Auf den ersten Blick mag das Thema der Enzyklika "Fides et
ratio" über die Beziehung zwischen Glauben und Vernunft ausgesprochen intellektuell
erscheinen. Es scheint ein Thema zu sein, das Fachleuten vorbehalten ist: Theologen,
Philosophen oder Gelehrten. Sicher sind die unmittelbaren Adressaten dieser Enzyklika
außer den Bischöfen der katholischen Kirche die Theologen, die Philosophen und die
Intellektuellen. Wenn man die Dinge jedoch in der Tiefe betrachtet. richtet sich die
Enzyklika mit diesem Thema an alle Menschen, da jedem Menschen der Wunsch innewohnt, die
Wahrheit kennenzulernen und eine Antwort auf die fundamentalen Fragen der Existenz zu
finden: "Wer bin ich? Woher komme ich und wohin gehe ich? Warum gibt es das Böse?
Was wird nach diesem Leben sein?" (vgl. Einleitung, Nr.1).
Der erste Satz der Enzyklika enthält bereits das Motiv für dieses
Dokument: "Glaube und Vernunft (Fides et ratio) sind wie die beiden Flügel, mit
denen sich der menschliche Geist zur Betrachtung der Wahrheit erhebt." Das
Kernproblem der Enzyklika "Fides et ratio" ist die "Frage nach der
Wahrheit". Sie ist nicht einfach eine der zahlreichen und vielfältigen Fragen, denen
sich der Mensch stellen muß, sondern die unausweichliche. "fundamentale Frage",
die sich durch das ganze Leben und die ganze Geschichte der Menschheit hindurchzieht.
Der Hintergrund der Enzyklika
Gemeinsam mit der Liebe ist die Wahrheit die Grundkategorie der
christlichen Offenbarung Die Universalität des Christentums resultiert aus seinem
Anspruch, die Wahrheit zu sein, und sie schwindet, wenn die Überzeugung schwindet, daß
der Glaube die Wahrheit ist. Aber die Wahrheit gilt für alle. Folglich gilt das
Christentum, da es wahr ist, für alle. Auf dieser Grundlage ergibt sich das Motiv und die
Pflicht der Kirche zur missionarischen Aktivität: wenn die menschliche Vernunft die
Wahrheit kennenlernen möchte und wenn der Mensch für die Wahrheit geschaffen ist, dann
appelliert die christliche Verkündigung an dieses Offen-Sein der Vernunft, um in das Herz
des Menschen einzudringen. Daher kann es keinen Gegensatz, keine Trennung und keine
Entfremdung zwischen christlichem Glauben und menschlicher Vernunft geben, denn beide sind
auch in ihrem Anderssein in der Wahrheit vereint, beide stellen eine wichtige Rolle im
Dienst an der Wahrheit dar, beide finden ihre ursprüngliche Grundlage in der Wahrheit.
In meinem Vortrag möchte ich mich darauf beschränken, kurz auf den
Zusammenhang, auf die Originalität und auf die Aktualität der Enzyklika einzugehen, ohne
dabei die Analyse einzelner Teile vorzunehmen, da dies über den Rahmen dieser
Präsentation hinausginge.
Hundertzwanzig Jahre nach der Enzyklika "Aeterni Patris"
von Leo XIII. (1879) macht "Fides et ratio" wieder die Beziehungen zwischen
Glaube und Vernunft sowie zwischen Theologie und Philosophie zum Thema. Warum muß sich
der Glaube mit der Philosophie beschäftigen und warum kommt die Philosophie nicht ohne
den Beitrag des Glaubens aus? Diese Fragen bleiben nicht unbeantwortet. Und die Antwort
beschränkt sich nicht einfach auf die Wiederholung von Behauptungen, welche die Tradition
und das Lehramt der Kirche in der Vergangenheit bereits aufgestellt haben, wenngleich der
Inhalt der Enzyklika in voller Kontinuität mit dem bereits erworbenen Gut steht.
Die Antwort wird in die aktuelle kulturelle Situation eingebunden,
die sich, wenn man sie von ihrem Ursprung her betrachtet, durch zwei Faktoren auszeichnet:
die bis ins Extreme getriebene Trennung zwischen Glaube und Vernunft sowie der Ausschluß
der Frage nach der - absoluten und unbedingten - Wahrheit aus der kulturellen Forschung
und dem rationalen Wissen des Menschen.
Das allgemeine kulturelle und
philosophische Klima negiert heute die
Fähigkeit der menschlichen Vernunft, die Wahrheit erkennen zu können. Die Rationalität
wird einfach nur auf ihre instrumentalen, utilitaristischen, funktionalen, berechnenden
und soziologischen Aspekte reduziert. Die Philosophie verliert auf diese Weise ihre
metaphysische Dimension. Das Modell der Humanwissenschaften und der empirischen
Wissenschaften wird zum Parameter und Kriterium für Rationalität.
Die Folge ist einerseits, daß die wissenschaftliche Vernunft dem
Glauben nicht mehr feindselig gegenübersteht, da sie sich nicht mehr für die letzte und
endgültige Wahrheit der Existenz interessiert. Sie beschränkt sich vielmehr auf
experimentell erfahrbare Teilkenntnisse. Auf diese Weise wird alles, was sich nicht von
der wissenschaftlichen Vernunft kontrollieren läßt, aus dem Bereich des Rationalen
ausgeschlossen. Folglich wird objektiv der Weg zu einer
neuen Form des Fideismus
eröffnet. Wenn die einzige Art der "Vernunft" die wissenschaffliche ist, wird
der Glaube jeder Form der Rationalität und der Intelligibilität beraubt und dazu
bestimmt, sich in einen nicht definierbaren Symbolismus oder in ein irrationales Gefühl
zu flüchten.
Andererseits ist die Tatsache, daß die Vernunft auf den Anspruch,
die Wahrheit zu erkennen, verzichtet, in ihrem ersten Schritt auch eine Option
philosophischer Art und stellt die Forderung nach einer intrinsischen Beziehung zwischen
Theologie und Philosophie auf. Das Sich-Zurückziehen aus der Wahrheitsfrage von Seiten
der Vernunft bedeutet, einer bestimmten philosophischen Kultur nachzugeben, welche die
Metaphysik aufgrund der Verabsolutierung des Paradigmas der wissenschaftlichen oder
historischen Vernunft ausschließt. Die Folge dieser Kapitulation ist nur scheinbar
ungefährlich für den Glauben, der in einen in sich geschlossenen Kreislauf abgedrängt
wird. Er wird in den Subjektivismus, in die Privatsphäre, verbannt und ist nicht mehr in
der Lage, sich den anderen mitzuteilen oder sich auf kultureller oder rationaler Ebene
Geltung zu verschaffen.
Wenn die Vernunft sich in einem Zustand der "Schwäche"
befindet, ergibt sich daraus eine kulturelle Sicht des Menschen und der Welt, die
relativistischer und pragmatistischer Art ist. Alles wird "auf Meinung
reduziert", und man gibt sich "mit provisorischen Teilwahrheiten" (NL 5)
zufrieden.
Was das Schreiben sagen will
Die Botschaft der Enzyklika reagiert auf diese kulturelle Situation
und bringt kraftvoll und überzeugend die Fähigkeit der Vernunft wieder vor, Gott
erkennen und - gemäß der begrenzten Natur des Menschen - die fundamentalen Wahrheiten
der Existenz finden zu können: die Spiritualität und Unsterblichkeit der Seele; die
Fähigkeit, Gutes zu tun und dem natürlichen Gesetz der Moral zu folgen; die
Möglichkeit, wahre Urteile zu formulieren, die Behauptung der Freiheit des Menschen...
Gleichzeitig bestätigt sie, daß diese metaphysische Fähigkeit der Vernunft eine
notwendige Tatsache des Glaubens ist, bis zu dem Punkt, daß eine Glaubensauffassung, die
vorgibt, sich abweichend oder alternativ zur Vernunft zu entwickeln, auch als Glaube
ungenügend wäre.
Weiter stellt der Papst, indem er sich in den Dialog der
Intellektuellen unserer Zeit einschaltet, eine ernsthafte Frage, die eine ebenso
ernsthafte Reflexion und Diskussion hervorrufen muß: warum will die
Vernunft sich selbst
daran hindern, nach der Wahrheit zu streben, während sie doch durch ihre eigentliche
Natur darauf ausgerichtet ist, diese zu erlangen?
An diesem Punkt wird offensichtlich, daß man - wenn die Fähigkeit
der Vernunft, die Wahrheit Gottes, des Menschen und der Welt zu erkennen, gestützt werden
soll - eine Philosophie benötigt, die in der Lage ist. begrifflich die metaphysische
Dimension der Wirklichkeit zu erkennen. Es bedarf, in anderen Worten, einer Philosophie,
die den fundamentalen Fragen der Existenz, der Integrität und Totalität des Wirklichen
ohne Vorurteile und ohne reduktionistisches Vorverständnis "offen"
gegenübersteht.
Der christliche Glaube ist einerseits dazu verpflichtet, sich
solchen Philosophien oder Theorien entgegenzustellen, welche die Neigung des Menschen, die
metaphysische Wahrheit der Dinge erkennen zu wollen, ausschließen (Positivismus,
Materialismus, Szientismus, Historismus, Problematizismus, Relativismus, Nihilismus).
Andererseits verteidigt der Glaube, indem er die
Möglichkeit einer metaphysischen und
rationalen Reflexion verteidigt, welche in der Forschungsmethode autonom bleibt und ihre
eigene Natur behält, die Würde des Menschen und fördert so die Philosophie, indem er
sie dazu auffordert, sich mit dem tiefen und letzten Sinn des Seins, des Menschen und der
Welt zu befassen. Den Menschen vom Zugang zur Wahrheit auszuschließen, ist der Ursprung
jeder Entfremdung. In diesem Sinn knüpft "Fides et ratio" an die erste,
programmatische Enzyklika von Johannes Paul II., "Redemptor hominis", an: die
Kirche kann nicht allem gleichgültig gegenüberstehen, was den Menschen bewegt, das
heißt seiner Unruhe, seinem Handeln und seinen Hoffnungen: "der Suche nach Wahrheit,
dem unstillbaren Bedürfnis nach dem Guten, dem Hunger nach Freiheit, der Sehnsucht nach
dem Schönen, der Stimme des Gewissens" (vgl. Nr.18).
,,Fides et ratio" will dem zeitgenössischen Menschen das
Vertrauen und die Möglichkeit wiedergeben, eine sichere Antwort auf seine Unruhe und
seine existentiellen Bedürfnisse zu finden. Sie fordert das menschliche Gewissen auf,
sich dem Grundproblem der Existenz und des Lebens zu stellen und die Wahrheit Gottes als
Prinzip der Wahrheit, der Person und der ganzen Welt anzuerkennen.
Das soll nicht heißen, daß die Kirche eine bestimmte
philosophische Schule durchsetzen oder ein bestimmtes philosophisches oder
metaphysisches
System kanonisieren will. Die Enzyklika ist in diesem Punkt ganz klar. Es bedeutet jedoch,
daß die christliche Lehre die Durchsetzung einer "recta ratio" (einer gerade
ausgerichteten philosophischen Vernunft) fordert, die, obwohl sie sich nicht mit einer
bestimmten philosophischen Bewegung identifiziert, den wesentlichen Kern und die
unverzichtbaren Eckpfeiler der rationalen Wahrheit des Seins, der Erkenntnis und des
moralischen Handelns des Menschen ausdrückt, die sozusagen der Pluralität verschiedener
Philosophien und Kulturen vorausgehen und ein Kriterium zur Beurteilung verschiedener
Aussagen philosophischer Systeme bilden.
Hier sieht man die Bedeutung dieses Aufrufs der Enzyklika für die
Theologen und (für gläubige und nicht gläubige) Philosophen. Besonders ursprünglich
ist der Hinweis, daß die christliche
Offenbarung selbst der Vergleichs- und
Verknüpfungspunkt zwischen Philosophie und Glauben ist. Indem er die aktuellen
Forderungen und Aufgaben umreißt (Kap. VII), zeigt der Papst den "Weg der
Weisheit" als den richtigen Weg an, um endgültige Antworten auf die Frage nach dem
Sinn der Existenz zu finden. Er erinnert die Theologen daran. daß die Theologie ohne eine
gesunde Philosophie dazu bestimmt ist, den Denkformen der postmodernen Kultur zu erliegen,
die es aufgegeben hat, über die Frage der Wahrheit nachzudenken. Er lädt die Philosophen
dazu ein, einer ständig gültigen Tradition zu folgen und die Dimensionen der Weisheit
und der Wahrheit - auch der metaphysischen - im philosophischen Denken wiederzubeleben.
Die Aktualität von Fides et ratio
Die Enzyklika antwortet schließlich auf die wichtigste kulturelle
Herausforderung, die in der heutigen Zeit aufgeworfen wird: es geht um den Sinn der
Freiheit.
"Wahrheit und Freiheit verbinden sich miteinander oder sie
gehen gemeinsam elend zugrunde" (Nr. 90). Das ist, wenn man so will, die wichtigste
Forderung, die aus der Enzyklika "Fides et ratio" hervorgeht.
In der heutigen Zeit ist die Idee der Freiheit bis zu dem Punkt
gereift, daß sie als absolut autonom aufgefaßt wird. Man sieht keine Möglichkeit, sie
mit der Idee der absoluten und unbedingten Wahrheit zu verknüpfen. Daraus folgt, daß die
allgemeine Meinung es für möglich und legitim hält, lediglich einen gemeinsamen Bereich
oder eine gemeinsame Plattform zu suchen, wo man ethische oder allgemein menschliche Werte
ausmachen kann, um die herum sich in Konsens konstruieren läßt. Der "möglihe
Konsens" wird Prinzip und Ziel der kulturellen und philosophischen Reflexion und des
Dialogs. Nicht die Zustimmung zur Wahrheit oder die Suche nach der Wahrheit, sondern eine
realisierbare öffentliche Zustimmung, welche die Freiheit von allen und jedem
respektiert, bildet das Ziel der Reflexion sowie der kulturellen und sozialen Bemühungen.
"Fides et ratio" überwindet diesen Niedergang und diese
Beschränktheit der Vernunft und der Freiheit und stellt stattdessen eine untrennbare
Verbindung zwischen Wahrheit und Freiheit her. Die Freiheit ist nicht einfach die
Fähigkeit, gleichgültige oder austauschbare Entscheidungen zu treffen. Sie ist auf
Fülle ausgerichtet, ein erfülltes Leben, das die Person mit dem Ausüben ihrer Freiheit,
aber in "richtiger Weise" (Recta Ratio) erobern muß. Die Freiheit findet ihren
Sinn und folglich ihre Wahrheit, indem sie sich selbst, in Übereinstimmung mit der Natur
der menschlichen Person, auf ihr eigenes Ziel ausrichtet. Folglich ist die Freiheit
untrennbar an die Wahrheit des nach dem Bilde Gottes geschaffenen Menschen gebunden und
besteht vor allem in der Liebe zu Gott und dem Nächsten.
Es gibt schließlich die Korrelation zwischen
Liebe und Wahrheit.
Die Liebe zu Gott und zum Nächsten kann nur dann Bestand haben, wenn sie in der tiefen
Liebe zur Wahrheit Gottes und des Nächsten gründet. Die wirkliche Liebe zum Menschen ist
der Wunsch, ihm das zu geben, was er am nötigsten braucht: Erkenntnis und Wahrheit. Daher
ist die Enzyklika "Fides et ratio" aktuell, und zwar von einer tiefen und nicht
nur einfach oberflächlichen oder der Mode entsprechenden Aktualität: sie ist aktuell,
weil sie zeigt, daß der Glaube als Annahme der Wahrheit Gottes, die sich in Jesus
Christus offenbart, weder für die Vernunft noch für die Freiheit eine Bedrohung
darstellt. Der Glaube schützt die Vernunft, da er fragende und forschende Menschen
braucht. Nicht das Fragen behindert den Glauben, sondern jene verschlossene Haltung, die
nicht fragen will und die Wahrheit als etwas betrachtet, das unerreichbar oder nicht der
Mühe wert ist. Der Glaube zerstört die Vernunft nicht, er bewahrt sie und bleibt sich
dadurch selbst treu.