Der Kreuzestitel, eine der kostbarsten christlichen Reliquien


Erst vor vier Jahren krönte Anna-Luisa Rigato ihre Laufbahn als Exegetin mit einer „summa cum laude“ Promotion, mit 69, im Beisein Kardinal Martinis, den sie ihren Freund nennt.

Die Entdeckung des Lebens der quirligen Dame aber nahm nicht mit der Doktorarbeit oder einem anderen neuen Buch ihren Anfang, sondern mit einer Fotografie, die sie im Jahr 1995 bei Ferdinando Paladini in Auftrag gab.

Das Foto kostete sie 1.800.000,- Lire, sie vergisst es so wenig wie das Datum. Sieben Jahre später hat sie über eben dieses Foto promoviert, das sich ganz anders studieren ließ als das Objekt selbst.

Am 25. April war es ihr nämlich gelungen, den Abt einer der vornehmsten Kirchen Roms zu bewegen, die kostbarste Reliquie der Krypta aus dem Rahmen zu holen und ablichten und wiegen zu lassen, von vorne, von hinten, von oben, unten, rechts und links: ein Brett aus altem Nussholz, 687 Gramm schwer, 25 Zentimeter lang, 14 Zentimeter breit und 2,6 Zentimeter dick, darin eingeritzt fast unleserliche Graffiti.

Würmer, Insekten und Pilze drohten die Tafel schon fast aufzufressen. Es ist der älteste Text der Evangelien, ist Dottoressa Rigato überzeugt, und mehr noch, er ist älter als alle Evangelien, älter als die Texte von Markus, Matthäus, Lukas und Johannes zusammen - die jedoch alle von eben diesem Stück Holz berichten, auf dem auf hebräisch, griechisch und lateinisch geschrieben steht „Jesus von Nazareth, König der Juden“.

Im Westen trat die Tafel erst am 1. Februar 1492 ans Licht, hier: in dieser uralten Basilika. Bei Bauarbeiten wurde hoch oben im Triumphbogen der Helenakapelle, in deren Fundament Erde und Steine vom Golgatha-Felsen in Jerusalem eingearbeitet sind, ein großer Ziegel entfernt, der auf der unsichtbaren Innenseite die Aufschrift TITVLVS CRVCIS trug.

In der aufgebrochenen Nische fand sich eine versiegelte Bleischatulle, darin diese Tafel, unversehrt, die Siegel uralt. Die Sensation, von der ein großer Majolica-Fries zum Eingang der Krypta noch heute ausführlich auf Latein erzählt, verbreitete sich damals wie ein Lauffeuer.

Der klare Hinweis auf dem Ziegel hatte kaum jemanden an der Authentizität zweifeln lassen. Michelangelo, Rubens und El Greco hatten den Kreuzestitel danach schon gemalt, es gab von ihm etliche Zeichnungen, Kopien und auch Fotos.

Seit Signora Rigato den Text analysierte und auf eben jenen hochwertigen Fotos ergänzte, die sie zu diesem Zweck hatte anfertigen lassen, gibt es auch für sie keinen Zweifel mehr, dass es sich bei der Inschrift um das allererste authentische Stück Literatur über Jesus überhaupt handelt, nicht aus der Hand eines Evangelisten, sondern von einem jüdischen Lohnschreiber im Auftrag des römischen Landpflegers Pontius Pilatus, vom 14. Nissan, dem 7. April des Jahres 30. Der so genannte Kreuzestitel ist ein Schuldspruch, der nach römischer Rechtssitte Verurteilten auf ihrem Weg zum Galgen umgehängt wurde.

Von den Mönchen der Basilica Santa Croce in Gerusalemme war das zwar kaum wirklich in Frage gestellt worden, noch von den frommen Frauen, die die Kirche besuchten. Aus diesem Fachbereich für erledigte Fälle hat Anna-Luisa Rigato das Dokument mit ihren Pionierarbeiten in die Schreibstuben der Gelehrten katapultiert.

Erst ihr Foto ließ endlich Studien an dem Objekt zu, wie sie nie zuvor unternommen werden konnten. Carsten Peter Thiede griff die Entdeckung rasch auf und stellte sie 2000 in Deutschland in seinem Buch „Das Jesus-Fragment“ vor. „Nicht jede Reliquie, die über jeden Zweifel erhaben ist, muss eine Fälschung sein“, zitierte der verdiente evangelische Theologe danach augenzwinkernd den Patristiker Hippolyte Delehaye.

Dabei hatte er vor allem Frau Rigatos Fotografie vor Augen. Dass er den Anstoß zu seinen Forschungen dem Foto und den Vorarbeiten Signora Rigatos verdankte, sucht man freilich vergebens in dem Buch. Ein Jahr vorher hatte das Foto schon den Titel von Michael Hesemanns „Die Jesus-Tafel“ geschmückt.

Beide Autoren ließen keine Zweifel an der Authentizität der Tafel, doch vertraten gleichermaßen die These, das Stück Holz sei ein Fragment. Dem widerspricht Dottoressa Rigato mit jugendlicher Leidenschaft.

Dieses Stück enthalte das ganze Original, will sie mit einer fast schlafwandlerischen sicheren und winzigen Ergänzung herausgefunden haben. Wie die Schrift entstand, wird ausführlich von dem Evangelisten Johannes berichtet, dem – neben mehreren Frauen - einzigen Augenzeugen aller Apostel unter dem Kreuz war.

„Pilatus ließ auch ein Schild anfertigen“, heißt es da, „und oben am Kreuz befestigen; die Inschrift lautete: Jesus von Nazareth, der König der Juden.“ Die Inschrift war hebräisch, lateinisch und griechisch abgefasst. Die Tafel in Rom allerdings ist nicht auf hebräisch, lateinisch und griechisch abgefasst, wie Johannes schreibt, sondern hebräisch, griechisch und lateinisch. Auch sonst stimmen Details nicht.

Es gibt kleine Fehler, merkwürdige Abkürzungen, und neben der „falschen Reihenfolge“ wurde der Titel hier in allen drei Sprachen von rechts nach links geschrieben, auch das Griechische und Lateinische, auf „hebräische Art“, als wären sie alle von einem Juden – auf römisches Kommando - geschrieben worden.

Zusammen genommen sind es Fehler, die kein Fälscher sich je erlaubt hätte. Und was man von der hebräischen Inschrift entziffern konnte, was überhaupt zu wenig. Jeder Fälscher hätte sich exakt an „das Original“ der Bibel gehalten.

Johannes war Augenzeuge, führte sich Anna-Luisa Rigato nun noch einmal vor Augen, aber was er schrieb, war aus dem Gedächtnis. Nahm man die Sache ernst, musste sie also umgekehrt angegangen werden.

Dann musste unbedingt diese Tafel als Original gesehen werden und nicht ein Gedächtnisprotokoll des Inhalts. Wo andere dachten, die Tafel sei abgebrochen, weil die obere hebräische Reihe verwittert und unvollständig war, entdeckte sie danach nun plötzlich kein Fragment, sondern das Ganze, in einer bestürzenden Zuspitzung der Ereignisse in Jerusalem bei der Hinrichtung Christi – nachdem sie das Schrifträtsel mit wenigen roten Strichen fast schlafwandlerisch ergänzt hatte.

Plötzlich hießen die hebräischen Schriftzeichen der oberen Reihe danach „Jeshu Nazara M M“. In dem M M erkennt sie eine durchaus gebräuchliche Abkürzung für „Malk kem“. Das heißt: „Euer König“. – „Denn für die Römer und Griechen in der Stadt machte der Zusatz ‚König der Juden’ ja Sinn“, sagt sie, „für die Juden ging es auch kürzer: Euer König!“ War es eine Verhöhnung? „Nein“, schüttelt sie den Kopf, „es war prophetisch“.

Schärfer ist die Authentizität und Identität der Tafel in Rom mit dem Kreuzestitel von Jerusalem wohl noch nie begründet worden. Mit ihrem gelehrten Buch über die Entdeckung („Il Titolo della Croce die Gesù“) kam die übergangene Pionierin jedoch erst 2005 heraus, als längst andere den Ruhm ihrer Entdeckung geerntet hatten – in einem Verlagshaus der Universität, voller Fußnoten, nur für Eingeweihte lesbar, quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Sie lacht unbekümmert darüber, als sie mich durch den Garten des Klosters zu einem privaten Nebeneingang der Basilika führt. Sie bewegt sich hier, als sei es ihr zweites zuhause. Die Ringmauer eines alten Amphitheaters umfasst das Grundstück, in dem Zisterzienser einen prächtigen Gemüsegarten angelegt haben. Der Staub der Wege vor uns erinnert an das einzige Schriftstück aus der Hand Jesu, das er mit dem Finger in den Staub des Tempels schrieb, als eine Ehebrecherin vor ihn gezerrt wurde.

Sein einziges Schriftstück hat der Wind Jerusalems verweht. Es ist, als sei der Kreuzestitel davon in jeder Hinsicht das Gegenteil. Dieses Brett ist keine Wunderreliquie. Es ist ein staubtrockenes Dokument.

„Dieser Titel wird noch viel erzählen“, lacht Dottoressa Rigato vor dem Portal der Basilika noch einmal zum Abschied, „er fängt ja gerade erst zu sprechen an. Der kurze Text widerspricht in nichts den Evangelien: der Verfluchte ist hier der König!“

Das Mädchen aus Breslau ist auch im Alter noch keine Frau für Visionen, und doch ist es, als sehe sie die Szene leibhaftig vor sich: Freitagfrüh. Jerusalem voller Menschen, die vor dem Sabbat noch schnell einkaufen, voll von Geschrei, als Jesus durch den Markt getrieben wird.

Am Gartentor, durch das er ins Freie wankt, zum Galgenhügel vor der Mauer hinaus, werden Schafe in die Stadt getrieben; auf dem Tempelplatz hat schon das Schlachten der Lämmer für das Paschafest begonnen. Pilger drängen in die Stadt. In den Staubwolken, den blökenden Schafen entgegen, stolpert Jesus heraus, blutverklebt, staubbedeckt, den Kreuzesbalken auf der Schulter, an dem dieser ultimative Schuldspruch baumelt.

Die Hirten und Schaftreiber werden die hebräische Abkürzung kaum lesen können. Den Schriftgelehrten aber, die ihn ausgeliefert haben, fährt der Spott der Römer in die Knochen wie ein Dolch: „So sieht er aus: EUER KÖNIG.“

(Paul Badde kathnet)

Foto: (c) Anna Luisa Rigato