Die göttliche Liebe und das Problem menschlicher Existenz


In der Liebe nehmen wir die Welt in besonderer Weise wahr.
Philosophische Gedanken zur Enzyklika "Deus Caritas Est"
von Dominik Batthyany.

 Die Liebe ist ein unerschöpfliches Thema. Sie ist nicht nur ein theoretisches Problem, sondern ein Problem der Praxis; nicht ein Problem zwischenmenschlicher Beziehungen alleine, sondern ein Problem der Lebensführung als solches.

Die meisten Menschen, so Erich Fromm, sehen das Problem der Liebe in erster Linie als das Problem, selbst geliebt zu werden, statt zu lieben und lieben zu können. Tatsächlich aber wird, so scheint es, das Lieben dadurch erst wirklich zu einem Problem. Indem wir nämlich primär wünschen geliebt zu werden, entgleitet uns die Dimension dessen, was Lieben eigentlich bedeuten kann: nämlich Glück.

Sigmund Freud hat in diese Richtung einmal eine interessante Feststellung gemacht: „Einer geringen Minderzahl wird es durch ihre Konstitution möglich, das Glück doch auf dem Wege der Liebe zu finden … Diese Personen machen sich von der Zustimmung des Objektes unabhängig, indem sie den Hauptwert vom Geliebtwerden auf das eigene Lieben verschieben … Der Heilige Franciscus von Assisi mag es in dieser Ausnützung der Liebe für das innere Glücksgefühl am weitesten gebracht haben“.

Der Zusammenhang von Lieben und Glücklichsein wird von Menschen tief und häufig empfunden. Von daher ist zu verstehen, dass Aristoteles meinte: Glück setze so etwas wie „ethische Vollkommenheit“ voraus. Ebenso erklärte Platon, dass es besser sei Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun, denn derjenige, der Unrecht tue sei im Grunde unglücklich und füge vor allem auch sich selbst Schaden zu.

Wir fühlen, schreibt Ludwig Wittgenstein im Traktatus Logico Philosophicus, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. In der Liebe aber nehmen wir – ganz „unwissenschaftlich“ – die Welt, wie es scheint, in besonderer Weise wahr – selbst der Begriff von „Glück“ und das Bild von dem, was wir selbst sind, verändern sich vor einem liebenden Auge.

Was hat es mit diesem Blick für eine Bewandtnis? Dass er dem Menschen entspricht? Dass er wahr ist? Sieht die Liebe am Menschen etwas, was eigentlich unsichtbar ist? Ferner: Ist die Liebe eine Antwort auf unsere Lebensprobleme?

Im Lieben und Geliebwerden wird der Mensch, scheint es, im eigentlichen Sinne menschlich, d.h. der, der er eigentlich ist. Wer bin ich, wenn ich bin, was ich habe, und dann verliere, was ich habe?“, fragte Erich Fromm. „Nichts als ein besiegter, gebrochener, erbarmenswerter Mensch, Zeugnis einer falschen Lebensweise.“ Es gebe nämlich „ein angeborenes, tief verwurzeltes Verlangen“ des Menschen danach „zu sein: unseren Fähigkeiten Ausdruck zu geben, tätig zu sein, auf andere bezogen zu sein, dem Kerker der Selbstsucht zu entfliehen.“

Selbstsucht und Selbstliebe sind aus dieser Sicht keineswegs identisch, „sondern in Wirklichkeit Gegensätze.“ Der Selbstsüchtige, so Erich Fromm, liebt sich selbst nicht zu sehr, sondern zu wenig; tatsächlich hasst er sich. Für Fromm gehörte die Unterscheidung zwischen Haben und Sein mit jener zwischen der Liebe zum Leben und der Liebe zum Toten zum entscheidendsten Problem der menschlichen Existenz.

,,Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm’’ (1 Joh 4, 16). Mit diesen Worten aus dem Ersten Johannesbrief leitet Benedikt XVI. seine erste Enzyklika ein. In ihnen werde die Mitte des christlichen Glaubens, das christliche Gottesbild und das daraus folgende Bild des Menschen in einzigartiger Klarheit ausgesprochen, so der Papst.

Dieser Auftakt beeindruckt. Benedikt unterstreicht auf diese Weise die große Herausforderung und tiefe Einfachheit, die ein religiöses Leben bedeuten kann: nämlich Gott, den Menschen und das Leben zu lieben. „Die Liebe zu verwirklichen und damit das Licht Gottes in die Welt einzulassen“, schreibt er, „dazu möchte ich mit diesem Rundschreiben einladen.“

Ende Jänner ist sie unter dem Titel „Deus Caritas est“ – Gott ist Liebe – erschienen, die erste Enzyklika von Papst Benedikt XVI. Sie ist ein Hohelied der Liebe, einfach und radikal, eine poetische Schrift, die gleichzeitig tief theologisch ist. Der Papst konzentriert sich in seinem Schreiben auf diese ganz zentrale Thematik menschlichen Lebens, die gleichzeitig die Glaubensbotschaft des Christentums ist: die Liebe.

Benedikt möchte begreiflich machen, so scheint es, worum es beim Christsein eigentlich und im Grunde geht. Man hat den Eindruck, diese Enzyklika ist vor allem für Menschen geschrieben, die der katholischen Kirche bzw. dem Christentum fernstehen. Sie ist ein, so könnte man sagen, Grundkurs über das christliche Gottes- und Menschenbild und setzt an, worauf alle Sehnsucht des Menschen gerichtet ist.

Die Konzeption von „Deus Caritas est“ ist aber auch durchaus kühn. Nicht die Caritas ist es, von der in diesem päpstlichen Schreiben ausgegangen wird, auch nicht die Agape. Nein, es ist der Eros. Die Liebe zwischen Mann und Frau, so der Papst, erscheint als Urtypus der Liebe. Auch dieser Angelpunkt zieht an und fasziniert.

Der Vorwurf von der Leib- und Lebensfeindlichkeit des Christentums wird von Benedikt offen thematisiert. „Vergällt uns die Kirche mit ihren Geboten und Verboten nicht das Schönste im Leben?“ fragt er. „Stellt sie nicht gerade da Verbotstafeln auf, wo uns die vom Schöpfer zugedachte Freude ein Glück anbietet, das uns etwas vom Geschmack des Göttlichen spüren lässt?“ –

Man hat den Eindruck, Benedikt XVI. möchte den Eros und die erotische Liebe – für die Menschen „das Schönste im Leben“ – vor destruktiven Auswüchsen in Schutz nehmen. „Der zum ,Sex’ degradierte Eros“, schreibt er, „wird zur Ware, zur bloßen ,Sache’, man kann ihn kaufen und verkaufen, ja, der Mensch selbst wird dabei zur Ware. In Wirklichkeit ist dies gerade nicht das große Ja des Menschen zu seinem Leib“.

Wir stünden vielmehr „vor einer Entwürdigung des menschlichen Leibes, der … nicht mehr lebendiger Ausdruck der Ganzheit unseres Seins ist, sondern ins bloß Biologische zurückgestoßen wird.“ Demgegenüber habe der christliche Glaube „immer den Menschen als das zweieinige Wesen angesehen, in dem Geist und Materie ineinandergreifen … Der Eros will uns zum Göttlichen hinreißen, uns über uns selbst hinausführen, aber gerade darum verlangt er einen Weg des Aufstiegs, der Verzichte, der Reinigungen und Heilungen.“ Was aber ist damit gemeint? Wird hier Sexualität nicht als etwas Schmutziges gesehen, auf das man besser verzichten sollte?

Platon sah im Eros einen großen Dämon, einen Dolmetscher und Überbringer zwischen dem Ewigen und dem Vergänglichen, zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre. Der Eros – jene Liebe, die uns zunächst als Eigenschaftsliebe entgegentritt – sei, so Platon, auf die Hervorbringung des Schönen, Ewigen und Unsterblichen gerichtet. Die erotische Liebe ist sozusagen eine Eintrittkarte in die Wirklichkeit eines Menschen, die ihrerseits das rein Erotische übersteigt.

Im Rausch der Verzauberung der erotischer Liebe eröffnet sich uns gewissermaßen eine neue Dimension, die den Eros selbst transzendiert, um uns schließlich zum Zugriff nach dem Eigentlichen des Menschen, nach dem Eigentlichen des geliebten Du, gelangen zu lassen. Ganz in diesem Sinne schrieb der weltberühmte Wiener Psychiater Viktor E. Frankl: „Die echte Liebesintention dringt bis zu jener Seinsschicht vor, in der jeder einzelne Mensch nicht mehr irgendeinen ,Typus’ darstellt, sondern nur mehr sein eigenes einziges Exemplar, unvergleichlich und unvertretbar und ausgestattet mit der ganzen Würde solcher Einzigartigkeit.“

Platon spricht vom Eros als von einem Übergang von einem geringeren zu einem höheren Wissen. Der Eros ist, so scheint es, ganz er selbst, wenn er Weg und nicht Ziel ist, wenn er „uns über uns selbst hinausführt“. Das Ziel aber ist das Du. Dieses Du im Auge zu behalten erfordert Verzicht, eine Verschiebung des Blicks auf etwas, zu dem der Eros eine Brücke ist.

„Der wahrhaft Liebende“, schreibt Viktor Frankl in der Ärztlichen Seelsorge, ,meint’ in all seinem Lieben eben nicht mehr nur „irgendwelche psychischen oder physischen Eigentümlichkeiten ,an’ der geliebten Person, meint er doch nicht diese oder jene Eigenart, die sie ,hat’, vielmehr das, was sie in ihrer Einzigartigkeit ,ist’.“ Das erinnert auch an Erich Fromm.

Die große Kraft der Liebe zwischen Mann und Frau liegt in deren geschlechtlichen Ausdruck, in der Sprache, mit der zwei Liebende ihre Liebesbeziehung ausdrücken. Die eigentliche Unaussprechlichkeit dessen aber, was durch die Liebe im anderen erfasst wird, die Einzigartigkeit des Geliebten, die sich mir durch sie erschließt, und die Einzigartigkeit dieser einen Beziehung, liegt dennoch jenseits jeder Ausdrucksform.

Die Exklusivität meiner Hingabe an diesen einen Menschen, die als solche einzigartige Gestaltung meiner Liebesbeziehung, die sich in sexueller Treue zeigt, ist es, die die Einzigartigkeit des anderen Menschen und dieser Beziehung, die uns verbindet, ausdrücken möchte. Das Eigentümliche des sexuellen Ausdrucks ist aus diesem Grund, dass er seine besondere Bedeutung verliert, sobald er allgemein, d.h. sozusagen zu einem Händedruck auf der Horizontalen, wird.

Vor diesem Hintergrund scheint die tatsächliche oder scheinbare Lust- oder Leibfeindlichkeit der Kirche aus einer oft missverstandenen Angst entstanden zu sein: nämlich vor der manipulativen, ausbeuterischen Kraft eines „zum ,Sex’ degradierten Eros“, wie es in der Enzyklika heißt, durch den der jeweilige Sexualpartner schließlich keine Person mehr, sondern eine Sache wird - „ein Mechanismus, den man zum eigenen Vergnügen gebraucht“, wie der Philosoph Josef Pieper es einmal formuliert hat.

„Wo die Qualität des Liebesglücks fehlt“, so Viktor Frankl, „muss dieser Mangel durch die Quantität des Sexualgenusses kompensiert werden.“ D.h. „je weniger ein Mensch ,beglückt’ wird, um so mehr muss sein Trieb ,befriedigt’ werden.“ Menschliches Geschlechtsleben aber beginnt erst dort menschlich, will heißen menschenwürdig, zu sein, wo es „auch schon mehr ist als bloßes Geschlechtsleben, wo es eben Liebesleben ist.“

Und bei Erich Fromm ist zu lesen: „Die Befürworter moderner Formen des Zusammenlebens wie Gruppenehe, Partnertausch, Gruppensex etc., versuchen, soweit ich das sehen kann, nur, ihre Schwierigkeiten in der Liebe zu umgehen, indem sie die Langeweile mit ständig neuen Stimuli bekämpfen und die Zahl der Partner erhöhen, statt einen wirklich zu lieben.“ – In diesem Hinblick erfordert der Aufstieg in der Wahrnehmung des anderen Menschen tatsächlich, wie der Papst formuliert, „Verzichte, Reinigungen und Heilungen“ im Blick auf das geliebte Du.

Die Fragen, die Benedikt XVI in seiner ersten Enzyklika beschäftigen, zeigen ein Ringen um das rechte Verständnis von Kirche, Mensch und Gott – im Hinblick auf diese Liebe, die, aus dem Blick eines religiösen, christlichen Glaubens, Gott ist. Sie besagt, dass Gott im Lieben der Menschen und im Lieben der Kirche lebendig wird. Es handelt sich, so scheint es, bei diesem ersten Schreiben des Papstes auch um eine Kritik des religiösen, des kirchlichen Lebens und Handels. „Liebe zu üben“, sagt er, gehöre zum Wesen der Kirche „wie der Dienst der Sakramente und die Verkündigung des Evangeliums.“

Und das verwundert nicht, wenn Lieben bedeutet, Gott in die Welt zu tragen. Es ist, so verstanden, tatsächlich eine Form von Verkündigung: „Wer im Namen der Kirche karitativ wirkt, wird niemals dem anderen den Glauben der Kirche aufzudrängen versuchen. Er weiß, dass die Liebe in ihrer Reinheit und Absichtslosigkeit das beste Zeugnis für den Gott ist, dem wir glauben und der uns zur Liebe treibt.“

„Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan’’ (Mt 25, 40). Hier, so der Papst, verschmelzen Gottes- und Nächstenliebe. Aber: „Keiner hat Gott gesehen - wie sollten wir ihn lieben?“ „Können wir Gott überhaupt lieben, den wir doch nicht sehen?“ – eine Frage, die wohl jeden Gottsuchenden zutiefst beschäftigt. Die Spur Gottes in der Welt, von der wir heute ausgehen müssten, so der deutsche Philosoph Robert Spaemann, „ist der Mensch, sind wir selbst.“

Und eines wird dem Leser dieser Enzyklika klar: Für den gläubigen Menschen bedeutet die Begegnung mit der Liebe, die Begegnung mit Gott. Wie aber findet diese Begegnung statt? Sie findet statt in der Liebe, die wir geben, zum Nächsten, in der Liebe, die wir empfangen, die uns ein Du schenkt – und in der Liebe zu uns selbst. Lieben wird hier verstanden als etwas Göttliches. Die Vorstellung vom Menschen als Ebenbild Gottes und der Gedanke, dass Gott die Liebe ist, sagen dem Gläubigen, dass auch der Mensch dazu berufen ist zu lieben und geliebt zu werden – auch von sich selbst.

Der Liebende und der Geliebte zeigen damit auf die Würde des Menschen. Denn die Aufforderung zur Gottesliebe ist die Aufforderung zur richtigen Selbst- und Nächstenliebe, als Liebe zur Gottesebenbildlichkeit des Menschen – im Du und in uns selbst. „Gott zu lieben“, schreibt Erich Fromm in Die Kunst des Liebens, „würde bedeuten, nach der Erreichung der vollen Fähigkeit des Liebens zu streben, nach der Verwirklichung Gottes in uns selbst.“

Wenn Gott in der Liebe alleine sichtbar wird, dann kann wahrhafte Religiosität, also der Glaube an Gott und der Wunsch seinen Willen zu erfüllen, nur dort möglich sein, wo der Glaube selbst im Lichte dieser Liebe steht. Lieblose Erscheinungsformen von Religiosität entspringen aus dieser Sicht immer einem ihr exogenen Prinzip. „Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt, denn Gott ist die Liebe. (I Joh 4, 7 f.)“.

Das Augustinische „Liebe und tue, was Du willst“ drückt dies ebenso aus. Es macht aber auch deutlich, dass Lieben zuallererst ein Erkennen, ein Begreifen ist, dem das Handeln folgt. Als „Magna Charta allen kirchlichen Dienens“ spricht der Papst vom Hohelied der Liebe (1 Kor 13) „In ihm“, so der Papst, „sind alle Überlegungen zusammengefasst, die ich im Laufe dieses Schreibens über die Liebe entwickelt habe“.

Liebe sei demnach mehr als bloße Aktion. In ihr müsse die Liebe zum Menschen selbst spürbar werden, die sich von der Begegnung mit Christus nährt. Hier wird deutlich, dass der Christliche Liebesdienst für Benedikt XVI. mehr ist als soziales Engagement oder eine Art Wohlfahrtsaktivität. Er wirkt in beide Richtungen: er ist Übung in der Liebe und Dienst nicht bloß am Geliebten, sondern am Liebenden selbst. – Schließlich aber sind Lieben und Geliebtwerden für einen Christen die Begegnung mit dem Göttlichen.

So ist auch der himmlische Glückszustand das, was der Gläubige als Schau Gottes zu begreifen versucht: „Das ist das ewige Leben: dich, den einzigen wahren Gott, zu erkennen“. (Joh 17,3.) Gott zu erkennen ist aus der Perspektive des religiösen Glaubens die Erlangung absoluter Selbstliebe und Selbsterkenntnis, der Zustand, in dem wir mit uns ganz eins sind. „Deus Caritas Est“ zeigt, dass der Gläubige, indem er liebt, bereits jetzt Teil jener anderen „himmlischen“ Welt, und in Gott, ist.

Wenn Gott Liebe ist, tragen wir die himmlische Glückseligkeit immer schon in unserem Herzen. Wir tragen gewissermaßen, wenn wir lieben, die Wärme jener anderen Welt in die unsere. „Das, was sie Himmel nennen,“ so Fichte, „liegt nicht jenseits des Grabes; es ist schon hier um unsere Natur verbreitet, und sein Licht geht in jedem reinen Herzen auf.“ Es gibt also so etwas wie den Himmel auf Erden. Er ist dort, wo wir lieben. Die Hölle aber ist dort, wo der Hass ist.

Wenn Gott die Liebe ist, warum lässt er Ungerechtigkeit und Schmerz in dieser Welt überhaupt zu? Eine Frage, die in diesem Kontext besonders beschäftigt. Denn es ist unbegreiflich, warum all das Elend in unserer Welt ist und sein darf. „Oft ist es uns nicht gegeben, den Grund zu kennen, warum Gott seinen Arm zurückhält, anstatt einzugreifen“, heißt es in Deus Caritas Est. Aber Gott verbiete uns nicht, wie Jesus am Kreuz zu schreien: ,,Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?’’.

Unser Schreien, wie das Jesu am Kreuz, wäre selbst die äußerste und tiefste Bestätigung unseres Glaubens an seine Souveränität, so Benedikt. Der Glaube an diese Souveränität aber ist aus dieser Sicht der Glaube an die Liebe selbst. – Die Liebe steht sozusagen über allem. Vor diesem Hintergrund tritt menschliches Leid und Schmerz in eine andere Dimension ein.

Die Liebe vertreibt nicht das Elend, sie trägt den Menschen aber über es hinaus. Es geht dann nicht mehr um die Frage, was für einen Sinn Leid hat, sondern darum, ob ein Leben im Leid sinn-los ist. Diese Frage aber verneinen wir, wenn wir lieben. Leid und Schmerz werden übertönt durch den Sinn und die Liebe, die sich uns durch sie hindurch erschließen. Im Lieben und im Geliebtwerden selbst wird uns klar, worin der Sinn des Lebens besteht bzw. nicht besteht: nämlich gerade nicht im Nichtleiden, wie es scheint.

Die Lösung des Problems von Schmerz und Leid liegt, so könnte man sagen, im Erkennen seiner „Unbedeutsamkeit“. Selbst Bestandteile, die ein reiches und sinnvolles Leben ausmachen, wie etwa Arbeit, Familie, Bildung, Sport oder künstlerisches Schaffen, sind ohne Entbehrungen gar nicht denkbar. Sie sind immer auch schmerzlich in der einen oder anderen Form.

Vor dem Hintergrund eines sinnvollen Lebens jedoch werden sie gerade zu Möglichkeiten der Verwirklichung von Glück – als Liebe zum Leben. Jesus sagt: „Wer mein Jünger sein will“ – wir können auch sagen: Wer Jünger der Liebe sein will – „der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir“ – der Liebe – „nach. Denn wer sein Leben retten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen verliert, der wird es retten.“ (Mk 8, 34-35.)

In diesem Sinne - und im Sinne Erich Fromms – könnte man auch sagen: Wenn man wagt zu sein, fragt man nicht, was man für den Einsatz bekommt oder was einem bleibt; man fragt nicht, was man davon hat, wenn man ist. Die Liebe zur eigenen Existenz, die Freude darüber, dass man ist und nicht vielmehr nicht ist, ist eine Freude, die allem standhält und alles übertönt.

Daher ist richtig, was Robert Spaemann schreibt: „Wer den Menschen als ein Wesen ansieht, dem es letzten Endes und im Grunde nur um Maximierung subjektiver Lustzustände geht, muss die Realität als etwas Feindliches ansehen.“ – Und bei Kant lesen wir: „Je mehr sich eine kultivierte Vernunft mit der Absicht auf den Genuss des Lebens und der Glückseligkeit abgibt, desto weiter der Mensch von der wahren Zufriedenheit abkomme.“

In der Liebe alleine also kann uns nichts etwas anhaben. Und zwar, weil ihr Glück und ihr Sinn an keine äußeren Bedingungen geknüpft sind. Nur in ihr erfüllt sich deshalb das: „O glaube, mein Herz, o glaube: Es geht dir nichts verloren! Dein ist, ja dein, was du gesehnt, dein, was du geliebt, was du gestritten! O glaube: Du warst nicht umsonst geboren! Hast nicht umsonst gelebt, gelitten!“ (Friedrich Gottlieb Klopstock) In ihr also ist das Leben in all seinem Schmerz und Leid dennoch bejahbar und als lebenswert begreifbar.

„Die besten Verteidigungsstrategien gegen die Schrecken der Existenz sind“, so Christopher Lasch, „die einfachen Tröstungen der Liebe, der Arbeit und des Familienlebens, sie verbinden uns mit einer Welt, die von unseren Wünschen unabhängig und dennoch für unsere Bedürfnisse empfänglich ist … Liebe und Arbeit geben uns allen die Möglichkeit, einen kleinen Teil der Welt für uns zu entdecken und die Welt schließlich so anzunehmen, wie sie ist.“

Dass die höchste Form des Gebetes gerade in der Danksagung und im Lobpreis seinen Ausdruck findet, mit Vergebung und Versöhnung untrennbar verbunden ist, deutet darauf hin, dass Liebe – und hier die Liebe zu Gott – immer schon den Charakter von Dankbarkeit hat, ferner ein Streben ist, sich in ein positives Verhältnis zur Wirklichkeit zu setzen bzw. ein Zeichen dafür ist, dass man sich in einem derartigen Verhältnis bereits befindet.

Damit bedeutet die Liebe zu Gott – und das Gebet als Ausdruck derselben – Bejahung unserer Existenz und ihrer Sinnhaftigkeit – trotz allem. So lesen wir etwa bei Ludwig Wittgenstein: „Den Sinn des Lebens d.i. den Sinn der Welt, können wir Gott nennen. Und das Gleichnis von Gott als einen Vater daran knüpfen. Das Gebet ist der Gedanke an den Sinn des Lebens.“

Wenn also von Gott die Rede ist, ist falsch zu fragen „Warum sollen wir glauben?“. Vielmehr müsste die Frage lauten: „Warum sollen wir lieben?“ Diese Frage aber ist selbst schon lieblos.