Erinnern und Versöhnen


Die Kirche und die Verfehlungen in ihrer Vergangenheit

Auszüge aus dem Dokument der Internationalen Theologenkommission

"Es gibt eine objektive Verantwortung für Schuld der Vorfahren"
 

Am 12. März 2000 (1. Fastensonntag) sprach Papst Johannes Paul II. eine im Namen der ganzen Kirche an Gott gerichtete Vergebungsbitte für die Sünden der Söhne und Töchter der Kirche aus. Als vorbereitendes und erläuterndes Dokument dieses in der Kirchengeschichte bisher einzigartigen Aktes wurde von der Internationalen Theologenkommission ein Grundsatzdokument mit dem Titel "Erinnern und Versöhnen" erarbeitet. Für die deutsche Fassung zeichnet der Münchner Dogmatiker Prof. Dr. Gerhard Ludwig Müller verantwortlich. Dieser Text ist als Buch im Johannes Verlag Einsiedeln erschienen (ISBN 3-89411-359-6).
Vollständiger deutscher Text gemäß Vatikan-Version im Format. htm oder gezippt im Word-Format.

Wir dokumentieren hier wichtige Teile aus dem Dokument, die von der Nachrichtenagentur "Kathpress" bereitgestellt wurden. Die Texte werden hier ohne Gewähr auf Richtigkeit und Vollständigkeit wiedergegeben und sollen dem besseren Verständnis der päpstlichen Vergebungsbitte im Kontext des kirchlichen Glaubens und Lebens dienen. Zwischentitel von Kathpress.
 


Exakte Beurteilung geschichtlicher Vorgänge

Betrachtet man die Sünden und Fehlleistungen der Vergangenheit im einzelnen, für die um Vergebung gebeten werden soll, erhebt sich die Frage nach einer exakten historischen Beurteilung. ... Es ist immer genau zu fragen: Was hat sich wirklich ereignet? Was wurde verifizierbar gesagt und getan? Erst wenn es auf diese Fragen eine wissenschaftlich korrekte Antwort gibt, kann man auch untersuchen, ob das, was sich wirklich zugetragen hat, mit dem Evangelium in Einklang steht.

Im Fall, dass Christen sich wirklich gegen die Forderungen des Evangeliums vergangen haben, muss natürlich auch gefragt werden, ob sie sich in den Bedingungen, unter denen sie lebten und dachten, des Widerspruchs zum Evangelium bewusst waren, ja sich darüber im Klaren sein konnten. Nur wenn man unter diesen Voraussetzungen zu dem moralisch gewissen Urteil kommt, dass sich Glieder der Kirche wissentlich und mit freiem Willen gegen den Geist des Evangeliums verhalten haben und dieses Fehlverhalten - obwohl sie es konnten - nicht unterlassen haben, hat es einen Sinn, wenn die Kirche von heute für die Sünden der Vergangenheit Buße tut und um Vergebung bittet.

Was man auf jeden Fall vermeiden muss, ist die fruchtlose Diskussion entgegengesetzter Einseitigkeiten: auf der einen Seite eine Art von Apologetik, die alles und jedes, was in der Kirchengeschichte vorgefallen ist, um jeden Preis zu rechtfertigen versucht, und auf der anderen Seite eine Beschuldigungsattitüde, die jedes Ereignis, jedes Wort und jede Handlung, ob gerechtfertigt oder nicht, benutzt, um die Kirche auf die Anklagebank zu verweisen.
Wenn also eine mögliche Schuld aus der Vergangenheit anerkannt werden soll, kann dies nicht geschehen, ohne die Verschiedenheit des sozialen und kulturellen Kontextes einer von der Gegenwart so weit entfernten Zeit in Betracht zu ziehen. Wer die Paradigmen und Urteilsmaßstäbe einer Gesellschaft aus einer anderen Epoche unreflektiert oder mit einem moralischen Überlegenheitsgefühl auf eine gänzlich verschiedene Geschichtsphase anwendet, macht sich einer Verfälschung schuldig. Man muss immer die unterschiedlichen Denkweisen und historischen Bedingungen beachten.

Die Geschichte rechtfertigt nicht alles

Dies heißt nicht, die Verantwortung zurückweisen, die die Kirche als ein in der Geschichte einheitliches Subjekt für die Verfehlungen aus der Vergangenheit übernimmt. Es kann aber nicht außer Acht bleiben, dass eben dieses einheitliche Subjekt in den unterschiedlichsten historischen und geographischen Situationen gehandelt hat. Verschieden sind auch die Grade der Repräsentation der Kirche. Es stellt sich die Frage: Hat einer im Namen der Kirche gehandelt oder hat einer in persönlicher Verantwortung als Glied der Kirche, als Geistlicher oder Laie, gehandelt und sich dabei gegen den Auftrag und die Sendung der Kirche verfehlt, wie sie theologisch und unter den gegebenen Mentalitätsstrukturen und den soziokulturellen Bedingungen der Zeit verstanden worden waren? Verallgemeinerungen und Klischeevorstellungen führen hier nicht weiter. ...

Damit ist auch die Gefahr eines Historismus gebannt, der alle Lasten historischer Schuld relativiert und meint, die Geschichte rechtfertige alles. Demgegenüber hat Johannes Paul II. zu Recht betont: "Die Berücksichtigung der mildernden Umstände entbindet die Kirche nicht von der Pflicht, zutiefst die Schwachheit so vieler ihrer Söhne und Töchter zu bedauern, die das Antlitz der Kirche dadurch entstellten, dass sie sie hinderten, das Abbild ihres gekreuzigten Herrn als eines unübertrefflichen Zeugen geduldiger Liebe und demütiger Sanftheit widerzuspiegeln."

Die Kirche also "fürchtet nicht die historische Wahrheit. Sie ist bereit, die wirklich erwiesenen Fehler anzuerkennen, vor allem wenn sie den schuldigen Respekt vor Personen und Gemeinschaften betreffen. Mit Rücksicht auf die unterschiedlichen geschichtlichen Epochen warnt sie aber auch vor allen Verallgemeinerungen, was Entschuldigung oder Verdammung betrifft. Die Kirche setzt auf eine mit Geduld und Redlichkeit wissenschaftlich erarbeitete Rekonstruktion der Vergangenheit, die frei ist von konfessionalistischen und ideologischen Vorurteilen. Dies betrifft die auf sie gerichteten
Anschuldigungen wie auch das von ihr erlittene Unrecht".

Verantwortung für Vergehen der Vorfahren

Die subjektive Verantwortlichkeit erlischt mit dem Tod ihres Akteurs. So ist klar, dass sie nicht über die Generationen weitergereicht werden kann. Die Nachgeborenen können niemals die subjektive Verantwortlichkeit ihrer Vorfahren erben. So setzt die Vergebung immer die Zeitgenossenschaft zwischen Opfer und Täter voraus. Die einzige Form der Verantwortlichkeit, für die es eine geschichtliche Kontinuität gibt, ist die objektive Verantwortung, der man sich freiwillig persönlich stellen oder entziehen kann. Denn es ist eine Tatsache, dass die böse Tat wenigstens in ihren destruktiven Auswirkungen weiterwirkt, die durchaus zu einer schweren Belastung für das Gewissen und das geschichtliche Gedächtnis der Nachfahren werden können. ...

In gewissen Situationen kann diese Gewissensbelastung eine spezifische Weise des moralischen und religiösen Gedenkens der bösen Tat auslösen, das man seiner Natur nach gemeinsames Gedächtnis nennen kann. Es belegt in eindrücklicher Weise die Existenz einer objektiven Solidarität zwischen denen, die in der Vergangenheit Böses taten, und ihren Erben in der Gegenwart. Somit ist es möglich, von einer gemeinsamen objektiven Verantwortlichkeit zu sprechen. Von einer solchen Art von Verantwortung entlastet man sich vor allem durch die Bitte an Gott, er möge die Sünden der Vergangenheit vergeben. Dazu gehört die "Reinigung des Gedächtnisses", die im wechselseitigen Vergeben der Sünden und Beleidigungen in der Gegenwart
kulminiert. "Das Gedächtnis reinigen" ist der Versuch, aus dem persönlichen und gemeinschaftlichen Bewusstsein alle Formen von Ressentiment und Gewalt zu überwinden, die uns die Vergangenheit als Erbe hinterlassen hat. ...

Nicht zu unterschätzen sind auch die exemplarischen Wirkungen, die von einer großherzigen Bereitschaft zur Mitverantwortung für die Sünden der Vergangenheit auf die Mentalität in Kirche und Gesellschaft ausgehen. Viele werden auf die Verpflichtung aufmerksam werden, die von der Wahrheit ausgeht, und sie werden sich vom Respekt, von der Würde und den Rechten "des Anderen", besonders des Schwachen, tiefer bestimmen lassen. Mit den zahlreichen Bitten um Vergebung hat Johannes Paul II. ein gutes Beispiel gegeben, das zur Nachahmung einlädt. Die Vergebungsbitten fördern in jedem Fall das Zusammenleben der verschiedenen Gemeinschaften. Eine vorurteilsfreie und großherzige Gewissenserforschung ist nur zu begrüßen, weil sie die einzelnen und die Völker auf Wege zur Versöhnung leitet. ...

Beispiel Kirchenspaltung

Im Schisma des 11. Jahrhunderts haben kulturelle und historische Faktoren eine sehr große Rolle gespielt. Die Lehre von der Autorität des Bischofs von Rom hatte zu dieser Zeit noch nicht die spätere lehrmäßige Abklärung und Ausformulierung gefunden. In der Zeit der protestantischen Reformation wurden dann allerdings Fragen des Verständnisses der Offenbarung und ihre Formulierung in der kirchlichen Lehre zum Gegenstand der Kontroverse.

Der Weg, der sich auftut, um diese Differenzen zu überwinden, ist der Dialog über Lehrfragen in wechselseitiger Liebe und Achtung. Beiden Spaltungen scheint ein Mangel an übernatürlicher Liebe (der agape) anzuhaften. Dieser Mangel an Liebe, "ohne die alles andere nur dröhnendes Erz und lärmende Pauke ist" (1 Kor 13,1), muss in allem Ernst vor dem auferstandenen Herrn der Kirche, der auch der Herr der Geschichte ist, gesehen und bekannt werden. ... 
Beim Weg zur Einheit der Christen darf man auf keinen Fall der Versuchung erliegen, sich von kulturellen Faktoren, historischen Konstellationen oder Vorurteilen führen oder gar beherrschen zu lassen, die immer wieder der Trennung und dem wechselseitigen Misstrauen Nahrung geben, obwohl sie gar nichts mit dem eigentlichen Inhalt unseres christlichen Glaubens zu tun haben. ...

Die Weise, wie sich einige Katholiken im Verharren in den Spaltungen aus der Vergangenheit gefallen und nicht die geringsten Anstalten machen, die Hindernisse der Einheit aus dem Weg zu räumen, rechtfertigt fast den Vorwurf der "Solidarität in der Sünde der Spaltung" (vgl.1 Kor 1,10-16). Angesichts dieser Haltungen sind die Worte des Konzils im Ökumenismus-Dekret aktueller denn je: "In Demut bitten wir also Gott und die getrennten Brüder um Verzeihung, wie auch wir unseren Schuldigern vergeben."

Anwendung von Gewalt im Dienst an der Wahrheit

Zu diesem Gegenzeugnis der Spaltungen unter den Christen sind verschiedene Vorkommnisse im vergangenen Jahrtausend hinzuzufügen, bei denen zweifelhafte Mittel angewandt worden sind, um gerechte Ziele zu erreichen. Mit diesen rechten Zielen sind gemeint die Verkündigung des Evangeliums und die Verteidigung der Einheit des Glaubens. ... Es geht also um Formen der Evangelisierung, die ungeeignet sind zur Verkündigung der geoffenbarten Wahrheit. Dazu sind auch Methoden zu rechnen, die das Evangelium ohne Gespür für die kulturellen Werte der Völker propagiert und dabei die innere Hinordnung dieser Werte auf das Evangelium übersehen haben. Zu bedauern ist auch mangelnder Respekt vor dem Gewissen der Personen, denen man den Glauben vorgelegt hat. Verwerflich war jede Form der Gewaltausübung im Kampf gegen Irrtümer.

Eine ebenso große Aufmerksamkeit erfordern die möglichen Unterlassungen der Anklage von Ungerechtigkeit und Gewalt, derer sich die Glieder der Kirche in verschiedenen historischen Situationen schuldig gemacht haben können. "Da ist der Mangel an Wahrnehmungsfähigkeit vieler Christen angesichts fundamentaler Verletzungen der Menschenrechte. Die Bitte um Vergebung gilt auch für das Schweigen aus Feigheit oder falscher Lagebeurteilung und für das, was unentschlossen und in wenig geeigneter Weise getan und gesagt wurde". Wie in allen Fällen geht es auch hier darum, die historische Wahrheit durch eine historisch-kritische Untersuchung herauszufinden. ...

Verantwortung für Missstände in der Gegenwart

"Die gegenwärtige Epoche weist neben viel Licht auch nicht wenige Schattenseiten auf". Unter diesen Schattenseiten der Gegenwart muss an erster Stelle das Phänomen der Negation Gottes in den verschiedensten Varianten genannt werden. Es ist bedrückend, dass die Leugnung von Gottes Sein und Wirken, besonders in ihrer theologischen Begründung, vom Abendland ausging. Mit dieser "Gottesdämmerung" gehen eine Reihe von negativen Phänomenen einher: religiöse Indifferenz, verbreiteter Mangel an Verständnis für die transzendente Dimension des menschlichen Lebens, ein Klima des Säkularismus und ethischen Relativismus, Leugnung des Lebensrechtes der ungeborenen Kinder bis hin zur Legalisierung der Abtreibung und eine Unempfindlichkeit für den Schrei der Armen in allen Bereichen des Lebens der Menschheitsfamilie.

Die beunruhigende Frage stellt sich, inwieweit die Christen selbst mitverantwortlich sind für den Atheismus in seiner theoretischen und praktischen Ausprägung. Das II. Vaticanum hat in der Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" eine wohldurchdachte Antwort gegeben: "Gewiss sind die, die im Ungehorsam gegen den Spruch ihres Gewissens absichtlich Gott von ihrem Herzen fern zu halten und religiöse Fragen zu vermeiden suchen, nicht ohne Schuld; aber auch die Gläubigen selbst tragen daran eine gewisse Verantwortung. Denn der Atheismus, allseitig betrachtet, ist nicht eine ursprüngliche und eigenständige Erscheinung, er entsteht vielmehr aus verschiedenen Ursachen, zu denen auch die kritische Reaktion gegen die Religionen, und zwar in einigen Ländern vor allem gegen die christliche Religion, zählt. Deshalb können an dieser Entstehung des Atheismus die Gläubigen einen erheblichen Anteil haben."