Peter Hahne, Schluss mit lustig 01: Das Ende der Spaßgesellschaft
Die Blütenträume der 68er
Freizeit, Gleichgültigkeit, Liederlichkeit
Kinder als Kostenrisiko
Der Krieg der Generationen
Abschied vom Jugendkult
Haltlos ohne Wurzeln
Zukunft ist Herkunft
Europa ist kein Kontinent
Steinreich und bettelarm
Bücher über Tugenden werden zu Bestsellern. 1m Trend liegt, wer nach Werten ruft. Doch was uns fehlt, sind nicht nur die Werte an sich, es sind die gemeinsamen Werte. Wir brauchen keine individualistischen, sondern allgemein verbindliche Normen. Keine Ego-Ethik des Utilitarismus, also des Nützlichkeitsdenkens. Im Pluralismus der Meinungen bleibt heute alles nebeneinander stehen, selbst die widersprüchlichsten ethischen Überzeugungen. Letzte Aussagen und Autoritäten werden nach wie vor relativiert. Der Soziologe. Peter L. Berger spricht vom »Relativierungshexenkessel«.
Die Subjektivierung der Ethik führt in die Krise. Wo der Mensch keine Werte-Instanz über sich duldet und sich selbst der höchste Norm-Geber und Richter ist, kann kein lebensnotwendiger Normenkonsens entstehen. Dass dies nicht aus der Luft gegriffen ist und weit reichende Konsequenzen hat, zeigt ein Vorgang an der renommierten Harvard Business School, einer der berühmtesten Wirtschaftsuniversitäten der Welt. Durch eine Schenkung von 20 Millionen Dollar sollte ein Ethik-Lehrstuhl eingerichtet und entsprechende Vorlesungen angeboten werden. Die Professoren stellten jedoch fest, dass man ohne vereinbarte absolute Werte nicht über Ethik reden kann, und schickten das Geld zurück. Die »Financial Times« kommentierte, dass »die Wurzel des Problems im Verlust des Glaubens an objektive ethische Standards« zu suchen sei.
Dieser Standard, also das Grundprinzip ethischen Handelns, ist jedoch einleuchtend, verständlich und jenseits allen philosophischen Wortgeklingels in der goldenen Regel der Bibel (Liebe Gott und liebe deinen Nächsten wie dich selbst) und in Kants kategorischem Imperativ formuliert: Handle so, wie du willst, dass auch alle anderen handeln sollen - salopp zusammengefasst.
Wer übrigens abfällig von »Sekundärtugenden« spricht, sollte wissen, was er tut. Er entzieht unserer Gesellschaft letztlich Motivation und Motor für ein menschliches, zivilisiertes Zusammenleben. Wer Tugenden verhöhnt, verehrt die Ich-Kultur und verwehrt den Radikalideologen nicht den Weg, die dann als Moralisten und Fundamentalisten in das Tugendvakuum stoßen und dankbare Anhänger finden.
Dass die klassischen und unsere Gesellschaft tragenden Werte als Sekundärtugenden (mit denen man auch ein KZ leiten könnte, so Oskar Lafontaine über Helmut Schmidt!) verspottet und systematisch der Demontage preisgegeben wurden, hat vielfältige Ursachen. Der Hauptgrund liegt im Kampf der 68er-Revolte gegen jede Form von Tradition, Autorität und Wertebindung. »Der Muff von tausend Jahren - raus aus den Talaren« skandierte der Mob auf der Straße. Ich konnte das in der Hochburg der Kulturrevolution, an der Universität Heidelberg, Anfang der 1970er-Jahre hautnah miterleben. Und bin bis heute erstaunt, in welchen Schlüsselpositionen die damaligen (auch geistigen) Rädelsführer jetzt sitzen. Der »Marsch durch die Institutionen« ist eine beispiellose Erfolgsstory.
Dabei ist die politische Wandlungsfähigkeit ä la Wendehals selbst der philosophischen Wegbereiter atemberaubend. Kanzelte Jürgen Habermas seine Kontrahenten Hillgruber, Nolte und Stürmer während des »Historikerstreits« 1986 noch als »revisionistische NATO-Historiker« ab, so stellte er zwölf Jahre später der Bundeswehr und damit der rot-grünen Regierung Schnöder-Fischer einen philosophischen Freifahrschein in das umkämpfte Kosovo aus.
Interessant ist, dass ausgerechnet einer der Gründungsväter der neomarxistischen Frankfurter Schule, Max Horkheimer, kurz vor seinem Tod den nihilistischen Grundirrtum der 68er-Bewegung auf den Punkt brachte und zum Entsetzen seiner Schüler erklärte: »Politik ohne Theologie ist absurd. Alles, was mit Moral und Menschlichkeit zusammenhängt, geht auf die biblische Botschaft zurück. Und die Rebellion der Jugend ist eine unbewusste Verzweiflung, hinter der die ungestillte religiöse Sehnsucht steht.«
Jürgen Habermas jedenfalls scheint das nicht gleichgültig gelassen zu haben. Bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2001, einen Monat nach den Anschlägen von New York, sprach er in seiner Dankesrede über das Verhältnis von Glauben und Wissen. Der liberale Verfassungsstaat sei auf die Sinn-Ressource der Theologie dringend angewiesen und in den christlichen Gemeinden sei »etwas intakt geblieben, was andernorts verloren gegangen ist«. In einer Begegnung mit Kardinal Ratzinger zeigt sich der prominenteste Philosoph der liberalen, säkularen Demokratie fasziniert von der heilenden Prägekraft des Religiösen für eine Gesellschaft, die sich angesichts einer »entgleisenden Modernisierung« vor sich selbst fürchtet.
So sagt die Münchner Trendforscherin Felizitas Romeiß-Stracke den »Abschied von der Spaßgesellschaft« voraus: In den nächsten zehn Jahren werde die egozentrische Selbstverwirklichung als Maß aller Dinge abgelöst durch eine Renaissance existenzieller Wert- und Sinnfragen. Vor allem der christliche Glaube werde wieder »auf fruchtbaren Boden fallen«.' Die Rechnung der 68er ist nicht aufgegangen -nachdem damaligen Juso-Motto ä la Gerhard Schröder: »Ich will eine Gesellschaft, die die Kirche überflüssig macht.«
Manche Parolen der 68er muten heute allerdings so harmlos-richtig an, wie die einst verpönte Beatles-Musik inzwischen klassisch klingt.
Freizeit, Gleichgültigkeit, Liederlichkeit
Freiheit war eine der großen Forderungen. Oder Selbstbestimmung. Doch die Freiheit pervertierte schnell zur Freizeit. Kein Land der Erde arbeitet so wenig wie wir Deutschen. Wir haben uns daran gewöhnt und uns wohlig im Freizeitpark Deutschland eingerichtet, während es mit der Konjunktur rasend bergab geht. Kein Wunder, dass ein Aufschrei durchs Land geht, wenn man ein, zwei Stunden in der Woche mehr arbeiten soll. »Einigkeit und Recht auf Freizeit«, ironisiert der KanzlerImitator Elmar Brand unsere Nationalhymne.
Während wir uns nämlich bereits beim Feierabendbierchen entspannen, legen unsere schärfsten Konkurrenten auf dem Weltmarkt erst so richtig los: Die Amerikaner arbeiten 1805 Stunden, die Japaner 1859, die Koreaner sagenhafte 2447 Stunden im Jahr. Unsere Bilanz: 1446 Stunden in West- und 1467 Stunden in Ostdeutschland, so die amtliche OECD-Studie von September 2003.
Weltmeister sind wir Deutschen bei den Urlaubsund Feiertagen: im Schnitt 43 Tage. In den USA gibt es nur 23! Auch das Einstiegsalter in die Rente ist bei uns (noch!) illusorisch niedrig: im Durchschnitt 60,3 Jahre. In England geht man mit 62,6, in Japan sogar erst mit 68,5 Jahren in Rente. Bedenkt man, dass Deutschland mit die längsten Ausbildungszeiten der Welt hat, so braucht man sich über den Zerfall der Sozialsysteme nicht zu wundern. Und darüber, dass wir inzwischen Schlusslicht der europäischen Entwicklung sind.
In Sachen Arbeit sind wir zu einer reinen DI-M1DO-Gesellschaft verkommen, wie Experten vorrechnen. Freitags muss man rechtzeitig nach Hause, um nicht in den ersten Stau zu geraten. Und montags muss man sich erst mal vom Stress des randvoll ausgefüllten Wochenendes erholen. Bereits die ersten Zeitungsausgaben im neuen Jahr laden uns mit hübschen Schaubildern zu herrlichen Feiertagsbrücken ein, an denen man mit wenig Urlaubstagen viel Freizeit herausschinden kann. Ellenlange Staumeldungen für die Blechlawine der neuen Armut füllen an solchen Tagen die Radioprogramme.
Für Unternehmer (soweit sie nicht aus lauter Resignation inzwischen zu Unterlassern geworden sind!) gibt es eigentlich nur ein Rezept, um die Mitarbeiter wieder zu motivieren und den Betrieb wieder flott zu bekommen: Es muss ihnen gelingen, die Energie, die in die Freizeit verpulvert wird, an den Arbeitsplatz zurückzuholen. Arbeit muss Sinn, darf aber auch Spaß machen.
Ein Problem für unsere Wirtschaft ist auch der Tatbestand, der bezeichnenderweise mit »krankfeiern« beschrieben wird. Auch diese Diagnose tut weh: Deutschland ist Weltmeister und Berlin ist die Hauptstadt der Kranken. Doch Berlin ist auch die Metropole der Simulanten, so die DAK im Mai 2004. Pro Jahr seien dort 60000 Arztbesuche überflüssig. Selbst Fachleute sind überrascht, dass die ganz jungen zehnmal so oft zum Arzt gehen wie die Bürger über sechzig. Und zwar wegen Bagatellen, deretwegen die Älteren dennoch am Arbeitsplatz bleiben.
Die bürgerliche Freiheit der Selbstbestimmung, auch einer der (gar nicht so falschen) 68erTräume, ist rasend schnell zur hedonistischen Schwundstufe der Selbstverwirklichung pervertiert. Dabei ist Selbstverwirklichung, wie der große Psychotherapeut Victor E. Frankl meint, nichts anderes als »ein manipulatives Tarnwort für übersteigerten Egoismus«. Ich, ich und noch mal ich! Der Kulturphilosoph Robert Spaemann sieht darin die Vorstufe zur Selbstverherrlichung.
So rückt die Spaßgesellschaft den einzelnen Menschen mit seinen Wünschen und Bedürfnissen in den totalen Mittelpunkt. Bis hin zu der Frage, ab wann ein (ungeborener) Mensch lebenswert und wie lange ein (alter und pflegebedürftiger) Mensch lebensfähig ist, bevor man ihn mit den Segnungen der modernen Medizin »erlöst«.
Was den Spaß bremst, muss weg. Und seien es die einfachsten Regeln des Zusammenlebens. Im Anklang an den Schlachtruf der Französischen Revolution beschreibt der Autor Claus Jakobi unsere Nach-68er-Gesellschaft unter der Überschrift: Freizeit, Gleichgültigkeit, Liederlichkeit.
Der ja gerade von den Linken so gefeierte Nelson Mandela sagte einmal: »Wie human eine Gesellschaft ist, das zeigt sich an ihrem Umgang mit Kindern und Alten.« Doch Kinder gelten bei uns inzwischen als unkalkulierbares Kostenrisiko. Sie sind eher Ausgabe als Aufgabe für Eltern und Familie. Die zunehmende Ökonomisierung aller Lebensbereiche macht die Entscheidung für ein Kind und gegen gewisse Annehmlichkeiten des Lebens immer schwerer. Man denke nur an die Wohnungssuche, wo einem sehr schnell klar wird, dass man als Familie mit zwei Kindern geradezu als latent asozial gilt. Die Freizeitgesellschaft hat im wahrsten Wortsinn etwas Tödliches. Wir verlängern krampfhaft unser Leben, verspielen jedoch die Zukunft.
Der »besondere Schutz«, den Artikel sechs unseres Grundgesetzes der Familie garantiert, ist von der Politik nie umgesetzt worden. Im Gegenteil: Er wird heute immer weiter zurückgedrängt unter dem Deckmantel von Toleranz, Moderne und Weltoffenheit. Die Familie ist unter die Räder gekommen. Sie ist die eigentliche Randgruppe unserer Gesellschaft. Es ist gut so, dass Bundespräsident Horst Köhler von seiner ersten Rede an Kinder und Familie in den Mittelpunkt gerückt hat.
Die emanzipatorische Idee, ein Kind sich selbst zu überlassen oder es Fremden anzuvertrauen, um sich beruflich entfalten zu können, gilt nicht als unmoralisch, sondern vielmehr als fortschrittlich. Dabei bestätigt einem jeder Kinderpsychologe, dass Erziehung kein Nebenjob nach Feierabend ist. Kleine Kinder brauchen wenigstens einen konstanten familiären Ansprechpartner für ihre Fragen, und zwar rund um die Uhr.
Dass wir im Bereich der Familie eine überraschende Trendwende erleben, zeigt ein Artikel im linksorientierten (inzwischen eingestellten) Zeitgeistmagazin »tempo«, dem nichts hinzuzufügen ist:
»Man hat uns gesagt, die Familie sei schlecht. Man hat uns gesagt, die Familie zerstöre die Persönlichkeit. Man hat uns belogen. Die Familie ist immer noch die beste aller möglichen Lebensformen. Sie allein vermittelt Liebe, Glück und Geborgenheit ... Die alternativen Lebensformen sind gescheitert. Deshalb: Macht Kinder! Gründet Familien! Es spricht nichts dagegen und viel dafür ... Frauen sollten wieder zu Hause bleiben. Kinder haben ist spannender als 98 Prozent aller Jobs. Wetten, dass?«
Nur: In welche Welt wachsen diese Kinder? Wie weit es um die Kinderfreundlichkeit bei uns bestellt ist, verdeutlicht ein Erlebnis, das mir die niedersächsische Sozialministerin Ursula von der Leyen erzählte. Bei einer USA-Reise betrat sie mit ihren sieben Kindern einen Supermarkt und wurde vom Geschäftsführer staunend und strahlend begrüßt: »You are blessed!« (Du bist gesegnet.) Wenige Monate später sei sie mit ihren Kindern in einen deutschen Supermarkt gegangen und mit den Worten empfangen worden: »Dass die mir bloß nichts anfassen!«
Dabei werden wir uns alle noch nach Kindern sehnen, wenn uns erst mal bewusst geworden ist, welch hohen Preis die zunehmende Vergreisung unserer Gesellschaft hat.
In Deutschland tickt eine demographische Zeitbombe. Bis zum Jahr 2050 verdoppelt sich der Anteil der Alten an unserer Gesamtgesellschaft. Immer weniger junge Leute werden für immer mehr ältere arbeiten und die Rentenbeiträge erwirtschaften müssen. Deutschland wird im Jahre 2050 rund 12 Millionen Menschen verloren haben. Das sind mehr als die Gefallenen aller Länder im Ersten Weltkrieg. »Im Tierreich wäre man damit zum Aussterben verurteilt«, schreibt FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher. Die Verteilungskämpfe der Zukunft würden um Renten und Altenheimplätze ausgetragen. Der nächste Krieg ist der Krieg der Generationen.
Die ökonomischen Folgen sind katastrophal. Die demographische Entwicklung macht zum Beispiel den Markt Deutschland immer uninteressanter. Sind wir mit den USA derzeit höchstens noch wirt-
schaftlich auf Augenhöhe, so fragen die Amerikaner bereits: Wie lange noch? Und die deutschen Hersteller von Kindernahrung polen ihre Produktion jetzt schon auf Diätkost für Senioren um. Die Gegenläufigkeit von Demographie und Ökonomie wird zum größten Weltproblem.
Rund 14,2 Millionen Einpersonenhaushalte ermittelt das Statistische Bundesamt bei uns. Mehr Frauen als Männer, mehr Akademiker als Arbeiter. Jahr für Jahr wächst die Zahl derer, die durch Trennung, Scheidung, Todesfall oder freien Entschluss allein durchs Leben gehen. Der grassierende Individualismus der Single-Kultur und die pathologische Bindungsunfähigkeit haben verheerende demographische Folgen.
Bezeichnend, wie die Spaßgesellschaft eine Single-Subkultur herausbildet: Das Internet als Kontakthof, Events wie »Blind date dinners« und »Flirt brunchs« versprechen familienähnliche Geborgenheit mit dem Flair von Unverbindlichkeit. »Die heute 30-jährigen Singles werden als 80-jährige sehr einsam sein. Wer Kinder und Enkel hat, bei dem klingelt wenigstens mal das Telefon« (Birg). Wir haben heute kaum Vorstellungen, geschweige denn Erfahrungen, wie es in einigen Jahrzehnten sein wird, wenn diese Single-Gesellschaft alt und pflegebedürftig ist. Dann ist nämlich Schluss mit lustig. »Etwas ist schief gegangen: Moderne Familienformen sind meist nicht geplant, sondern Folge gescheiterter Beziehungen« (»FOCUS« 40/02).
Der »Papst« der Bevölkerungswissenschaft, der Bielefelder Professor Herwig Birg, fordert eine Kulturrevolution, um dem drohenden Generationenkrieg zu begegnen. Wir brauchten Eliten, die wieder vorbildhaft Kinder in die Welt setzen, statt sich aus der Familie zu verabschieden. Mehr als 40 Prozent der Akademikerinnen haben jetzt schon keine Kinder. Im Osten Deutschlands verzichten 12 Prozent, im Westen sogar 30 Prozent der Paare auf Kinder. Zahlen, die alarmieren und irritieren. Doch Irritation ist die beste Voraussetzung für Lernprozesse. Allerdings, so Birg, bedarf es 75 Jahre, um zu korrigieren, was eine Generation versäumt hat. »Gegenwärtig fahren wir mit hoher Geschwindigkeit auf eine Wand zu, die wir nicht rechtzeitig weggeräumt haben« (Kurt Biedenkopf).
Ein wesentlicher und schamvoll verschwiegener Grund für den Bevölkerungsrückgang ist die hohe Zahl der Abtreibungen. 182 kommen auf 1000 Geburten, so das Statistische Bundesamt für 2003. Ganz abgesehen von ethischen Argumenten ist es nahezu absurd, dass der Staat durch die Finanzierung der Abtreibungen (über 90 Prozent) die negative Bevölkerungsentwicklung und den damit drohenden Kollaps der Sozialsysteme selbst aktiv unterstützt! Seit Einführung der Fristenregelung im Jahr 1974 sind mehr als acht Millionen ungeborene Kinder getötet worden. Jahr für Jahr eine Großstadt. Jährlich die doppelte Einwohnerzahl von Potsdam. Ein Armutszeugnis für unser reiches Land. »Während wir unsere Kinder zu Zigtausenden töten, dämmert unsere Gesellschaft langsam ihrer Vergreisung entgegen« (Kardinal Meisner). Angesichts der modernen Medizintechnik fragt man sich: Wollen wir ernsthaft noch mehr alte Leute, die nicht sterben dürfen, zum Preis von Kindern, die nicht leben dürfen?
Doch die Spaßgesellschaft duldete keinen ernsthaften Disput über das Störthema Abtreibung. Der jüdische Kommentator der US-Zeitung »National Review«, Mark Steyn, schrieb im Mai 2004 nach dem feministischen »March for Women's Lives« in Washington: »In Wirklichkeit ist die Abtreibung längst zu einem Sakrament der neuen Religion des Ichs erkoren worden. Wenn jemand aufgestanden wäre und hätte von den Gewissensqualen einer 15-Jährigen gesprochen, die nach einer Party geschwängert worden ist, dann wäre er ausgebuht worden. Von Qualen will man in der Spaßgesellschaft nichts hören ... Bevor dieses Jahrhundert zu Ende ist, wird die Linke die Ineinssetzung von Feminismus und Abtreibung noch bitter bereuen.« Als ein Karlsruher Kirchenfunktionär in einer als »Morgenandacht« verkauften SWR-Sendung einmal die Fristenlösung als übereinstimmend mit dem Willen Gottes bezeichnete, unterbrach der Sender in derselben Sekunde die Ansprache mit einer aktuellen »Warnung vor einem Geisterfahrer«!
Was die Bevölkerungsentwicklung bei uns angeht, so ist die Studie »Deutschland 2020« des Berlin-Institutes interessant. Die Experten befürchten eine Verödung des Ostens durch noch mehr Abwanderung, sehen als Boom-Zentren vor allem süddeutsche Regionen und ermittelten den niedersächsischen Landkreis Cloppenburg als den Kreis mit der derzeit höchsten Kinderzahl. Mit der Begründung für den Kinderreichtum liefern die Berliner Forscher einen Tabubruch: Dort ist nur eine geringe Zahl der Frauen berufstätig.
Was bedeutet es, wenn sich ausgerechnet ein Großteil der Bildungselite aus dem generativen Prozess verabschiedet? Gerade die Familien streiken, die am meisten Wissen und Kultur weitergeben könnten. Übrigens liegt der Schatten nicht erst auf der Zukunft. Wir müssen uns heute fragen, was denn mit unserer Gegenwart los ist, dass viele nicht weitermachen, nichts weitergeben, keine Zukunft produzieren wollen? Was bedeutet ein Leben unter dem Vorzeichen, nach uns kommt nichts mehr? Es ist wie zu Noahs Zeiten: Nach uns die Sintflut. »Deutschland stirbt aus oder verblödet«, titelt die »Welt am Sonntag«.
Unserem Arbeitsmarkt steht eine Umwälzung ins Haus, demgegenüber die industrielle Revolution geradezu harmlos war. Denn aus dem Geburtendefizit von heute wird morgen ein Bewerberdefizit. Die Folge: Der Jugendkult der Spaßgesellschaft, dem viele Firmen huldigten, hat bald ausgedient. Nach dem Pleite-Schock der illusorischen »New Economy« sind wir auf dem Weg in die »Grey Economy« der Bellheims. Stellenanzeigen mit dem zynischen Motto, man brauche eine Aufstockung des jungen, dynamischen Teams und niemanden über vierzig, dürften schon bald der Vergangenheit angehören.
Wir werden eine völlig neue Unternehmenskultur finden müssen. Die Firmen werden nämlich mit ihren Mitarbeitern, die sie heute haben, in die Zukunft gehen (müssen!), weil immer weniger Nachwuchs verfügbar ist. Mitarbeiteraustausch via Frühverrentung kann man vergessen. Firma und Belegschaft werden gemeinsam alt. Darauf muss sich das Management einstellen. Ohne die Wertschätzung der Älteren wird es nicht gehen.
Die Jahre des Jugendkults sind bald vorbei. Im Arbeitsleben der Zukunft wird die reife Generation; den Ton angeben. Bereits Ende des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends sind 58 Prozent der Berufstätigen älter als 50 Jahre. Mitarbeiter mit grauen Schläfen prägen dann den Alltag in den Betrieben. Die Surf- und Fun-Generation der auslaufenden Spaßgesellschaft gerät in die Defensive. Heute liegt der Anteil der unter 40-Jährigen noch bei 52 Prozent, so rasend schnell kommt also der Wandel. Das ist keine Kafeesatzleserei. Alle Arbeitnehmer der nächsten 15 Jahre sind ja bereits geboren und machen den Trend unumkehrbar.
Die Verschiebung des Rentenalters kommt so sicher wie das Amen in der Kirche, mögen die Gewerkschaften noch so protestieren. Und warum auch nicht? Die 60-Jährigen von heute sind oft fitter und dynamischer als manche 50-Jährigen vor einem halben Jahrhundert. Motivierter und lebenserfahrener als der vom Jugendkult idealisierte Mitzwanziger sind sie auf jeden Fall.
Unser Bild vom Alter wird sich total wandeln müssen. Die Generation 50 plus darf nicht mehr länger auf ihre Rolle als Kandidat für den Vorruhestand reduziert werden. »Die Älteren werden wieder gebraucht«, so der Management-Denker Peter Drucker. Jene Gesellschaft wird künftig am erfolgreichsten sein, deren »religiöse und kulturelle Überzeugungen das Alter schöpferisch machen können« (Schirrmacher).
Dass über die Hälfte aller Betriebe in ihrem krankhaften Jugendwahn heute keine Mitarbeiter über fünfzig mehr beschäftigen, ist nicht nur ein Skandal, sondern wird künftig nicht mehr durchzuhalten sein. Mobbing gegen Ältere wird aussterben müssen, wenn ein Unternehmen überleben will. »Die Diskriminierung des Alterns und der Alten wird zu einem ökonomischen und geistigen Standortnachteil« (Schirrmacher).
Den Alten ist es auch nicht zuzumuten, dass über die alternde Gesellschaft vor allem als Katastrophe gesprochen wird. Gegen die Benachteiligung durch die heute praktizierte Zwangsverrentung will der Chef der Senioren-Union von CDU/CSU, Otto Wulf, notfalls vor das Bundesverfassungsgericht gehen: »Ich will dem Alter die Würde und die Lebensfreude zurückgeben. Das nimmt auch den Jüngeren die Angst vor dem Alter.« Senioren haben allen Grund, auf ihre Lebensleistung stolz zu sein. Nur wer solchen Stolz empfindet, ist zu weiterem Engagement für unsere Gesellschaft motiviert.
Es wird bald massenhaft Großeltern geben, aber keine Enkel. »Es ist wie bei der Mondlandung. Wir erobern gerade einen neuen Planeten. Wohl dem, der dann noch im Mikrokosmos der eigenen Familie in Ruhe wird altern können« (Schirrmacher). Bereits im Jahr 2040 wird jeder zweite Deutsche über 65 Jahre alt sein. Wer heute geboren wird, hat als Junge eine Lebenserwartung von 98 und als Mädchen von 102 Jahren, so die neue Sterbetafel der Versicherungswirtschaft.
Um unseren jetzigen Altersquotienten halten zu können, brauchten wir nach UNO-Berechnungen jährlich ,3,6 Millionen Zuwanderer. Auch um die bloße Einwohnerzahl Deutschlands zu halten, wären (bei einer Quote von derzeit 600 000 Auswanderern plus der geringen Geburtenrate) jährlich eine Million Zuzüge nötig. Damit wird jedem, der nüchtern rechnen kann, klar: Einwanderung kann die auf die Altersversorgung und das Gesundheitssystem zukommenden Probleme vielleicht mildern, aber keinesfalls lösen. Die meiste Einwanderung führt derzeit direkt in die Sozialsysteme.
Deutschland ist schon jetzt das größte Einwanderungsland der Welt. Wir haben die vier- bis fünffache Zahl an Zuzügen wie die klassischen Einwanderungsländer Kanada und Australien. Und wer das Problem durch Zuwanderung lösen will, sollte auch beachten, dass bereits jetzt 60 Prozent der hier geborenen Kinder einen anderen kulturellen Hintergrund haben. In Großstädten wie Berlin oder Frankfurt/Main ist die Relation an vielen Schulen noch dramatischer.
Die Frage nach unserer kulturellen Identität stellt sich immer drängender. Im Blick auf das Vorhaben des rot-roten Berliner Senats, Beamten und Lehrern nicht nur das Tragen von Kopftüchern, sondern auch von Kreuzen zu verbieten, erklärte der ostdeutsche CDU-Bundestagsabgeordnete Günther Nooke: »Nachdem die Linken die Entchristlichung unserer Gesellschaft vorangetrieben haben, geht es nun an die abendländischen Wurzeln.«
Die in Düsseldorf erscheinende »Wirtschaftswoche« schrieb: »Die Menschen in Deutschland waren noch nie reicher als heute. Sie waren aber auch noch nie wurzelloser.« Ein Problem, das inzwischen nämlich auch die Unternehmen eingeholt hat. Visionen, Strategien und Corporate Identity sind als Tipps kostspieliger Berater so lange leere Worthülsen, als sie nicht getragen werden von einem verbindlichen und verbindenden Wertebewusstsein der Belegschaft. Das beginnt mit Pünktlichkeit und Ehrlichkeit und geht bis zum Sozialverhalten.
Wie über-lebens-wichtig Wurzeln sind, zeigt uns die Pflanzenwelt. je tiefer das Wurzelwerk, desto leichter sind Energiekrisen (wie die des heißen Sommers 2003) zu überstehen. Umso schwerer können einen (Alltags-)Stürme niederlegen, weil fester Halt vorhanden ist. Doch was in diesem Bild meist übersehen wird: Je tiefer die Wurzeln, desto weniger kann man umgetopft werden.
Und genau hier erweist sich unsere Gegenwart als Zeit ohne Wurzeln. Die Leute lassen sich (vor-) schnell überallhin mitnehmen. Jeder gerade aktuellen Modemeinung wird gefolgt. Der Zeitgeist, geprägt von Demoskopie und dem, was gerade »in« ist, gibt den Ton an. Die Halbwertzeit unserer Lebensausrichtung wird immer kürzer. Ohne feste Verwurzelung sind wir dem Wind jeder Tagesparole ausgeliefert. Wer sich dauernd »verpflanzen« lässt, bleibt letztlich ohne festen Standpunkt. Wir leben in einer Umtopfgesellschaft, die die Proklamation fester Werte unter Fundamentalismusverdacht stellt.
Hier ist zum Beispiel der entschlossene Mut entschiedener Christen gefragt. Sie müssen die Konfrontation mit dem Zeitgeist und seiner Kultur aufnehmen und nicht die Phrasen derTrendpropheten nachbeten. Das erfordert einen kompromisslos-radikalen, an der Bibel orientierten Lebensstil. Nur so können Christen zur Erneuerung unserer Gesellschaft beitragen. Wer jedoch seine Identität und seine Widerstandskraft (mangels Wurzelwerk) verloren hat, der steht angepasst und einflusslos am Rande der Gesellschaft. Eine solche Kirche wäre eine selbst säkularisierte Subkultur, die ein unbeachtetes Nischendasein fristet und nur dann interessant ist, wenn es Spaß macht.
Doch nur Konstantes hat Konjunktur. »Ein Glaubens-Supermarkt mit schnellen Wechseln und unzähligen Kombinationen« (Trendforscher Matthias Horx) wirkt nur auf den ersten Blick attraktiv, nach dem Motto: Bedient euch, auf dass ihr selig werdet. Auch hier sieht man mit dem zwe'en besser: Zum Schluss zählt nur das Echte. Kurzzeitreligionen können weder das Wertevakuum nachhaltig füllen noch die nötigen Sicherheiten bieten.
Selbst christlich verbrämte Modeströmungen mit immer kleineren Halbwertzeiten überzeugen den kritischen Zeitgenossen nicht mehr. Die Kirchen muss es herausfordern, dass immer weniger Menschen ihre Lebensfragen an sie stellen. Eindeutigkeit ist gefragt. Christen haben etwas zu sagen, wenn sie Christus das Sagen überlassen. Gebote dürfen im Warenkorb unserer pluralistischen Kaufhaus-Gesellschaft nicht zu Angeboten verkommen. Wenn alles Wahrheit ist, ist nichts mehr Wahrheit.
Dass wir uns in diesem Buch nicht mit rückwärts gewandter Spießbürgeridylle, sondern mit dem brennendsten Zukunftsthema beschäftigen, beweist der testamentarische Satz des großen Heidelberger Philosophen Hans-Georg Gadamer (19002001) zu dessen hundertstem Geburtstag: »Zukunft ist Herkunft. Wenn wir uns unserer Herkunft nicht mehr erinnern, werden wir keine Zukunft haben.« Johannes Rau sagte es als Bundespräsident etwas populärer: »Wenn du nicht weißt, woher du kommst, kannst du auch nicht wissen, wohin du gehst.« Nur wer weiß, wo er herkommt, kann sagen, wo es langgeht.
Der Weg in die Zukunft funktioniert nicht auf einem Weg, dessen Untergrund durch banale Beliebigkeitswerte brüchig und sumpfig geworden ist. Der Politologe Werner Weidenfeld spricht von »tektonischen Verschiebungen«, die sich in den tiefen Dimensionen von Einstellungen, Werten, Mentalitäten und in den Konstellationen von Macht und Kultur niederschlagen. Der boden- und grundlose Pluralismus führt zur fundamentalen Verunsicherung unserer Gesellschaft. Die entscheidende Aufgabe der Moderne sieht Weidenfeld in dem Appell: »Bewahrt die kulturellen Grundlagen!« Zu deutsch: Vergesst eure Herkunft nicht! »Ein Volk ohne inneren Halt wandert seinen Weg durch Nacht und Grauen« (Otto Dibelius).
Die Frage nach unserer Herkunft, nach unseren Wurzeln, nach unserer Identität - all das sind Schlüsselfragen für die Zukunft. Wer sich damit heute beschäftigt, ist nicht reaktionär, sondern progressiv. Es geht um die Oberlebensfragen unserer Gesellschaft und nicht um eine Idealisierung und Restaurierung unserer Vergangenheit.
Nur ein Beispiel: Die aktuelle Europapolitik ist haargenau davon gekennzeichnet. Was ist Europa? Was erwarten wir von Europa und wer gehört überhaupt dazu?
Wir haben Europa inzwischen auf die ersten beiden Silben reduziert. Wenn es um die Erweiterung der EU geht und um die Bedeutung der europäischen Gemeinschaft, dann denken die meisten zuerst an die Wirtschaft, an die gemeinsame Währung, an eine außen- und verteidigungspolitische Größe. Doch Europa ist mehr als der Euro. Mehr auch als ein bloßer Kontinent.
Geographisch ist Europa höchstens die »Nase« Asiens, ein Anhängsel des großen Nachbarkontinents. Kontinente im klassischen Sinne sind Australien oder Afrika. Warum ist die Grenze am Ural und am Bosporus? Warum gehören die Nachbarstaaten jenseits des einst eisernen Vorhangs ganz automatisch dazu? Als am 1. Mai 2004 der Traum in Erfüllung ging und zehn Länder zur EU kamen, die zwei Jahrzehnte vorher noch gegen uns gerüstet hatten, da bewiesen die bewegenden Feiern und ergreifenden Gottesdienste: Wir sind ein und dieselbe Kultur. Die einstige Trennung war nichts als ideologische (atheistische!) Willkür. Wir passen zueinander.
Europa ist eine Idee, eine Wertegemeinschaft, eine kulturelle Einheit. Das Stammtischgerede vom »Christenclub«, für den es heute (im Blick auf den Beitritt der Türkei) keine Existenzberechtigung mehr gibt, weist doch letztlich auf des Pudels Kern. Man kann Geschichte über Bord werfen, aber leugnen kann man sie nicht. Ja, Europa hat als einigendes Band und als tragendes Wertesystem von Anbeginn seine christliche Prägung. »Europa ist unter dem Kreuz zu haben oder gar nicht«, mahnt der große Europäer Otto von Habsburg. Wer weiß schon noch, dass die Europafahne mit ihrem Kranz aus zwölf goldenen Sternen ein bewusst gewähltes Motiv der Bibel ist (Offenbarung 12,1)?
Zu Recht plädiert Bundespräsident Horst Köhler für einen Gottesbezug in der EU-Verfassung: »N47ir brauchen eine ethische Grundlage für unser Handeln mitsamt der Verpflichtung, mit Mensch und Schöpfung auf unserem Planeten verantwortungsvoll umzugehen. Das Christentum weist uns einen richtigen Weg.« Sein Vorgänger Johannes Rau meinte in seiner Rede vor dem polnischen Parlament am historischen Vortag der EU-Osterweiterung (1. Mai 2004): »Unsere beiden Völker und Kulturen sind tief in christlicher Tradition verwurzelt. Keine Idee und keine Macht hat unsere Länder, ihre Geschichte und das Denken der Menschen stärker geprägt ... Der Bezug auf Gott entspricht der christlichen Tradition Europas.«
Als Theodor Heuß, erster Bundespräsident und liberales Urgestein, in den 1950er-Jahren gefragt wurde, was Europa ausmache, sagte er: Europa baut auf drei Hügeln. Der Areopag (das griechische Denken von der Demokratie), das Capitol (das römische Denken vom Staat und seinen Bürgern, von der »res publica«) und, man höre und staune: Golgatha (das christliche Denken von Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde).
Kaum eine meiner Kolumnen in Europas auflagenstärkster Sonntagszeitung »Bild am Sonntag« hat in den letzten Jahren ein solch starkes Echo gefunden wie das Plädoyer für einen Gottesbezug in der EU-Verfassung. Hunderte von Lesern quer durch die Bevölkerung dokumentierten, dass diese Frage alles andere als ein kirchliches Spezialthema ist, und stimmten meinen Gedanken zu: »Das Haus Europa muss auf einem soliden Fundament errichtet werden, sonst ist es - um mit der Bibel zu sprechen - auf Sand gebaut. Es ist absurd, Gott und das Christentum mit keiner Silbe zu erwähnen. Wer nur ein bisschen Ahnung von Geschichte hat, muss wissen, dass die verbindenden Werte für das gemeinsame Europa nachhaltig von Bibel und Christentum geprägt sind ... Wenn der Mensch nicht mehr weiß, dass er höchstens der Zweite ist, ist bald der Teufel Ios.«
Wenn Europa Zukunft haben will, dann muss es sich seiner Herkunft bewusst sein und aus diesen Wurzeln bewusst leben. EU-Kommissionspräsident Jacques Delors forderte einst, man müsse Europa eine Seele geben. »Die Europäer müssen sich erinnern, wofür sie stehen und, wo nötig, kämpfen. Nichts ist dabei wichtiger als die christlichen Grundlagen. Wenn nicht, helfen weder Technik noch Reichtum. Dann ist nach dem Glauben auch die Demokratie in Gefahr«, meint der Historiker Michael Stürmer.
Der aktuelle Streit um den Türkei-Beitritt macht deutlich, dass Europa mehr als nur ein bloßer Kontinent und eben mehr als eine bloße Wirtschaftsund Verteidigungsgemeinschaft ist. Der Türkei mangelt es an demokratischen Traditionen, sie hat Grenzen zu Staaten wie Iran, Irak und Syrien (über 95 Prozent des Territoriums liegen in Kleinasien), ihr fehlt die Verankerung in Werten wie Trennung von Staat und Religion, Gleichberechtigung der Frau, Ächtung des Antisemitismus. Ein Großteil der türkischen Bevölkerung (allein über 60 Prozent Asiaten) dürfte Ansichten vertreten, die in Deutschland seit Kriegsende überwunden und meilenweit von den EU-Standards entfernt sind.
Selbst der Vertrauensanwalt der deutschen Botschaft in Ankara, Mehmet Köksal, fordert »mehr Ehrlichkeit in der Beitrittsdebatte« und meint im Blick auf die türkische Rechtsnorm: »Der Europäische Gerichtshof müsste sich mit zehntausenden Akten auseinander setzen, die die Unvereinbarkeit zwischen der Türkei und der EU dokumentieren. Noch ist die Türkei nicht reif für einen Beitritt ... Wir haben demokratische Gesetze auf dem Papier, aber die Köpfe sind noch nicht so weit.«
Umso wichtiger die Frage: Was hält Europa zusammen? Welches sind die Werte, für die es sich einzusetzen lohnt? Was geben wir unseren Kindern und Enkeln weiter? Keine Generation hat ihren Kindern mehr an Gut und Geld vererbt als die heutige. Mehr als 15 Millionen deutsche Haushalte werden bis zum Jahr 2010 erben. Etwa zwei Billionen Euro, über ein Fünftel des gesamten Privatvermögens, geht in die Hände der nachfolgenden Generation. So viel wie noch nie. Kein Wunder, dass die rot-grüne Bundesregierung gerade jetzt wieder die Vermögens- und Erbschaftssteuer entdeckt.
Doch die Grundfrage ist: Was vererben wir jenseits der materiellen Werte? Kann es sein, dass ausgerechnet die reichste Generation aller Zeiten in dieser Frage bettelarm ist? »Viele Leute sagen: An etwas muss man doch glauben. Die Frage ist nur, an was. Was bieten wir den Menschen jenseits voller Schaufenster?« (Roman Herzog)
Elisabeth Noelle-Neumann vom Allensbacher Institut antwortete auf die Frage, was für sie persönlich die erschütterndste Tendenz bei ihren jahrzehntelangen demoskopischen Untersuchungen sei: »Dass es immer weniger Eltern wichtig ist, ihren Kindern die Werte weiterzugeben, die für sie wesentlich waren.« Sie wollen ihre Kinder gar nicht mehr beeinflussen (erziehen), »am wenigsten im Glauben, in ihren Oberzeugungen, in ihren Werten. Ein Irrweg, traurig für Eltern undsKinder.«
In einem Aufsatzwettbewerb für Abiturienten schrieb ein junger Mann über die heutige Elterngeneration und es klingt wie eine Bankrotterklärung: »Ihr habt uns halbstark gemacht, weil ihr schwach seid. Ihr habt uns keinen Weg gewiesen, der Sinn hat. Weil ihr selber den Weg nicht kennt und versäumt habt, ihn zu suchen.« Welch eine Schreckensbilanz: Kein Vorrat an Werten mehr! Keine Wege, um sie zurückzugewinnen! Im vereinten Europa sieht es für Deutschland düster aus: »Im internationalen Vergleich christlicher Vitalität steht Deutschland negativ da« (dpa). So besuchen die Iren im Jahresdurchschnitt 38 Gottesdienste, Polen 33, Italiener 21, die Deutschen (in den alten Bundesländern!) nur zehn.
Oft wird unsere Oberflächengesellschaft ja mit der Kritik »Wir leben von der Hand in den Mund« belegt. Das ist schon schlimm genug, jedoch immer noch ein Euphemismus, eine wohlklingende Umschreibung unseres viel dramatischeren Zustands. In Wahrheit leben wir inzwischen längst von der Substanz, ähnlich wie die dritte Generation in Thomas Manns »Buddenbrooks«. Wir leisten uns Kreuzfahrten in die Karibik, Windräder im Wendland und das absolute Reinheitsgebot für die Luft - doch die Nobelpreise und die Arbeitsplätze holen die anderen.
Apropos Buddenbrooks: In einer Titelgeschichte über Deutschland räumt das US-Magazin »Time« mit dem Image eines Volkes voller preußischer Tugenden und deutscher Wertarbeit gründlich auf. Stattdessen prophezeit es der Spaßgesellschaft »ein Buddenbrook'sches Ende«: »Kein plötzliches Zusammenkrachen, sondern eine lange Reihe von kleinen Fehlschlägen und Misserfolgen, die nahezu unbemerkt bleiben, während man an gutes Essen, schöne Kleider und den äußeren Schein denkt. Bis alles weg ist ...« Dieses »alles« sind auch jene Werte, ohne die kein Bestand möglich ist.