Tim wurde abgetrieben. In dieser Woche feiert er seinen 15. Geburtstag
KAROLIN SCHNEIDER
Fotos: MEIKO HERRMANN
Bild.de
Simone Guido, 48, hat die Präsente extra dick eingewickelt, „weil Tim so gern das Papier zerfetzt“. Vorher wird aber erst einmal gesungen: „Happy Birthday, lieber Tim, Happy Birthday to you...“ schallt es durch das große Haus von Familie Guido in Quakenbrück (Niedersachsen). Es ist Nachmittag und Tim feiert seinen 15. Geburtstag.
Wenn das Wort Geburtstag überhaupt ausdrücken kann, was dieser Tag für Tim und alle, die ihn lieb haben, bedeutet. Denn Tim sollte nicht geboren werden; er sollte tot zur Welt kommen. Als abgetriebener Embryo, namenlos.
Die Mutter des Jungen, damals 35 Jahre alt, wollte ihn nicht. Es war gegen elf Uhr am Vormittag, als sie nach einer Fruchtwasseruntersuchung erfuhr, dass ihr Baby den Gendefekt Trisomie 21 aufweist. Das Downsyndrom.
Drei Stunden und 15 Minuten nach der Diagnose steht sie mit gepackten Koffern im Oldenburger Krankenhaus. Schwanger in der 25. Woche; also im 6. Monat. „Ich will dieses Kind nicht. Ich verlange, dass Sie es wegmachen“, soll sie panisch gerufen haben. Sie habe mit Selbstmord gedroht, wollte aus dem Fenster springen, heißt es in Berichten von damals.
Wegen der seelischen Notlage der Mutter stimmen die Ärzte der Spätabtreibung noch am selben Tag zu. Ein Eingriff, der auch heute noch in Deutschland praktiziert wird; etwa 1000-mal allein im vergangenen Jahr.
108 867 Schwangerschaftsabrüche zählte das Statistische Bundesamt im vergangenen Jahr, knapp 1000 davon waren Spätabtreibungen nach der 20. Schwangerschaftswoche. Diese sind nur zulässig, wenn festgestellt wird, dass das Ungeborene schwerbehindert zur Welt käme oder gleich nach der Geburt sterben müsste.
Die Spätabtreibung darf allerdings nur mit einer körperlichen und seelischen Notfallsituation der Mutter begründet werden. Seit 1. Januar 2010 müssen zwischen der Diagnose und dem Abbruch drei Tage Bedenkzeit liegen.
Mit einem neuen Bluttest soll es bald möglich sein, Trisomie 21 bei Schwangeren früher als bisher zu erkennen.
Mit einer Kalium-Chlorid-Spritze kann der Embryo bereits im Mutterleib getötet werden; oder er stirbt auf seinem Weg durch den Geburtskanal durch die toxischen Medikamente, die die Wehen einleiten.
So planen es die Ärzte auch bei Tim. Doch der Plan geht nicht auf: Tim kommt lebend zur Welt. 32 Zentimeter groß, 690 Gramm schwer. Wäre er ein Frühchen, würden die Ärzte um sein Leben kämpfen. So aber legen sie ihn unversorgt zur Seite. Geboren um zu sterben.
Erst als ein weiterer Arzt den Jungen nach dem Schichtwechsel entdeckt, kommt Tim auf die Intensivstation. Da ist sein Körper schon auf 28 Grad abgekühlt, sein Gehirn schwer geschädigt. Aber Tim lebt.
„Warum halst ihr euch jetzt noch ein behindertes Kind auf“, fragen Freunde und Bekannte, als sich Simone und Bernhard Guido kurz vor Weihnachten 1997 entschließen, Tim als ihr Pflegekind aufzunehmen.
Da haben sie bereits zwei eigene Söhne, Pablo und Marco, damals vier und sechs Jahre alt. „Wir hatten ein schönes Haus, gesicherte Verhältnisse und wollten unser Glück teilen“, erinnert sich die 48-Jährige. Seitdem ist Tim der dritte Sohn der Guidos.
Als wir die Familie besuchen, kommt Tim gerade aus der Tagesbildungsstätte, wo er mit anderen behinderten Jugendlichen von acht Uhr bis halb drei betreut wird. Er beachtet uns, die Reporter, gar nicht, sondern rennt sofort in sein Zimmer, schnappt sich die rote Frisbee-Scheibe und beginnt, sie auf dem Boden zu drehen.
„Manchmal sitzt er stundenlang so da und dreht seine Frisbee“, sagt Simone Guido. „Nur hin und wieder hören wir ihn in die Hände klatschen und schreien, dann wissen wir, er hat Spaß.“
Tim ist nicht nur ein Kind mit Downsyndrom, durch die Folgen der Abtreibung wurde sein Körper und vor allem sein Gehirn schwer geschädigt. Er kann nicht sprechen, trägt Windeln und wird über eine Magensonde ernährt.
„Ich muss ihn wickeln, anziehen und waschen. Ich stehe jeden Morgen mit ihm auf und singe jeden Abend an seinem Bett das Lied ‚La-Le-Lu‘“, sagt Simone Guido, und es klingt, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.
Sie schenkt Tim die Liebe, die ihm seine leibliche Mutter verweigerte. Trotzdem macht Simone Guido der Frau keinen Vorwurf: „Es war eine Kurzschlussreaktion. Ihr hätten Hilfsmöglichkeiten aufgezeigt werden müssen, es gab ja gar keine Beratung.“
Tim hat genug von seiner Frisbee-Scheibe und rennt in den Garten, direkt auf das große Trampolin zu. Es nieselt, doch das macht Tim nichts; immer wieder hüpft er hoch und runter.
Dass Tim nach Jahren im Rollstuhl laufen und springen kann, ist ein kleines Wunder, wie die Ärzte sagen. „Das haben wir der Delfin-Therapie zu verdanken. Sechsmal war Tim schon da und immer kommt er mit großen Fortschritten zurück“, sagt Pflegevater Bernhard Guido, 52, ein Lebensmitteltechniker.
Vor sieben Jahren entschied sich die Familie, noch ein weiteres Pflegekind aufzunehmen. Melissa, 11, auch ein Kind mit Downsyndrom. Das Mädchen redet viel und gern, kann sogar rechnen und schreiben.
Manchmal macht es Simone und Bernhard Guido traurig, wenn sie ihre Pflegetochter beim Spielen beobachten. „Dann denken wir daran, wie Tim wohl wäre, wenn er diese Abtreibung nicht durchgemacht hätte“, sagt Bernhard Guido und streichelt Tim über die aschblonden Haare.
Seinen leiblichen Vater hat Tim schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Früher kam er hin und wieder zu Familie Guido, hat freundlich „Guten Tag“ gesagt, sich umgeschaut und ist wieder gegangen, ohne Tim ein einziges Mal in den Arm zu nehmen.
Irgendwann hörten die Besuche auf. Seine Mutter hat Tim nie kennengelernt. Ein paar Monate nach der fehlgeschlagenen Abtreibung verklagte sie den Arzt von damals. Das Versprechen, die Schwangerschaft zum Zwecke der Tötung zu beenden, sei nicht eingehalten worden.
13 000 Euro Schmerzensgeld bekam sie. Doch kein Arzt und kein Psychologe konnten ihr die Last nehmen, die sie erdrückte. Tims Mutter verlor die Kraft zu leben und starb mit nur 41 Jahren. Ihr Sohn aber, den sie nie gewollt hat, lebt.