Kirche und Ökumene
Aus dem Nachlaß
von Martin Niemöller. Der Autor ist eine der bekanntesten Gestalten des deutschen Protestantismus. Martin Niemöller war 47 Jahre alt, als er im Frühjahr 1939 diese Worte niedergeschrieben hat. Zuvor hatte er als Pfarrer in Berlin-Dahlem den Bund ,,Bekennende Kirche" mitbegründet, der gegen den Machtanspruch der Nationatsozialisten und die ,,Deutschen Christen" auftrat. Nach dem Krieg und langen Jahren im Konzentrationslager war Niemöller Kirchenpräsident der Evangelischen Landeskirche in Hessen und Nassau und am Aufbau der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) beteiligt. Er starb 1984. Das hier nur leicht gekürzt wiedergegebene Schriftstück stammt aus denn Nachlaß des evangeliscben Theologen. Es gipfelt in der Aussage, daß es eine ,,reformatorische Kirche" nie gegeben hat - eine Erkenntnis, die für den ökumenischen Dialog weitreichende Folgen hat. Inhalt Dogmenglaube und Gewissensfreiheit Nur wenige evangelische Christen beten
Dogmenglaube und Gewissensfreiheit
«Worin besteht eigentlich der Unterschied? Der Durchschnittsmensch von heute - wenn er ,,gebildet" ist - wird sagen: Autoritär gebundener ,,Dogmenglaube" dort - und Gewissensfreiheit bei uns. Was der Ungebildete sagen wird, wollen wir später sehen. Was ist nun von der Behauptung zu halten? (Der »wissenschaftliche« Ausdruck heißt ja wohl ,,Heteronomie" und ,,Autonomie" des Glaubens.) Historisch ist dazu zu sagen: Eine ,,Autonomie" im Sinne der französischen Aufklärung gibt es weder bei Luther noch bei sonst einem der Reformatoren, natürlich erst recht nicht in einer der reformatorischen ,,Bekenntnisschriften". Luther beruft sich in Worms ausdrücklich auf sein ,,in Gott gebundenes" Gewissen. Er ist nie der Meinung gewesen, der Mensch könne aus sich - autonom - die Wahrheit seines Lebens als eines Lebens unter und vor Gott finden, sondern er weiß sich in diesem Streben vollkommen von einer Autorität abhängig: Gott muß sich zu erkennen geben, wenn ich ihn soll erkennen können. Keine irgendwie geartete ,,Freiheit" setzt mich in die Lage, mir etwas zu verschaffen, was Gott nicht gibt; die unter den Reformatoren nicht ausgekämpfte Frage blieb nur die, ob der Mensch die ,,Freiheit" hat, etwas von sich abzuweisen, was Gott ihm geben will (praedestinatio duplex oder simplex oder wie immer man das nennen mag!). Die ,,Heteronomie" als ,,Theonomie" gegenüber allen ,,Autonomie"-Ansprüchen des Menschen ist also bei den Reformatoren stärker betont als im Lehrsystem der katholischen Kirche, die gegenüber der reformatorischen Erbsündentheorie gerade die ,,Willensfreiheit" als unveräußerliches Naturgut des Menschen verteidigte. Stellen wir also zunächst fest, daß es nach evangelischer Lehre keine Autonomie des Menschen in Glaubensdingen gibt, da aller Glaube auf dem objektiv gegebenen und allein autoritären ,,Wort Gottes" beruht. Nimmt man dieses eine autoritäre ,,Dogma" der evangelischen ,,Kirche" fort, so bleibt überhaupt nichts Einigendes, nichts Verbindendes übrig, wie die Geschichte bis in diese Tage mit Deutlichkeit erweist: Es gibt keine evangelische Kirche, es gibt keine evangelischen Christen, es gibt nur eine protestantische Zweckgemeinschaft mit ständig wechselnden Interessen, die auf dem Gebiet der Politik (Heckel), der Philosophie (Hirsch), der Wissenschaft oder sonstwo liegen mögen. Man wird sagen müssen: Der reformatorische Glaube ist Dogmenglaube par excellence, indem er sich auf das eine Dogma von dem einen, unveränderlich für alle Zeiten gegebenen Gotteswort der Bibel stützt. Fällt der Glaube an dies Dogma, bleibt nur noch eine hohle Schale ohne Inhalt. Was hat es nun mit der ,,Glaubens-" oder ,,Gewissensfreiheit" auf sich? Hierbei handelt es sich lediglich um eine Frage der seelsorglichen Methode. In Glaubensdingen - so meint Luther - darf kein menschlicher Zwang auf das Gewissen des anderen ausgeübt werden, weil hier nur die eigene Überzeugung gilt. (...)
Die Autorität der Bibel
Man kann fragen, wie denn noch die Kindertaufe und die ,,christliche Erziehung" zu rechtfertigen seien; man kann darauf auch nur antworten, wenn man die übergeordnete Autorität des ,,Wortes Gottes" festhält, die eben durch ihre starke einseitige Bindung alle anderen Bindungen und Autoritäten auflöst. So konnte es schon zu dem Mißverständnis kommen, die Reformation fordere die religiös-ethische Autonomie und löse alle dogmatischen Bindungen. Aber da der Mensch selbst im Durchschnitt keine religiöse Schöpferphantasie entwickelt, waren es die Wege für neue Autoritäten, die je nach den Umständen größere oder kleinere Einflußsphären in der ,,evangelischen Christenheit" besetzten. Die erste Autorität war wohl die Bibel als Buch oder als ,,papierener Papst". Machte zum Beispiel Luther einen deutlichen, wenn auch schwer zu verdeutlichenden Unterschied zwischen ,,Wort Gottes" und ,,Bibel", so mußte praktisch dieser Unterschied schwinden, weil er dem einfachen Gemüt nicht klarzumachen war. Die ,,Verbalinspiration" mußte helfen. Und diese Autorität gilt ja heute noch bei weitaus den meisten Angehörigen der evangelischen Kirche, die als ,,Stille im Lande" Christen geblieben sind. Eine weitere Autorität, die sich nun erhob, waren jene Abschnitte aus der Bibel, die den sonntäglichen Predigten zugrunde gelegt wurden - die ,,Perikopen" und mehr noch als die Abschnitte selbst eher ihre predigtmäßige Auslegung, die durch vierhundert Jahre, das heißt von Luthers Tagen bis heute, trotz aller ,,Strömungen erstaunlich gleichartig geblieben ist. Diese Auslegungen sind für den Teil der evangelischen Christenheit, die wir ,,Kirchliche Kreise" nennen, geradezu an die Stelle der Bibel getreten. Außer den ,,Perikopen" und gewissen Reminiszenzen an den Religionsunterricht der Jugendzeit wissen unsere ,,Kirchlichen Kreise" von der Bibel oder etwaigen anderen Grundlagen unseres christlichen Glaubens nichts. Die Autorität, die sich aber mit größtem und ständig wachsendem Erfolg in den Vordergrund zu schieben verstand, war die weltliche Macht. War sie zunächst die materielle Nutznießerin der Reformation durch die Vereinnahmung der Kirchengüter geworden in einer Entwicklung, die zum Beispiel Luther mit Wohlwollen erst, dann mit Schrecken, endlich mit Zorn und Wut begleitete, weil die weltlichen Stände gar nicht daran dachten, diese Güter bestimmungsgemäß zu verwenden, so wurde je länger, je mehr die weltlichen Gewalten auch Nutznießer der geistigen Emanzipation. Rom und sein Klerus fallen als Vormünder aus, die evangelische kirchliche Organisation bleibt in den Anfängen und Schwierigkeiten des Neubaus stecken, ohne Vormünder und Autorität kann die Menge der getauften Christen aber nicht bleiben: Es ergibt sich - wie von selbst - das landesherrliche Kirchenregiment. (...) Neben diesen drei Strömungen, die für die Entwicklung der evangelischen ,,Kirche" noch immer irgendwie positiv gewertet werden wollen, kam dann noch die Fülle liberaler, individualistischer Wege, die von einzelnen und ihrem kleineren oder größeren Anhang eingeschlagen wurden und von denen keiner mehr heimkehrte. (...)
Nur wenige evangelische Christen beten
Auf Grund dieser summarischen Übersicht mag es deutlich werden, daß christlicher Glaube als lebenstragende und lebensgestaltende Kraft nur in wenigen kleinen Kieisen der sogenannten evangelischen Christenheit vorhanden sein kann, weil die große Menge der Getauften seit Jahrhunderten geistlich unterernährt dahinlebt. Nehmen wir das Gebet als notwendige Lebensäußerung des Glaubens, so dürfen wir annehmen, daß nur ein kleiner Bruchteil der sonntäglichen Kirchenbesucher betet! Schon für Luther (Tischreden) war diese Feststellung und Vorstellung eine quälende Pein. Es ist so, als wäre dem evangelischen Teil der Christenheit von Anfang an das zum Leben notwendige Licht vorenthalten worden, obgleich die Meinung der Reformatoren gerade die war, sie hätten das lebenspendende ,,Evangelium" wieder zum Leuchten gebracht. Wie steht es nun mit den lebenszeugenden Kräften für die evangelische Christenheit? Wir haben sie, so lehrt die Reformation aller Schattierungen, in der Heiligen Schrift alten und neuen Testaments. Jede andere Autorität (päpstliche Dekrete, Kanones, Synodalbeschlüsse der Konzilien, mit einem Wort: die ,,Tradition") wird abgelehnt als fehlsam. Aber auch die Bibel gilt nur (nach Luther), soweit sie ,,Christus treibt". So ordnet zum Beispiel Luther die biblischen Bücher in ihrer Reihen(Rang-)folge um und scheidet die Apokryphen aus. So steht vor uns die Frage: Welches sind nun die wirklichen ,,heiligen Schriften"? Offensichtlich entscheidet darüber das glaubende, an Christus gebundene Einzelgewissen! Jedenfalls ist Luther nach dem Grundsatz verfahren, während die lutherische ,,Kirche" Luthers Entscheidung - wenn auch nicht irgendwelche Synodalbeschlüsse - als für sich und für die Zukunft bindend anerkannt und postuliert hat. Wir haben hier also eine neue, in evangelischer Grundauffassung nicht begründete ,,Tradition" vor uns. Was die Bischöfe und Vertreter der Kirche früher einmal festgesetzt haben, wird als nicht bindend beiseite gesetzt; was die neuen Kirchenlehrer in sehr zweifelhafter Einmütigkeit und oft unter starken politischen Rücksichten (Augsburg 1530) festsetzen, wird als bindend erklärt! Und was ist die landläufige kirchliche Predigt anders als eine tatsächliche neue ,,Tradition", denn die ,,selbständigen" Prediger sind, wie zu allen Zeiten, seltene Ausnahme? Nur daß die Erzeugnisse dieser selbständigen Geister in der alten Kirche einer erheblichen kirchlichen Kontrolle unterworfen waren, ehe sie zu Bestandteilen der Tradition wurden, während bei uns ,,Protestanten" alles wild wächst. Und jeder Prediger pflückt sich sein Sträußlein, wie es sein Geschmack ist, ohne viel zu fragen, ob und wie viele Giftblüten dazwischen sein mögen!
Heilige Schrift und Tradition
Aber wir müssen noch einen Schritt weiter gehen! Die ,,Bibel" selbst ist ja ein Produkt der ,,Tradition". Der sogenannte ,,Kanon" war ja nicht auf einmal da, sondern ist geworden. Aus vorhandenen und gerade entstehenden alrtestamentlich-israelitisch-jüdischen Schriften und christlichen Schriften haben Kirchenmänner und Gemeinden eine Auswahl getroffen; man hat darüber gesprochen und verhandelt, welche Schriften als kanonisch anzusehen seien; man hat hin und her gestritten, bis der ,,Kanon" dalag. Wessen Autorität sagt für ihn gut? Wie kommen wir dazu, ihn als gültig anzunehmen, beizubehalten und weiterzugeben? Ich weiß dafür keine andere Erklärung, als daß die Christenheit eben doch ihrer ,,Tradition traut, das heißt, sie ist davon überzeugt, daß in diesen den,Glauben betreffenden Entscheidungen der Kirche der heilige Geist trotz alles menschlichen Streitens das letzte Wort behält und in puncto ,,Kanon" auch behalten hat. Die ,,Heilige Schrift" könnte nicht die Grundlage der Erkenntnis Gottes sein, wenn nicht die ,,Kirche", die die Heilige Schrift proklamiert hat, schon von der Erkenntnis Gottes geleitet gewesen wäre. ,,Heilige Schrift" und ,,Tradition" sind also keine ausschließenden Gegensätze, sondern bedingen einander. (...) Versteht man also unter ,,Tradition" das, was die Kirche sagt und tut und als gültig hinstellt. auf der Grundlage des ihr anvertrauten ,,Wortes Gottes", so ist solche ,,Tradition" nicht nur nicht überflüssig, sondern lebensnotwendig für das Leben der Christenheit. Und die Forderung, daß neben der schriftlichen Überlieferung der heiligen Schriften auch die mündlichen Traditionen nicht beiseite geschafft werden dürfen, sofern sie von der schriftlichen Tradition nicht widerlegt werden, scheint mir durchaus begründet; wie ich auch nicht zu bezweifeln wage. daß der hörenden und predigenden Kirche die Leitung des Geistes zuteil wird, die ,,in alle Wahrheit" führen soll. Es ist demnach zweifelhaft, wo der Rückhalt liegen soll für die reformatorische Forderung: ,,Sola scriptura"! Welches ist diese scriptura? Die Bibel mit oder ohne Apokryphen? Die Bibel mit oder ohne Jakobus- und Hebräerbrief, mit oder ohne Apokalypse? Ohne Anerkennung entweder dieser oder jener Tradition oder Schaffung einer neuen Tradition ist die Frage, was denn ,,Scnjptura« sei, gar nicht zu beantworten. Die gleiche Schwierigkeit ergibt sich für alle anderen reformatorischen Parolen: ,,sola fide" zum Beispiel. Ist das die ,,fides in caritate formata", wie die altkirchliche Tradition und in ihrem Gefolge das Tridentinische Konzil lehrt, oder ist es die ,,fides", die auch von den nachfolgenden Werken nichts weiß oder wissen soll, wie reformatorische Traditionen wollen? ,,Sola gratia": Ist das die ,,gratia praeveniens" oder die ,,gratia irresistibilis"? Welche Tradition gilt? Solus Christus: Ist das der Christus der altkirchlichen Tradition, der ernstlich als Lehrer, Sühner und König an uns wirkt, oder ist es der Christus, dessen Amt sich in Kieuz und Auferstehung erschöpft, wie man es aus einem Teil der Heiligen Schriften als lutherische Tradition behauptet hat? Und wem ist nun bei diesen Differenzen zu glauben? Der Kirche oder den einzelnen Theologen? (...)
Zusammenfassend muß ich also sagen: Wenn wir nicht nur “Protestanten", sondern »evangelische Christen" sein wollen, so wird uns eine dogmatische Bindung an menschliche Entscheidungen in Gestalt der ,,Tradition" zugemutet, die erheblich drückender werden kann als die dogmatische Bindung an die kirchlichen Entscheidungen in Gestalt der katholischen ,,Tradition". Von ,,Autonomie« kann beide Male keine Rede sein; wir stehen unter dem Gesetz der Offenbarung Gottes an uns in Christus, die durch die Kirche als Zeugnis zu uns kommt. Dies Zeugnis fragt nach unserem Glauben, um uns zu erfüllen und unser Leben zu gestalten. Welchem Zeugnis geben wir nach Prüfüng seiner Grundlagen den Vorzug? Oder dürfen wir noch einen Schritt weiter gehen? Dürfen wir auf Mt 7,16 verweisen und nach den Früchten fragen? Das müßte dann heißen: Wo wird Gottes Wort wirklich als Gottes Wort geehrt? Wo wird seine Gnade fröhlicher geglaubt? Wo wird mit Christus dem Lebendigem gelebt? Ganz primitiv: Wo wird der Ruf Gottes, den die Kirche ausrichtet, gehört, und wo empfängt er im Gebet sein lebendiges Echo? Ich bin überzeugt, daß der katholische Christ mehr von der Bibel kennt als der evangelische; ich bin überzeugt, daß sie ihm für sein Leben mehr bedeutet; und ich bin endlich überzeugt, daß er mehr und ernster betet. Von daher muß ich fragen, ob wir auf dem rechten Weg sind. Vor zwanzig Jahren erschienen zwei Schriften; wenn ich nicht irre, lautete der Titel der ersten ,,Zurück zur Kirche"! Sicher lautete die Überschrift der zweiten (...) ,,Vorwärts zum Glauben"! Ob es nicht am Ende so ist, daß beides sich decken wird, daß wir auf dem Weg ,,vorwärts zum Glauben" ,,zurück zur Kirche" kommen und auf dem Weg ,,zurück zur Kirche" ,,vorwärts zum Glauben" gelangen? Eine reformatorische ,,Kirche" hat es ja in der Tat nie gegeben, und wir sollten heute sehen, daß es sie auch nicht geben wird; die Reformation hat bestenfalls in Gemeinden, oft aber nur in Zirkeln und Häusern gelebt. Der Grund dafür war bei näherem Zusehen die Fülle der verschiedenen ,,Traditionen". Wenn wir diese Fülle gelten lassen, weshalb sollten wir nicht die eine Tradition der alten Kirche gelten lassen?»
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