sich zerstörerisch, sondern darin auch unaufhaltsam sei. Würden Sie dem
zustimmen?
Spengler hat das doch sehr konstruiert. Ich halte es an sich für möglich, dass
innerhalb einer Zivilisation Regenerationskräfte auftauchen, die dem Mainstream
entgegenwirken. Aber man muss sich klarmachen, dass es nicht wahrscheinlich ist.
Das heißt, wenn man überall bei Spengler die Anmerkung machen würde „vielleicht“
oder „wahrscheinlich“, dann wäre ich schon sehr viel zufriedener. Es gibt keinen
Determinismus in der Geschichte. Man sieht immer wieder, dass die Prognosen der
Wissenschaftler an den entscheidenden Wenden der Geschichte vorbeigehen. Nehmen
sie die Wende 1989, den Zusammenbruch der Sowjetunion oder die Kulturrevolution
in China, an die sich die westliche von 1968 anschloss.
Der Philosoph Schelsky hatte vorher ein Buch geschrieben namens „Die skeptische
Generation“: Die skeptische Generation, das sollte meine sein, Leute, die für
Krieg und Propaganda ideologisch unempfänglich geworden wären. Im selben Jahr
wurde dieses Paradigma abgelöst von jungen Leuten, die gerade nicht skeptisch
waren, sondern etwas unbedingt wollten. Das sind alles Dinge, die nicht
vorausgesehen wurden. Die prognostischen Fähigkeiten der Philosophie in Bezug
auf den Geschichtsprozess sind begrenzt. Die Eule der Minerva fliegt immer erst
nach der Dämmerung los, wenn der Tag bereits vergangen ist. Soll heißen: Die
Philosophie deutet das Vergangene und nicht das Künftige.
An anti-modernen Versuchen hat es nicht gefehlt. Die großen katholischen
Reaktionäre wie de Bonald oder de Maistre wandten sich gegen die Französische
Revolution. Sie haben einmal gesagt, dass dieses antimodernistische Denken noch
viel tiefer in den Zirkel der Moderne hineinführe. Warum?
Ja, weil sie funktionalistisch denken. Dieser Gedanke stammt an sich von Charles
Peguy. Er hat Modernismus definiert als „nicht glauben, woran man glaubt“. Der
konterrevolutionäre Reaktionär ist nun jemand, für den das unter umgekehrten
Vorzeichen auch gilt, weil auch er nur funktional denkt. Das heißt, er beurteilt
die Dinge danach, ob sie irgendwie der Restauration nützen oder nicht. Um die
Sache selbst geht es ihm aber gar nicht. Solche Bewegungen verstärken das Übel,
das sie befördern wollen.
Gilt das auch für die Piusbruderschaft, die ja ein strikt anti-modernistisches
Programm verfolgt?
Durchaus, und ich will Ihnen ein Beispiel dafür geben. Die Pius-Bruderschaft
legt ihren Gläubigen nahe, wenn es sonntags keine Alte Messe gibt in ihrem
Umkreis, zuhause zu bleiben und daheim zu beten. Das soll sie vor Ansteckung
durch die Neue Messe bewahren, deren Gültigkeit sie ja anerkennen. Das ist ein
rein funktionales Denken. Sie fragen nicht: Wird hier das Opfer Christi gefeiert?
Wenn ja, dann müsste man selbstverständlich hingehen, wenn es nun mal keine Alte
Messe gibt. Aber diese Frage nach dem Wesen der Sache, die stellen sie nicht.
Was ihnen anscheinend das Allerwichtigste ist, wird plötzlich unwichtig, nämlich
dass man sonntags an der Messe teilnimmt. Weil das funktionale Denken als
Klugheit auftritt und das substanzielle Denken ersetzt.
Adorno und Horkheimer haben das zeitdiagnostisch „Dialektik der Aufklärung“
genannt und die Folgen beschrieben: Die instrumentelle Vernunft kommt an ihr
Ende und schlägt in einen neuen Mythos um. Sie haben einmal geschrieben, dass
Sie die Diagnose der „Dialektik der Aufklärung“ teilen, aber nicht die Prämissen
und nicht die Konsequenzen dieser Schrift. Warum?
Die Frankfurter und vor allem Adorno haben einen Begriff von menschlicher Natur,
der auf grenzenlose Geltung der Libido, des Lustprinzips, aus ist. Sie machten
sich stark für das Ende des Realitätsprinzips. Alles, was den Menschen
einschränkt, ist Unterdrückung, Repression, Gewalt. Und damit ist die
Zivilisation selbst ein Produkt der Gewalt. Freud spricht über das Unbehagen in
der Kultur und sagt, dass der Mensch eigentlich von Natur aus nicht für die
Kultur gemacht ist. Das heißt, er wird in der Kultur nie wirklich glücklich sein,
weil sie auf Repressionen der Triebe beruht.
Aber ist Kultur nicht tatsächlich Entfremdung?
Ja. Ich würde das aber nicht Entfremdung, sondern mit Hegel Entzweiung nennen.
Wenn wir an einem teleologischen Begriff der Natur des Menschen festhalten, dann
ist diese Entfremdung gewissermaßen notwendig für die Menschwerdung des Menschen.
Denn die Entfremdung beginnt schon mit dem Erlernen der Sprache, nicht erst mit
dem Schreiben und den ihr zugrundeliegenden kulturellen Errungenschaften wie
einem Alphabet. Schon indem Sie eine Sprache lernen, bedienen Sie sich ja eines
Begriffsapparates und einer Art der Weltinterpretation, Sie führen
Unterscheidungen ein. Und das lassen Sie sich von anderen vorgeben. Ohne das
wird aber ein Mensch kein Mensch. Das heißt, diese Entzweiung muss von der Art
sein, dass sie nicht die Wirklichkeit des Menschen sprengt, sondern dass sie
etwas ist, was den Menschen erst zur vollen Reife bringt.
In einer vollkommen unentzweiten Natürlichkeit wäre der Mensch ein Tier. Das ist
ganz richtig. Das ist auch der wahre Kern in dem, was Freud meint. Aber trotzdem
hat Freud unrecht. Er sieht eben die Realität, also das, was der Mensch
akzeptieren muss, einfach als dem Menschen eher feindlich. Und ich würde sagen,
wir müssen es freundlich sehen. Das Christentum hat ja als sein Symbol, das für
Rettung steht, einen Galgen. Das muss man sich mal klarmachen! Das ist die
radikalste Form der Entzweiung, die im Kreuz Christi zusammengehalten wird.
Die im Christentum aber, anders als bei Adorno, zur tatsächlichen Erfüllung
des Menschen führt, wenn auch erst jenseits der Zeit.
Ja. Bei Adorno und den Frankfurtern gibt es nur einen Traum von Glück: Jede Form
von wirklichem Leben in der Welt ist eigentlich gegen den Menschen gerichtet.
Adorno und Horkheimer schreiben einmal von der Majestät des Tages, der die Erde
bescheint, ohne sie zugleich zu verbrennen, also eine Sonne, die wärmt, aber
nicht verbrennt. Das Lustprinzip siegt endgültig über das Realitätsprinzip. Aber
das ist, wie gesagt, eine Utopie. Und Utopie war der zentrale Begriff der
Frankfurter Schule. Das ist der Punkt, wo ich mich immer unterschieden habe von
diesem Denken. Mir fällt da immer Goethes Wort ein: Man geht nie weiter, als
wenn man vergessen hat, wohin man geht. Wenn es kein Ziel gibt, weil es in der
Natur des Menschen nicht vorgezeichnet ist, dann ist das ganze nur ohnmächtige
Kritik. Die jungen Leute haben dann ja auch versucht, die Frankfurter Schule
beim Wort zu nehmen und Revolution zu machen. Denn die Jungen sagten sich: Wenn
ihr sagt, es ist alles so schrecklich, dann wollen wir doch mal sehen, ob man es
nicht besser machen kann. Adorno und Horkheimer glaubten aber gar nicht, dass
man es besser machen kann. Die waren ganz entsetzt, was 1968 passierte.
68 war also gar nicht im Sinne der Erfinder?
Wenn Sie so wollen. Andererseits hat Horkheimer mir gegenüber noch Ende der
50er, Anfang der 60er Jahre von Lenin als der großen Leitfigur gesprochen. Und
wir alle wissen, was das für ein Verbrecher war. Aber das ist ja ganz logisch.
Wenn man einmal auf diesem Weg ist, auf dem es keine Leitplanken gibt wie eine
Natur des Menschen, dann führt der ziemlich sicher in den Abgrund. Platon hat
die Konsequenzen beschrieben, nämlich die Tyrannei.
Da führt sich jetzt der Begriff des Naturrechts ein. Wieso ist das so schwer
zu erkennen? Sie machen sich ja sehr stark für diesen Begriff. Dabei ist der ja
selbst in der Theologie heutzutage höchst umstritten.
Leider ja. Aber ich möchte wissen, was die Theologen an seine Stelle setzen
wollen? Sie meinen doch immer irgendwie, dass der Mensch etwas sollte. Aber
weshalb? Ist das reiner Offenbarungspositivismus oder gibt es vernünftige Gründe?
Und wenn vernünftige Gründe, dann muss es etwas sein, was in der Natur des
Menschen liegt. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Der Stauferkaiser Friedrich II.
ließ Kinder in einem Turm großziehen, ohne dass mit ihnen gesprochen werden
durfte. Er wollte rauskriegen, ob es eine natürliche Sprache gibt, ob die
vielleicht anfangen, Hebräisch zu sprechen. Er verbot den Ammen, mit diesen
Kindern zu sprechen; sie wuchsen ohne Sprache auf. Warum ist das kriminell? Weil
es zur Natur des Menschen gehört, ein Sprachwesen zu sein, ein Wesen, das sich
über Symbole mit anderen verständigt.
Es gibt keine natürliche Sprache, das heißt, die Sprache ist konventionell, die
Sprache trägt Spuren der Vergangenheit, Spuren auch von Gewalt, von allem
möglichen; aber es gibt nur die einzelnen kulturellen Sprachen. Allen liegt die
natürliche Tendenz des Menschen zugrunde zu sprechen. Die Sprechorgane sind so
gestaltet, dass ein normaler, gesunder Mensch sich mit ihnen über Laute
verständigen kann. Deshalb ist es eine Pflicht der Eltern, die Kinder in die
Sprache hineinzuführen. Diese Pflicht folgt direkt aus dem natürlichen Recht des
Menschen auf Sprache. Das Natürliche ist auch moralisches Maß für die
Beurteilung von Defekten. Nehmen Sie die Homosexualität: Die Abwesenheit der
sexuellen Anziehungskraft des anderen Geschlechts, auf dem die Fortexistenz der
menschlichen Gattung beruht, ist ein solcher Defekt. Aristoteles nennt das einen
Fehler der Natur. Ich sage, es ist einfach ein unvollständig ausgestattetes
Wesen, wenn es über die Dinge nicht verfügt, die zu einem normalen Überleben
gehören. Wenn ein Kind taub geboren wird, dann ist das ein Defekt der Natur.
Denn die Verständigung über das Ohr ist etwas, was sehr wesentlich für die
Selbstentfaltung des Menschen ist.
Hier könnte man aber einwenden, dass Gesundheit nur ein statistischer Begriff
ist: Wir sind zuallermeist nicht taub. Wären wir das, würden wir Taubheit für
Gesundheit halten...
Das glaube ich nicht. Wenn 95 Prozent aller Menschen Kopfschmerzen hätten und
fünf Prozent nicht, dann wären diese fünf Prozent die Normalen und nicht die im
statistischen Sinne Normalen. Gesundheit ist kein statistischer Begriff. Nehmen
wir an, 90 Prozent der Menschen wären taub und sie müssten ein raffiniertes
System der Verständigung entwickeln, dann wäre es trotzdem so, dass die Menschen,
die hören können, in enormem Vorteil wären gegenüber den anderen und sehr viel
überlebensfähiger als die große Mehrheit. Das gilt analog für die Homosexualität.
Ein Mensch, dem die natürliche Anziehung durch das andere Geschlecht fehlt, kann
in vieler Hinsicht ein edler und guter Mensch sein. Das ändert aber nichts daran,
dass durch das Fehlen heterosexueller Attraktion ihm etwas Wichtiges fehlt.
Viele würden Ihre Argumentation als diskriminierend empfinden und sich
verbitten. Sie selbst haben beklagt, dass die Meinungsfreiheit im Moment
geringer sei als zum Beispiel in der Adenauer-Ära. Wie kommt das in einer
Gesellschaft, wo man zumindest de jure nahezu alles schreiben und öffentlich
sagen darf?
Das hängt meiner Meinung nach paradoxerweise gerade mit dem Relativismus
zusammen. Gerade wenn es keine gemeinsame Wahrheit, keine Einsicht in die Natur
des Menschen mehr gibt, dann ist der Streit der Meinungen ein politischer Streit,
der nicht mehr darauf zielt, den anderen zu überzeugen, sondern ihn mundtot zu
machen. Denn den anderen überzeugen zu können, daran glaubt man gar nicht. Das
setzt ja voraus, dass es so etwas wie Wahrheit gibt.
Das heißt, die pure Macht tritt an die Stelle des Arguments?
Ja. Diese Einschränkung der Meinungsfreiheit ist in diesem relativistischen
Kampf der Meinungen der Versuch, bestimmte Meinungen zu den herrschenden zu
machen. Oder wenn sie es schon sind, sie als herrschende zu behaupten. Das ist
ein Machtkampf. Interessen treten an die Stelle der Wahrheit als der Einsicht in
das von Natur aus Rechten.
Wird das Naturrecht nicht dort sein Ende finden, wo wir es vielleicht in
absehbarer Zeit mit Mischwesen aus Menschen und Tieren zu tun haben, wie es ja
in England zum Beispiel theoretisch schon erlaubt ist?
Das ist ein solches Verbrechen, dass ich jedes Attentat auf die Menschen
billigen würde, die das machen. Denn sie legen Hand an die Wurzeln unseres
Menschseins. Hier sollen ja Wesen erzeugt werden, bei denen nicht mehr klar ist,
ob sie eigentlich in die menschliche Familie gehören oder nicht. Ein solches
Mischwesen – man kann es weder als Tier behandeln noch als Mensch – würde uns in
eine große Verlegenheit bringen. Wie sollen wir uns diesen Wesen gegenüber
verhalten? Wenn sie leidensfähig sind, dann gibt es ein Verbot, ihnen
willkürlich Schmerzen zuzufügen. Wenn es ihre Natur ist, schmerzempfindlich zu
sein, folgt daraus eine gewisse Verpflichtung, weil der Schmerz etwas Negatives
ist, etwas, das nicht sein soll. Darum ist die willkürliche Zufügung von
Schmerzen gegen die Natur. Das würde bei diesen Wesen wohl auch gelten. Aber im
übrigen kann man nur sagen, dass es eine absolute Horrorvision ist, die
schlimmste vielleicht, die je ausgedacht wurde.
Wie lässt sich das aufhalten?
Aufhalten kann das entweder nur eine Katastrophe, nach der kein Geld mehr
vorhanden ist, um solche Sachen zu machen oder der Widerstand dagegen wächst so
stark, dass diese Dinge nicht mehr durchsetzbar sind. Das allerdings setzt
voraus, dass die Menschen begreifen, was da passiert. Und die Wahrscheinlichkeit
ist eher, dass man sie von dem Nutzen dieser Experimente so überzeugt, dass sie
am Ende sagen: Ja gut, dann machen wir das mal. Mit Fröschen macht's ja auch
nichts. Dann geht es so peu a peu weiter. Es läuft immer nach der Salami-Taktik.
Sogar die Moraltheologen haben sich oft daran beteiligt. Es sind immer kleine
Schrittchen, gegen die für sich genommen nichts zu sagen ist. Aber man weiß
schon, was der nächste Schritt ist. Wenn man erst ganz zum Schluss die Notbremse
zieht, dann ist es zu spät. Man muss hier Entwicklungstendenzen sehen, und das
ist dann Sache der Politik.
Aber wird die ihrer Verantwortung gerecht?
Leider nein. Die Politik versteht sich heute immer noch als der Hauptorganisator
dieser Art von Fortschritt und nicht als die Instanz des Aufhaltens. Ich glaube,
dass Aufhalten die wichtigste Aufgabe der Politik überhaupt ist. Sie kennen die
Debatte um den „katechon“, den Aufhalter, von dem der heilige Paulus im zweiten
Thessalonicherbrief schreibt, wenn er vom Antichrist spricht und sagt: ihr wisst,
wer ihn noch aufhält. Die Kirchenväter haben gerätselt, was er meint. Manche
haben gesagt, es ist das Römische Reich. Im Mittelalter hat man es auch so
verstanden, dass der Herrscher der Aufhalter des Antichrist ist. Es ist eines
der schlechten Argumente gegen das Aufhalten, dass man sagt: Naja, man kann ja
nur aufhalten, am Ende kommt es ja doch. Das ist gerade kein Argument. Erstens
weiß man nicht mit Sicherheit, ob es doch kommt. Denn: Kommt Zeit, kommt Rat.
Zeit gewinnen heißt, nochmal nachdenken können. Und außerdem ist das Aufhalten
auch dann wertvoll, wenn langfristig alles den Bach runtergeht: Nämlich für eine
bestimmte Zeit, eine bestimmte Epoche hat man noch eine gute Form des Lebens.
Aufhalten ist alles!
Wie könnte das konkret aussehen?
Nehmen Sie den Gedanken der Menschenrechte. Die Menschenrechte basieren auf dem
Gedanken der Menschenwürde. Der ist derzeit durch die moderne Naturwissenschaft
gefährdet, die den Menschen beherrschen will. Man muss sich klarmachen, dass es
keine Vermehrung der Mittel der Naturbeherrschung gibt, die nicht zugleich
Mittel der Menschenbeherrschung wären. In dem Maße aber, in dem sich die
technische Zivilisation über die ganze Erde ausbreitet und mit ihr die
Instrumentalisierung des Menschen, dann muss man die Menschenwürde schützen und
zwar in Form von Menschenrechten. Und die braucht man auch nicht als ungeheure
Errungenschaft zu verklären. Sie sind eher ein Medikament, das die
Nebenwirkungen einschränkt, die die Mittel der modernen Naturbeherrschung
hervorbringen. Wir haben als Europäer und Amerikaner deshalb die Pflicht, den
Gedanken der Menschenrechte in der ganzen Welt zu verbreiten und zwar deshalb,
weil wir vorher die technische Zivilisation exportiert haben. Ich bin dabei aber
nicht der Meinung, dass man einem Indianerstamm, der noch im Urwald lebt – derer
es nicht mehr viele gibt – irgendwie Menschenrechte beibringen sollte. Die leben
auf ihre archaische Weise. Erst wenn sie einmal Opfer der westlichen
Zivilisation geworden sind, was so kommen wird, dann ist es auch an der Zeit,
ihnen den Gedanken der Menschenrechte, also ein Korrektiv, beizubringen. Aber
solange sie noch in ihrer archaischen Welt leben, soll man sie damit verschonen.
Das würde alles nur durcheinanderbringen und würde ihre Lebensqualität nicht
verbessern.
Ihre Zivilisationskritik dürfte in fortschrittsoptimistischen Ohren sehr
düster klingen ...
Als Christen glauben wir nicht, dass die Zivilisation am Ende das Reich Gottes
hervorbringt, sondern die innere Dynamik der Geschichte bringt den Antichrist
hervor. Und das Reich Gottes wird am Ende von außen her einbrechen. Das ist
immer christliche Überzeugung gewesen.
Ist es das, wenn Sie davon sprechen, dass das Christentum am Ende
geschichtlich scheitern wird?
Sogar das. Ja. Aber wie sagte Nicolas Gomez Dávila: Das Scheitern des
Christentums ist nicht seine Widerlegung, sondern ist selbst christliche Lehre.