Peter Hahne, Schluss mit lustig 05: Das Ende der Spaßgesellschaft
Robert ist das Opfer einer Zeit, in der es wichtig erscheint, sich überhaupt nicht anstrengen zu müssen, sich jedoch auf jeden Fall selbst verwirklichen zu können. »Deutschland sucht den Superstar« - ohne Mühe zu Karriere und Geld kommen. Fernsehspaß ohne Anstrengung im zappenden Unterhaltungssalon Wohnzimmer. Was bedarf es da noch Freude an Leistung und Arbeit, wenn man das täglich vorgesetzt bekommt. Fernsehbilder von der Lehrausbildung eines Kfz-Mechanikers wären einfach nicht sexy.
Und die Eltern? Roman Herzog sagte in seinem letzten großen Interview als Bundespräsident auf die Frage, was das Schlimmste an unserer gegenwärtigen Gesellschaft sei: »Der Verlust der Werte.« Rückfrage: »Und wo liegen die Ursachen?« Herzog: »Immer mehr Eltern geben ihren Erziehungsauftrag an die Schule ab.« An die Ausbilder, die Meister ... Die sollen richten, was wir zu Hause nicht schaffen (wollen).
Der junge Leipziger Kinderpsychiater und Autor Jakob Hein schreibt im Blick auf die »politisch unkorrekte Suche nach der Ursache für das Massaker von Erfurt« unter der bezeichnenden Überschrift »Erziehung? Zu anstrengend« ernüchternde Sätze: »Kinder kommen nicht mehr einfach zur Welt, sie werden an der richtigen Stelle in den großen Selbstverwirklichungsplan eingebaut, häufig sogar als krönender Abschluss nach Traumberuf, -auto und -haus. Und es gibt bereits vor der Zeugung klare Vorstellungen über ihre Schullaufbahn und das erste Nettogehalt ... Aber wie in jeder Planwirtschaft funktioniert nichts davon.«
Was Kindern und jugendlichen sträflich »erspart« wurde, sind Anstrengung, Grenzen, die Auseinandersetzung mit Werten und Normen. Stattdessen geht Erziehung nach der Melodie: »Tue das, was ich dir sage.Tue jedoch nicht, was ich tue.« Am Beispiel der Lehrerwird das für jeden augenfällig. Was sollen denn unsere armen Kinder davon halten, wenn sie am Frühstückstisch unsere Tiraden über diese >,faulen Säcke« (Gerhard Schröder) hören, anschließend aber mit den Worten in die Schule geschickt werden: »Pass auf, benimm dich anständig, lern was..!« Beides unter einen Hut zu bekommen, das wäre geradezu schizophren. So bleibt es eben bei dem pädagogischen Grundsatz: Jede Elterngeneration hat die Kinder, die sie verdient.
Als die Pisa-Bildungsstudie auf den Markt kam und die erschreckende Lage Deutschlands im Weltvergleich durch himmelschreiende Zahlen belegt wurde, da gab es wenige Stunden später quer durch die Parteien die alles bessernde Patentlösung: der Ruf nach Ganztagsschulen. Von der Verantwortung der Familie und des Elternhauses war nichts zu hören ...
Immer die alte Leier: Lehrer als Prügelknaben. 70 Prozent der Deutschen wollen, dass die Lehrer unsere Kinder wieder zu mehr Leistung, Disziplin und Ehrgeiz erziehen. Aber wo verbringt denn der Nachwuchs die meiste Zeit? Zu Hause! 90 Prozent aller Erziehung findet immer noch in der Familie statt. Oder sollte man nicht besser sagen: Vor der Glotze, am Computer...
Der Hauptgeschäftsführer der Hamburger Handwerkskammer, Jürgen Hogeforster, schreibt (»WELT«, 12.11.2003) im Blick auf die totale Lernunfähigkeit von mindestens einem Viertel der Lehrlinge: »Viele Jugendliche haben in ihrer Sozialisation nur negative Erfahrungen gesammelt, Selbstvertrauen und Lernmotivation verloren. In zerrütteten Familien findet systematische Entwicklung immer weniger statt. Die Defizite des Elternhauses können in der Schule nicht ausgeglichen werden. Gleichzeitig ist irgendwann vor 25 Jahren das deutsche Schulsystem stehen geblieben und im internationalen Vergleich vom Niveau her abgesackt.« Den Lehrern müsse ihre erzieherische Aufgabe und größere Eigenverantwortung zurückgegeben werden.
Die Pisa-Katastrophe lässt sich mit einem schlichten Rezept bekämpfen, fast ohne Risiko und Nebenwirkungen: Die Autorität der Lehrer und Ausbilder muss wieder hergestellt werden. Und die müssen sich auch wieder als Autoritäten erweisen. Zwei Seiten einer Medaille.
Der Trendforscher Matthias Horx spürt eine neue Autoritätssehnsucht bei Kindern und Jugendlichen: »Viele Gewalt- und Verwahrlosungsprobleme hängen längst nicht mehr mit autoritären, schlagenden, sondern mit schwachen, abwesenden, weichen, konturlosen Vätern und Müttern zusammen, die nicht mehr in der Lage sind, Normen und Gesetze zu setzen, Orientierung zu bieten.«
Wie es um die Allgemeinbildung bestellt ist, macht die Lehrstellen-Diskussion auf paradoxe Weise schlaglichtartig deutlich. Auf der einen Seite wird geklagt, es gebe zu wenig Ausbildungsf'lätze. Andererseits können gerade Unternehmen mit beliebten Lehrstellen diese nicht besetzen. Von 2000 Bewerbern für 60 Plätze bei der Berliner Volksbank waren im April 2004 nur 40 für die Bankenlehre geeignet. Als Hauptursachen nennt die Industrie- und Handelskammer Berlin Defizite bei der Erziehung, bei der Allgemeinbildung, ja sogar bei den Grundrechenarten, bei Lesen und Schreiben. »Den jungen Leuten fehlen die sozialen Kompetenzen wie Pünktlichkeit und Sauberkeit.« Mit T-Shirt und Turnschuhen kann man kaum hinter einen Bankschalter. Mangelnde Bildung lässt allein in Berlin jede zehnte Lehrstelle unbesetzt. Alles Probleme, die nicht vom Himmel gefallen sind. Probleme, die also lösbar sind.
Der Schmuckunternehmer Hanspeter Wellendorff beklagte Ende 2003 in der FAZ, die meisten Lehrlinge könnten nicht einmal richtig Deutsch. ln einem Leserbrief (8.10.2003) berichtete der Chef einer mittelständischen Hightechfirma von seinen Erfahrungen, die denen der Berliner Volksbank gleichen: »Totaler Blackout beim Versuch eines Gesprächs über Themen der Allgemeinbildung oder des aktuellen Tagesgeschehens ... Schulterzucken auf die Frage nach Berufs- und Lebenszielen.« Hier liegt dieTragik unserer Spaßgesellschaft, wie sie unsere jungen Leute, die ja unsere Kinder sind, mit voller Wucht trifft: Nicht mehr Deutsch können heißt ja auch, keine kulturellen Wurzeln haben. Und daraus resultiert das Schockierendste: keine Lebensziele haben.
Unvergessen ist mir ein Erlebnis im Japanischen Teegarten im Golden-Gate-Park von San Francisco. Ich bekam zufällig die Unterhaltung eines jungen amerikanischen Pärchens mit. Er war gerade von einem Deutschland-Trip zurückgekehrt und sagte erstaunt: »Die Deutschen haben ihre Kultur verloren.« Auf ihre Nachfrage berichtete er von Begegnungen mit jungen Leuten, denen er im Laufe des Gesprächs die Frage gestellt habe: »What is the meaning of your life?« - Was ist der Sinn deines Lebens? Alle, wirklich alle wären an diesem Thema völlig desinteressiert und gleichgültig gewesen. Er konnte es gar nicht fassen, dass im Land der Dichter und Denker und der Reformation niemand über seine Lebensziele reden wollte oder besser: konnte. Wir versündigen uns an der nachfolgenden Generation, wenn wir ihr keine Ziele mehr vorleben.
In seinem 1939 in kritischer Zeit veröffentlichten Roman »Der veruntreute Himmel« schreibt Franz Werfel: »Wenn ich als junger Mann durch die Strassen der Städte ging, da war mir's, als müsste ich all diese dahinhastenden Leute mit ihren stumpfen Gesichtern festhalten und ihnen zuschreien: So bleibt doch stehen und denkt einmal nach und kostet es aus, dieses ungeheure Woher - Wohin - Warum! Ich habe schon sehr früh erkannt, dass der Aufstand gegen Gott die Ursache unseres ganzen Elends ist.«
Oder wollen unsere Kinder einfach nicht mehr so sein wie ihre Eltern mit ihren falschen Lebenszielen und -entwürfen?! Bei einem Kongress von Gerontologen schälte sich ein ungeplantes Hauptthema heraus. Die Wissenschaftler, die sich mit dem Alter beschäftigen, die Soziologen, Psychologen, Mediziner und Biologen, waren plötzlich mit der statistischen Tatsache konfrontiert, dass die Selbstmordrate unter Senioren dramatisch zunimmt. Die kontrovers diskutierten Ursachen ließen sich schließlich auf folgende Formel bringen: Es bedeutet für jemanden, der sein ganzes Leben immer nur unter dem Gesichtspunkt bewertet und gelebt hat, dass es von Jahr zu Jahr besser und schöner wird, von Beförderung zu Beförderung, von Tarifabschluss zu Tarifabschluss - für solche Menschen bedeutet es eine psychische Katastrophe, wenn sie merken, dass die Kurve sich zu neigen beginnt.
Dieser Katastrophe nicht gegenzusteuern gehört auch zur Pisa-Katastrophe! In meinem früheren Gymnasium stand noch der lateinische Spruch: Non scholae, sed vitae discimus« - wir lernen fürs Leben, nicht für die Schule. Wir brauchen Lehrer, aber auch entsprechende Klassenverbände, die eine solche Lebensschule ermöglichen und auch bewusst wollen. Endlich weg von einer verlogenen Kuschel- und Betroffenheitspädagogik, mit der man unsere Kinder lange genug drangsaliert hat. In der Shell-Jugendstudie wird ein 16-Jähriger zitiert: »Natürlich braucht man Spaß im Leben. Aber ohne Sinn macht es weder Spaß noch Sinn.«
Kaum war der Schock von Erfurt halbwegs aus den Schlagzeilen, kam der nächste Hammer im Februar 2004: Siebzehn Wochen lang misshandelten Jungen in Hildesheim einen Klassenkameraden im Werkraum ihrer Schule, ohne dass jemand eingriff. Prügel, Tritte, sexuelle Erniedrigung. Das Martyrium ihres Opfers nahmen die Jugendlichen auf Video auf und stellten es ins Internet. Und wie eine Lawine kamen plötzlich von überall Meldungen ähnlichen Inhalts. Kinder, die geradezu bewaffnet in die Schule kommen, gewaltbereit und voller Aggressionen. Lehrer, die nicht einzuschreiten wagen, weil sie sonst selbst zu Opfern werden.
»Es hätte überall passieren können, die Probleme sind überall gleich«, wird ein Lehrer aus Hildesheim zitiert. Der Fall sei eher ein zufällig bekannt gewordener Alltag. Viele kommen nicht mehr freiwillig zur Schule, sprechen kaum Deutsch. Nicht selten sind bei 20 Schülern elf Länder vertreten. Für zwei der vier Hildesheimer Täter mussten beim Verhör Dolmetscher eingesetzt werden.
Die »Süddeutsche Zeitung« erinnert daran, dass Gewalt an Schulen jedoch nicht nur ein Problem sozialer Randgruppen ist: »Schüler von Gymnasien berichten ebenso häufig über Misshandlungen wie Kinder aus Hauptschulen. Auch die Auswirkungen von Gewalt in der Familie auf Gewalt unter Jugendlichen ist nicht nur ein Schichtenproblem. Und die Zahl allein erziehender Mütter, die ihren Söhnen keinen Widerpart bieten können, steigt auch in der Mittelschicht.«
Das schlechte Image der Hauptschule entwickelt sich allerdings immer mehr zum gesellschaftlichen Problem. Es müsste dringend aufpoliert werden, indem man endlich aufhört, das Abitur zur alleinigen Voraussetzung für bald jeden Beruf zu machen. Der Besuch des Gymnasiums ist für viele Eltern eine Prestigeangelegenheit, auf Hauptschüler wird abschätzig heruntergesehen. Wer sich so missachtet fühlt, macht eben auf andere Weise auf sich aufmerksam. In einer sauerländischen Kleinstadt endete eine Abschlussfeier in einer Orgie von Alkoholund Gewaltexzessen, die nur durch ein Großaufgebot der Polizei beendet werden konnten. »Solch einen Alkoholkonsum bis zur Besinnungslosigkeit haben wir bisher noch nie erlebt,« wird der Einsatzleiter zitiert.
Es sind allerdings nicht die Schulen, die saufende und prügelnde jugendliche produzieren. Sie erziehen sie nur ein paar Stunden am Tag. Es sind die Eltern, die in einer seltsam resignativen Mischung aus Passivität und Pessimismus ihren Kindern zu wenig Zuwendung und Ansporn bieten und keine Regeltreue vermitteln. Zu wenige Eltern ermöglichen ihren Kindern andere Profilierungen als durch prügelnde, paffende, kiffende und saufende Angeberei. Statt Erfolgserlebnissen schlägt unseren Kindern Gleichgültigkeit entgegen.
Die Statistik spricht Bände: Deutschlands Jugendliche sind Europameister im Rauchen und Trinken, so die vergleichende Studie der Weltgesundheitsorganisation WHO (Juni 2004). Rund 27 Prozent der 15-Jährigen rauchen täglich, 18 Prozent konsumieren regelmäßig Haschisch oder Marihuana. »Seit hochgezüchtetes Power-Kraut geraucht wird, steigt die Zahl von Schwerstabhängigen mit lebenslangen Psychoschäden«, schreibt der »Spiegel« (Juni 2004) in seiner Titelgeschichte »Die Seuche Cannabis« über den deutschen Drogenplatz Nr. 1, die Schulen. Drogen haben den Pausenhof längst erobert. Wer nicht mitmacht, gilt als uncool. Nicht viel anders sieht es beim Alkohol aus: 46 Prozent der 15-Jährigen trinken mindestens einmal in der Woche, ihren ersten Rausch haben sie mit 14 Jahren. Diese Labilität mündet in Brutalität.
Als Thomas Gottschalks Ehefrau Thea in einem BamS-Interview über ihr Heimweh nach Deutschland befragt wird, sagt sie: »Nach dem aktuellen ,Spiegel<-Titel scheint ja in deutschen Schulen mehr gekifft als gelernt zu werden. Da ist hier in Kalifornien die Kontrolle einfach größer für unsere Söhne.«
Die Kriminalstatistik 2004 beklagt eine erschreckende Zunahme von Gewaltkriminalität. Die Täter werden immer brutaler und immer jünger. Der klassische Schülerstreich, der körperlich niemandem weh tat, ist längst durch nackte Gewalt ersetzt worden.
Nach der Vorlage des dramatischen Drogenberichtes der Bundesregierung kommentierte der liberale »Weser Kurier« (Bremen) und es klingt wie eine Zeitansage: »Die Spaßgesellschaft entlässt ihre Kinder: Früher tat es ein Mallorca-Urlaub, heutzutage muss es schon eine Abenteuertour in den letzten Erdwinkel sein. Einst sorgte die Achterbahn für Nervenkitzel, mittlerweile langweilt sogar BungeeSpringen. Und wenn früher ein Fass Freibier zur Feier lockte, so ist nun die Mega-Super-Party das Maß aller Dinge.« Schließlich resümiert der Kommentator: »Die rastlose Suche nach dem Kick ist keineswegs nur das Merkmal der jungen Generation. Insgesamt steuert unsere Gesellschaft immer mehr auf etwas zu, was als Indiz einer Sucht angesehen wird: Maßlosigkeit.«
Die Gesellschaft wird maßlos genannt, weil sie das Maß los ist. Wir haben Werte und Normen, Orientierungsmarken und Maßstäbe verloren. Das Maß wieder finden heißt ja nichts anderes als: zurück zu den Quellen, zu den Wurzeln. »Jetzt ist die Gelegenheit, den Kern der Kultur wieder freizulegen ... weil viele vorn Lachen genug haben« (»ZEIT«).
In der Sonderausgabe des »Spiegel« zum ersten Jahrestag des 11. September 2001 schrieb ein Schüler: ��Im zertrümmerten World-Trade-Center mussten erst Tausende Menschen sterben, um der Spaßgesellschaft begreiflich zu machen, dass sie Werte als Zwang empfand, ohne die ein dauerhaft glückliches Leben unvorstellbar ist.«
Der Entertainer Thomas Gottschalk sagt es auf seine Weise: »Die Werte sind völlig verrutscht. Die Eltern atmen heute schon durch, wenn ihre Kinder zu Hause vor dem Computer sitzen und keinem Kult verfallen.« Wenn er mit seinen beiden jungen vom Wohnort Malibu in Kalifornien zu Besuch nach Deutschland kommt, so wundert sich sein 18-jähriger Sohn Roman, dass Jugendliche in seinem Alter hier in Sachen Alkohol und Rauchen etwas dürfen, was ihnen in Amerika verboten ist. Und sein 14-jähriger Tristan nennt Deutschland schlichtweg einen »riesigen Pornoladen<.
Bereits vor 100 Jahren prophezeite der Soziologe Max Weber eine Gesellschaft, die nur noch ein >,seines religiös-ethischen Sinnes entkleidetes Erwerbsstreben« kennt: »Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz: Dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.«
Was wir heute brauchen, sind Menschen, die über einen Wertevorrat verfügen. Denn ohne ein Mindestmaß gemeinsamer Werte ist kein gesellschaftlicher Konsens mehr möglich. Kein Wunder, dass die Elite, auch die journalistische das Werte Thema ganz oben auf die Tagesordnung setzt. Die beiden großen deutschen Meinungsmagazine titeln unisono: Sehnsucht nach Werten! »Focus« fordert unter der Schlagzeile »Die ratlose Gesellschaft« die Rückkehr der Tugenden. Und im »Spiegel« prangt auf dem Titel das Bild einer Biedermeier-Familie mit der Zeile: »Die neuen Werte: Ordnung, Höflichkeit, Disziplin, Familie«. Die seitenlangen Artikel lassen auch nur die kleinste Spur von Ironie und Häme vermissen. Wie sich die Zeiten doch ändern ...
Knigge hat Konjunktur. Anstand und Benimm sind wieder gefragt. Die »Welt« schreibt, dass mit den beiden Zäsuren, die sich hinter den Chiffren 9/ 11 (Terror New York) und 11/9 (Fall der Mauer) verbergen, die letzten Kapriolen der Spaßgesellschaft geschlagen sind. Mit dem »Ende des ironischen Zeitalters« beginnt die »Rückkehr des Pathetischen und Ästhetischen«. Das Buch »Manieren« des äthiopischen Prinzen Asfa-Wossen Asserate, eines in Frankfurt am Main lebenden frommen evangelikalen Christen, Unternehmensberater und Urahn des legendären Königs David, stürmt die Bestsellerlisten. Bei einer Umfrage der Zeitschrift »Eltern« zum Thema »Was ist Kultur?« meint ein 12-jähriger Realschüler: »In unserer Familie herrscht total Kultur. Wir beten vor dem Essen. Jeder hat seine Serviette. Es wird beim Essen nicht ferngesehen, wie das Unkultivierte tun.«
Klagen über den Werteverfall, früher eine Domäne der Konservativen, kommen inzwischen aus dem gesamten politischen und weltanschaulichen Spektrum. Wie aktuell die Wertefrage ist, beweist schon die Tatsache, dass Parteien sie offen im Wahlkampf plakatieren. Wer im Kampf gegen den Werteverlust Wahlen zu gewinnen glaubt, muss ja wohl im Trend liegen.
So plädierte Kanzlergattin Doris Schröder-Köpf kurz vor der Wiederwahl ihres Mannes in Interviews mit »BILD« und »Bildwoche« für eine »Rückkehr zu den traditionellen Werten bei der Kindererziehung«. Auf Nachfrage hat sie auch gleich eine ganze Liste erstrebenswerter Erziehungsziele parat: Pflichtbewusstsein, Fleiß, Aufrichtigkeit, Hilfsbereitschaft, Verlässlichkeit, Anstand, richtiges Benehmen. »Wir müssen unsere Kinder wieder mehr erziehen und ihnen Werte vermitteln«, fordert die frühere Journalistin - immerhin zu rot-grünen Wahlkampfzeiten.
Die Trendforscher haben ein »Comeback der Werte« ausgemacht: Ethik und Moral seien die zentralen Themen des 21. Jahrhunderts. Selbst die Wirtschaft rückt in Zeiten von Globalisierung und Liberalismus vom reinen Effizienzdenken ab und klagt eine ethische Grundorientierung ein.
Was meinen wir, wenn wir von Werten sprechen? Werte, Moral, Ethik und Tugenden hängen zwar miteinander zusammen, sind aber begrifflich zu unterscheiden. Tugenden zum Beispiel wollen die Werte ins alltägliche Handeln »übersetzen«. Moral (lat. moralis: sittlich) ist sozusagen der Oberbegriff: Sie bezeichnet die Gesamtheit der Regeln, die in einer Gesellschaft akzeptiert sind und festlegen, was sittlich geboten ist, was als falsch und richtig, gut und böse gilt.
Ethik (griech. ethos: Sitte, Brauch) dagegen will die moralischen Normen begründen, aus der Philosophie oder der Religion. Die »Wissenschaft vom Sittlichen« untersucht die menschlichen Handlungen und ergründet die Motive (Gesinnungsethik), die Wirkungen (Erfolgsethik) und die Werte und Normen (Wertethik). Spannend ist die Frage, ob sittliche Normsetzung und deren Wertschätzung angeboren und allen Menschen gemeinsam sind oder ob sie aus der Erfahrung und Erziehung gewonnen werden.
Werte sind die Vorstellungen, die in einer Gesellschaft allgemein oder zumindest von vielen als wünschenswert anerkannt sind. Werte wollen und sollen Orientierung geben. Traditionell unterscheidet man moralische Werte wie Aufrichtigkeit, Gerechtigkeit, Treue. Oder religiöse Werte: Gottesfurcht und Nächstenliebe. Politische Werte: Toleranz, Freiheit, Gleichheit. Materielle Werte: Wohlstand. Werte sind letztlich das Ergebnis von Wertung, d. h. die Bevorzugung einer Handlung vor einer anderen.
Tugenden schließlich sind die Fähigkeit, sich gemäß den einzelnen Werten zu verhalten. Sokrates hat als Erster die Tugenden definiert als Gesinnung, die auf die Verwirklichung moralischer Werte ausgerichtet ist. Damit haben wir den Kreis der Definitionen wieder geschlossen.
Tugenden wollen dem menschlichen Miteinander eine Ordnung geben. Da gibt es christliche Tugenden (Glaube, Liebe, Hoffnung) und moralische (Aufrichtigkeit, Mitleid, Großzügigkeit, Mäßigung). Von Bedeutung sind jedoch auch die so genannten Bürgertugenden wie Mut, Fleiß, Höflichkeit, Anpassungsfähigkeit.
Aus Peter Hahne, Schluss mit lustig. Das Ende der Spaßgesellschaft.
144 Seiten, ISBN 3-5o1-o518o-8, Verlag Johannis, 77922