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Peter Hahne, Schluss mit lustig 04: Das Ende der Spaßgesellschaft

 

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Peter Hahne: Schluss mit lustig: Das Ende der Spassgesellschaft

 

 


Gelbe Engel statt Gottes Bodenpersonal
Absichten und Ansichten

Nichts ist, wie es war
Die neue Tagesordnung
Die Welt danach
Unser New York heißt Erfurt

 

 

Gelbe Engel statt Gottes Bodenpersonal

Wohl dem, der diesen Traditionen noch begegnet. Werte wollen ja nicht als Worte, sondern als Begegnung erfahren werden. Die Kirchen als Institu­tion haben für die. meisten Deutschen keine Bedeutung mehr. In der bisher größten repräsen­tativen Internet-Umfrage in Deutschland (gemein­sam von ZDF, »Stern«, t-online und McKinsey unter 356 000 Bundesbürgern durchgeführt) bezeichneten sich nur noch 39 Prozent als religiös. Auf die Frage, wem sie am meisten vertrauen, kam die überwältigende Antwort: den gelben Engeln des ADAC! Dem Bodenpersonal Gottes, den Kirchen, vertrauen magere 14 Prozent. Ein hoher Preis für die gnadenlose Selbstsäkularisierung und Selbst­marginalisierung der Kirchen in den vergangenen Jahrzehnten.

»Nur in einem einzigen Land auf der Welt ist die Kirche (bei der Frage nach ihrem Ansehen) nicht im vorderen Feld platziert, nur in einem einzigen Land liegt die Kirche auf dem letzten Platz: in Deutsch­land... Wie weit soll dieses in der evangelischen Kir­che schon fast zur Folklore gewordene kirchliche Bemühen, sich bis zur eigenen Unkenntlichkeit mit der Welt zu verständigen, noch führen? Wahr­scheinlich erst, wenn sich die beiden Kirchen auch noch mit der letzten gesellschaftlichen Randgrup­pe in Deutschland verständigt haben, werden sie realisieren, dass sie selbst zur Randgruppe geworden sind« (Florian Illies in der FAZ).

Für mich gehört es zu den größten Herausforde­rungen unserer Zeit, dass immer weniger Menschen ihre Lebensfragen an die Kirchen richten. Nicht, weil etwa der Glaube antiquiert und die Sache mit Gott altmodisch erscheinen. Im Gegenteil: Da, wo Bibeltreue und Christusfreude statt Multikulti und Tagespolitik herrschen, füllen sich die Gottesdiens­te und blüht die Jugendarbeit. Nur von entschiede­nen Christen werden entscheidende Antworten er­wartet. Wo alles möglich ist, macht man sich bald selbst unmöglich. Martin Luther hat zwar gesagt, man solle dem Volk aufs Maul schauen. Dass man den Leuten nach dem Munde rede, hat er nirgendwo verlangt.

Doch selbst das, ein Hören und Antworten auf die Bedürfnislage des modernen Menschen, gelingt der Kirche nicht. Durch pseudowissenschtftlichen Schnickschnack berauben sich selbst Spitzenfunk­tionäre der letzten missionarischen Möglichkeiten, Menschen glaubwürdigzu erreichen und ihnen Mut und wegweisende Worte zuzusprechen. Geschehen auf der Düsseldorfer »drupa«, der weltgrößten Mes­se für Papier und Druckmaschinen. Dort hielt eine Superintendentin einen Gottesdienst und entzau­berte den verlesenen Predigttext sogleich, indem sie dem staunenden Publikum erklärte, nur der erste und der letzte Teil seien wirklich von Jesus, die Mit­te später hinzugefügt worden. Genau das war es ja auch, was die Leute an diesem Morgen brennend in­teressierte ... Doch die Erwartungshaltung an Got­tes Bodenpersonal ist glücklicherweise so reduziert gewesen, dass nur vier (!) Besucher kamen, während sich vor dem muslimischen Gebetsraum auf dem Messegelände eine lange Schlange bildete.

Gefragt ist heute kein multireligiöser Eintopf, sondern christliche Eindeutigkeit. Nicht religiöse Leckerbissen, sondern biblisches Lebensbrot. Un­sere Kirchen brauchen eine Konzentration auf ihr Kerngeschäft, einen echten Produktstolz, um auf dem diffusen Markt der Sinnangebote konkurrenz­los wichtig zu bleiben. Wir sollten nicht wesentlich mehr, dafür jedoch mehr Wesentliches tun. »Wir müssen alle unsere Aktivitäten auf den Prüfstand

Geistige Armut lässt ein flott gemeinter dümmlicher Slogan einer kirchlichen Frauenarbeit: »Früher wa­ren wir selbstlos, heute gehen wir selbst los.« Als sei­en das Gegensätze! Bezeichnend ist das Interview mit einer TV-Schauspielerin, die sich aus einer be­liebten Krankenhaus-Serie zurückgezogen hatte und jetzt zurückkehrt: »Ich tue das, weil sich die Serie total verändert hat. Die Krankenschwester ist nicht mehr diese aufopfernde, dienstbeflissene Frau, sie ist jetzt selbstbewusst.« Dienst gilt sozusagen als Synonym für Unterordnung und Unselbstständigkeit.

Ganz gegen diesen Trend will man mit Dienst­leistung Arbeitsplätze schaffen - und wundert sich, dass das nicht klappt. Bei uns jedenfalls nicht. In Holland, in Skandinavien und den USA glückt das sensationell und bringt Hunderttausenden ei­nen Job. Wer in Amerika seine Einkäufe im Su­permarkt (nicht nur im Fachgeschäft!) selber einpackt, vernichtet einen Arbeitsplatz. Und wie selbstverständlich werden die Tüten dann auch noch ins Auto getragen. Noch ein Arbeitsplatz. Dasselbe gilt fürs Schuheputzen nachts im Hotel. Stellen Sie jedoch in einem deutschen Hotel mal ihre Schuhe vor die Tür - die sind am nächs­ten Morgen weg ...

In den USA ist Shopping ein Event. Selbst in großen Warenhäusern wird man von einer Verkäuferin nicht nur strahlend-freundlich begrüßt (lieber ein »bezahl­tes« Lächeln als die deutsche lohnbezogene Muffelig­keit!), sie faltet einem ungerührt mehrere Oberhem­den zur Anprobe auseinander, um sie anschließend Nadel für Nadel wieder zusammenzulegen.

Als Kunde fühle ich mich nicht nur als König, ich werde behandelt, als sei ich in dem Augenblick der einzig Anwesende. Das hat einen Grund, hat etwas mit der Mentalität, mit der Dienst-Auffassung zu tun. Wenn in den USA ein Kunde den Laden be­tritt, sagt sich der Verkäufer: »Da kommt mein Ar­beitgeber!~ In Deutschland murrt das aus Privatge­sprächen und -telefonaten aufgeschreckte Personal: »Da kommt Arbeit!«

Was wir in Deutschland dringend brauchen, ist ein Mentalitätswechsel. Es hat keinen Sinn, etwas »Dienstleistung« zu nennen, was man im tiefsten Inneren angewidert ablehnt. Sprachkosmetik ä la Azubi hilft da nichts.

Dienstleistung ist nur dann Dienstleistung, wenn Dienst wieder als Leistung anerkannt wird. Wenn über die, die das tun, nicht herablassend gespottet wird, sodass man sich als Deutscher natürlich nur noch von Ausländern be-dienen lässt bzw. sich sei­nen Spargel von Polen stechen und seine Erdbeeren von Usbeken pflücken lässt. Wir schaffen die drin­gend benötigten und das Sozialsystem rettenden Ar­beitsplätze erst dann, wenn Dienen wieder zu einem geachteten Wert wird. So entstand das Jobwunder in den USA. Der Fußballer Jürgen Minsmann - mit ihm wurde Deutschland 1990 in Rom Weltmeister, was man sich von ihm als neuem Bundestrainer für 2006 erneut erhofft - lebt seit 1999 in Kalifornien. Er erzählt: »Wer einen Job für sechs Dollar die Stun­de bei McDonald's oder wo auch immer in der Dienstleistung macht, derwird hier auch respektiert. Ich weiß nicht, ob so etwas auch in Deutschland möglich ist.«

Und Thomas Gottschalk, ebenfalls in Kaliforni­en lebend, meint: »In Amerika gibt es den Satz nicht: >Da muss der Staat was machen. In Ameri­ka wissen die Leute, wenn ich es nicht selber packe, hilft mir keiner. In Deutschland sagen die Leute:So, jetzt bin ich arbeitslos, wo ist der Staat?< In Amerika sagen die Leute: >Jetzt bin ich arbeitslos, wo kann ich neues Geld verdienen? Es gibt in den USA das Wort Schlechtwettergeld nicht. Es gibt zehn Tage Urlaub.«

Dienst ist eine uralte biblische Tugend, deren überraschende Aktualität uns herausfordern sollte, auch andere Werte wieder zu entdecken und in un­ser Handeln und damit in unsere Sprache aufzu­nehmen: Wagemut, Langmut, Demut, Barmherzigkeit ... Die Krise des Ehrenamtes istrein deut­liches Symptom für die tödliche Lustkrankheit na­mens Spaßgesellschaft. Man kann das Ehrenamt noch so lange »Ehrenamt« nennen. Wenn man denen, die überhaupt noch freiwillig und kostenfrei et­was tun, die Ehre verweigert, indem man sich selbst ins bequeme Privatleben zurückzieht, braucht man sich über die typisch deutsche Rückzugsmentälität nicht zu wundern. Mit katastrophalen Folgen für die Gesamtgesellschaft.

 

Absichten und Ansichten

Welche Wirkung er sich von seinen Theaterstücken erhoffe, wurde der amerikanische Dramatiker Ed­ward Albee (»Wer hat Angst vor Virginia Woolfe?«) einmal gefragt. Die Antwort schockiert in ihrem Sarkasmus: »Ich möchte die Zuschauer derart packen und betroffen machen, dass sie nach der Aufführung vor das nächstbeste Auto taumeln.«

Diese Absicht habe ich nicht. Abgesehen davon, dass dies Buch kein Drama und meine Vorträge kein Theater sein sollen. Ich möchte Sie durch mei­ne Gedanken, durch meine Ansichten und durch meine Sicht der Dinge einfach anregen. Und hof­fentlich auch ein wenig aufregen. Denn nur, wer durch Nachdenken zum Neudenken kommt, kann auch umdenken. Oder anderen helfen, das zu tun.

Es geht mir um provokante Gedankenanstöße und nicht um ein akademisches Oberseminar, das auf den harmoniesüchtigen Samtpfoten des Zeit­geistes daherkommt. Keine trockene wissenschaft­liche Abhandlung, sondern ein (Auf-)Ruf in die Verantwortung.

 

Nichts ist, wie es war

Zwei Daten sind es, die die Welt zu Beginn des neuen Jahrtausends dramatisch veränderten. Tage, an denen der Terror die Welt in einen kollektiven Schockzustand versetzte. Einmal ist es der 11. Sep­tember 2001, der Morgen, als sich hintereinander zwei voll besetzte Passagierflugzeuge in die "Türme des World-Trade-Centers bohrten. Live und fas­sungslos verfolgte die Weltöffentlichkeit den Twin­Tower-Terror am Fernsehschirm. In Manhattan schien sich ein Höllenschlund zu öffnen, der New Yorks höchste Hochhäuser und rund 3 000 Men­schen in sich hineinriss.

Doch auch Europa erlebte seinen » 11. Septem­ber«, als islamistische Terroristen gnadenlos zu­schlugen, ebenfalls an einem Elften. Experten spra­chen von der kritischsten Lage für Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Mitten im Berufsverkehr von Madrid explodierten am 11. März 2004 zeitgleich zahlreiche Bomben in voll besetzten Zügen und ris­sen mehr als 200 Menschen in den Tod.

Selbst besonnene Zeitgenossen gruseln sich ob der Zahlenmystik: Die Anschläge von Madrid fan­den exakt 911 Tage nach dem Inferno von New York statt und das war nach amerikanischer Schreibweise am 9/11. Ist der Wahnsinn berechen­bar geworden, fragen seriöse Kommentatoren. Ein ganzer Kontinent rückte zusammen und die EU er­kannte im Terrorismus den »neuen Feind« und nannte den Kampf gegen Moslem-Extremisten als eine Hauptaufgabe. Als dann noch Bundespräsi­dent Johannes Rau Ende März 2004 seine Afri­kareise abbrechen musste, weil konkrete An­schlagspläne bekannt geworden waren, spätestens da war auch uns Deutschen klar: Der Terror rückt näher. Und zu meinen, wir blieben verschont, nur weil Deutschland sich aus dem Irak-Krieg heraus­gehalten hat, erweist sich als naive Illusion.

Wie ernst die Lage wirklich ist, zeigt eine Bege­benheit in Berlin. Der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Friedbert Pflüger, wollte ein Buch mit dem Titel »Ein neuer Welt­krieg. Die islamische Herausforderung« veröffent­lichen. Parteifreunde rieten ihm, hinter das Wort Weltkrieg lieber ein vorsichtiges Fragezeichen und keinen definitiven Punkt zu setzen. Als das Buch dann genau am Tage des Madrid-Anschlages er­schien, meinte der Außen-Experte der SPD, Hans­Ulrich Klose, zum Autor: »Das Fragezeichen hätten Sie weglassen müssen ...«

Es war vor allem der 11. September in New York und Washington, der mit einem Schlag die Tages­ordnung des gesamten Globus verändert hat. Die Welt ist nicht mehr wie zuvor. So die banale Fest­stellung, die den Schrecken in eine Formel presst. Die Attentate haben unsere Zivilisation auf lange Sicht total verändert. Die Bilder von Schutt und Asche, von Menschen, die wie Vögel durch die Luft in den Tod springen, die weinenden Angehörigen und die verzweifelten Feuerwehrleute - all das will uns nicht aus dem Kopf. Nie mehr. Noch niemals in der Menschheitsgeschichte konnte man eine Ka­tastrophe derartigen Ausmaßes live und in allen Einzelheiten erleben. Schock und Angst lähmten die Welt.

 

Die neue Tagesordnung

Ich werde es nie vergessen: An jenem Dienstag 'stand im Plenarsaal des Reichstages die Debatte über den Bundeshaushalt auf der Tagesordnung. Traditionsgemäß die Generalabrechnung der Op­position mit der Regierung. Doch wen interessier­te das noch, als kurz nach neun Uhr die Schreckens­meldungen aus den USA kamen. Sechs Wochen später wurde die unterbrochene Debatte ohne nen­nenswertes Engagement wieder aufgenommen. Und auf den Titelseiten der Tagespresse standen am Terrortag Schlagzeilen wie »Scharping: Minister auf Abruf« oder »Das Scharping-Debakel«. Doch der erwartete Rücktritt oder Rausschmiss aus dem Ka­binett war am Tag darauf keine Zeile mehr wert.

Die Tagesordnung hatte plötzlich ganz andere Themen. Fragen, die politische Träumer längst für erledigt gehalten hatten. Wie viel Geld brauchen wir für Bundeswehr, Zivilschutz, Geheimdienste? Müssen wir die Armee künftig auch im Innern ein­setzen? Wie kann man dem international agieren­den Terrorismus den Todesstoß versetzen? Ist der viel beschworene Zusammenprall der Kulturen zu vermeiden?

Wie können wir verhindern, dass sich islamisti­sche Extremisten-Organisationen unter dem Deck­mantel der Religionsfreiheit einem Verbot in Deutschland entziehen? Dass Moslem-Terroristen unser Land als Rückzugsraum missbrauchen kön­nen? Oder innenpolitische Fragen von brisanter Gratwanderung: Wie viel Freizügigkeit müssen wir aufgeben, um sicher zu sein? Doch wie viel Freizü­gigkeit dürfen wir aufgeben, um nicht zu einem Po­lizeistaat zu werden?

 

Die Welt danach

Wie banal wirkten da doch unsere vermeintlich so wichtigen Themen zuvor. Und wie banal und ge­wöhnlich erschien uns das Grauen, das in den Ta­gen nach New York auf unseren Bildschirm kam. In normalen Zeiten hätten diese Nachrichten große emotionale Kraft in den aktuellen Schlagzeilen ent­faltet: Mehr als 100 Tote beim Unglück auf dem Mailänder Flughafen, 14 Opfer bei einem Amok­lauf im Parlament der Schweizer Kantonsstadt Zug, das dramatische Flammeninferno im Gotthard­Tunnel ... An tragischen Nachrichten bestand kein Mangel. Doch, gemessen an der Attacke jenes 11. September, verblasste alles.

Unsere kleine deutsche Wohlfühl-Welt ist ernster geworden. Fast schon symbolisch schaltet der Mu-siksender VIVA sein Programm für Tage völlig ab. Die Koordinaten müssen sich neu ausrichten. Die Verweigerung der Wirklichkeit, durch die Spaßge­sellschaft auf die Spitze getrieben, hat ein Ende. Die Themen, über die geredet wird, sind plötzlich exis­tenzieller Natur. Die schrille Spaßgesellschaft ist Schock und Trauer gewichen. Einer der alten jour­nalistischen Haudegen, der Islamexperte Peter Scholl-Latour, brachte es auf den Punkt: »Das ist das Ende der verdammten Spaßgesellschaft. Die Vor­stellung, dass die Welt gut und alle Menschen lieb sind, die ist endlich wieder zurechtgerückt worden. «

Die »Zeit der Vergeltung nach der Vergeltung« hat uns das noch einmal bestätigt. Wir erlebten den Weltkrieg der Bilder. Erst die grauenhaften Folter­videos mit den misshandelten irakischen Kriegsge­fangenen, dann der Gegenschlag durch die Ent­hauptung des amerikanischen Aufbauhelfers Nick Berg Mitte Mai 2004 vor laufenden Kameras. Es dauerte 62 Sekunden, bis Bergs Kopf vom Rumpf abgetrennt war. Dann hielt ihn der Mörder stolz in die Kamera: »Allahu akbar«, riefen die Komplizen, »Allah ist größer.«

Vorbei die Zeit der Allmachtsfantasien vom Weltfrieden der Vernunft. Das ist das Ende der hei­eren Beliebigkeit. Die Schalmeien der Multikulti­Folklore sind verstummt. Falsch verstandene Tole­ranz und das »multikulturelle Verstehensgertue« (»ZEIT«) haben sich als trügerisch erwiesen. End­lich beginnt wieder eine echte Streitkultur, in der um die Ansprüche von Weltanschauungen und Re­ligionen gerungen wird, in der es um Wahrheit, Klarheit und die Frage nach unserer Identität geht. Wie wird der bedrohliche Moslem-Extremismus auf lange Sicht unsere Zivilisation verändern? Das fast vergessene Bewusstsein der eigenen Angreifbar­keit erschreckt. Es gibt eben doch eine Realität, die durch spaßige Fernseh-Virtualität nicht ersetzt wer­den kann. Die Menschen sind im wahrsten Wort­sinn ver-unsichert und suchen hilflos nach einer Ver-Sicherung.

Doch welche Werte sind es, die uns versichern? Welche Werte wollen wir verteidigen? Als die Bun­deswehr zum Anti-Terror-Einsatz nach Afghanistan ging, wurde danach gefragt. Den meisten Bürgern war klar, wogegen wir sind und kämpfen: Funda­mentalismus, Islamismus, Terrorismus, Fanatismus. Aber fragen wir einmal, wofür wir eigentlich ein­treten und welche Werte es lohnen, verteidigt zu werden ... Da ist Schweigen im Walde. Wir wissen, wogegen, nicht, wofür wir sind.

Im Zusammenhang mit dem Widerstand gegen Hitler gibt es einen tiefgründigen Gedanken von Reinhold Schneider. Zusammen mit Bergengruen gehörte er zu den wichtigsten katholischen Litera­ten im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Ihm ging es um die Frage, inwieweit es gerechtfer­tigt ist, dass Regimekritiker wie Stauffenberg und Tresckow dennoch Positionen in der Nazi-Maschi­nerie ausfüllten, obwohl und weil sie wussten, dass Diktaturen immer schuldig machen.

Schneiders Worte sind von eigentümlicher Ak­tualität: »Gehen Sie mitten hinein! Retten werden Sie nichts, denn der Herr rettet, nicht die Men­schen. Werden Sie zum Zeugen mitten im Feuer! Aber Sie müssen wissen, wofür Sie einstehen sol­len.« Nach dem Terror von New York und Madrid, nach dem Aufflammen des Islamismus im Nahen Osten und der fundamentalistischen Hetzpropa­ganda im Westen ist es entscheidend, die Grund­werte einer freien Gesellschaft zu kennen, sie zu le­ben und für sie einzustehen.

 

Unser New York heißt Erfurt

Auch wir Deutschen haben ein Datum, das schockiert und einen Punkt markiert, von dem an alles anders werden sollte. Doch bereits Monate danach ermittelt das Allensbacher Institut in einer Umfrage, dass das dramatische Ereignis, das uns doch zum Nachdenken und zu neuein Handeln bringen sollte, den Leuten gar nicht mehr präsent ist. Ein fataler Tribut an die Stimmungsdemokratie mit ihren rasant wechselnden Erregungsthemen.

Am 26. April 2002 ging der 18-jährige Robert Steinhäuser schwer bewaffnet in sein ehemaliges Gymnasium und erschoss dort so lange wahllos Lehrer und Schülcr, his er zu einem Studienrat sag­te: »Für heute ist genug, Herr Heise.« Dann brach­te er sich selbst um. Die traurige Bilanz: 16 Tote.

Die Suche nach den Gründen erwies sich als schwierig. Denn die vorschnellen und einfachen Erklärungen verfingen diesmal nicht. Die Schule war ein Elitegymnasium, der Junge ein Sohn aus dem Bürgertum. Es könnte also auch bei uns so pas­siert sein! Robert Steinhäuser war kein Rechtsradi­kaler, kein Satanist, kein Drogensüchtiger. Seine Eltern waren weder asozial noch arbeitslos, noch Trinker. Nein, sie haben sich »nur« selbst verwirk­licht, haben ihren Sohn » in die Welt der Compu­terspiele verloren« (SPIEGEL-TV, 27.4.2003). Die Quittungen der gekauften Waffen, die der Jugend­liche penibel gesammelt hatte, erschienen den »Spiegel«-Kollegen wie »Abschiedsbriefe aus einer scheinbar heilen Welt«.

Am zweiten Jahrestag des Amoklaufs, 2004, warnte der Direktor des Kriminologischen For­schungsinstituts Niedersachsen, Christian Pfeiffer, im ZDF vor einer »Medienverwahrlosung unserer Kinder", Zu früh und unbeaufsichtigt hätten sie Zugang zu Fernsehen, Internet und Videospielen. Pfeiffer appellierte an die Eltern, stärker ihre Er­ziehungsaufgabe wahrzunehmen und nicht bereits ihren jungen Kindern »alle Gerätschaften ins Zim­mer zu stellen und zu hoffen, dass schon alles gut geht«. Wenn inzwischen bei jedem vierten Sechs­jährigen ein eigener Fernseher im Zimmer stehe, habe der Jugendschutz kaum mehr Bedeutung - die Eltern selbst würden die Richtlinien ja unter­laufen.

Es lohnt sich, einmal den Vorhang der Bürger­lichkeit vor jener »heilen Welt« von Erfurt wegzu­ziehen. Sich einfach zu trauen, unbequeme Ant­worten auf die Fragen zu suchen: Wie konnte es so weit kommen? Wo waren Eltern, Lehrer und Mit­schüler? Warum sahen sie tatenlos den jungen Mann in eine Sackgasse laufen, wieso sahen alle zu, wie sich Robert zunehmend isolierte? Er kam in der Schule nicht mehr mit, konnte kein Abitur ma­chen, stand schließlich ohne Abschluss da. Allein gelassen mit Internet, Video, Computer, TV.

 

Peter Hahne: Schluss mit lustig: Das Ende der Spassgesellschaft



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